Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 695)

Es ist indessen möglich, daß einige dieser Schauungen tatsächlich nebenher noch ein Element von wesentlich größerer Konkretheit - wenn auch durchaus dem abnormen Schauen angehörig - in sich bergen, [2] ein Element, das sich als beherrschendes wiederfindet in einem andern zahlreich vertretenen Typ der mystischen Vision.

Man könnte ihn als Schauen der Gotterfülltheit der Welt oder des Enthaltenseins aller Dinge in Gott bezeichnen. Einige Beispiele mögen ihn in allgemeinen Umrissen andeuten.

[2] Vgl. o. S. 691 Porlicages Aussage üb. den 'allumfassenden, allgegenwärtigen Körper Gottes'


Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 696)

Von einer gewissen 'wunderbaren Klarheit' sagt S. Johann vom Kreuze, in ihr 'erfasse die Seele vollkommen, wie die geschaffenen Dinge, welchen Grad sie auch in der Stufenleiter der Wesen einnehmen, in [Gott] allein ihr Leben haben, ihre Kraft und ihre Dauer...

Die Seele sieht im vollen Lichte und so, daß sie nicht zweifeln kann, daß alle Dinge, sofern sie einfache Geschöpfe sind, vollkommen unterschieden von Gott sind; sie erkennt sie in ihm mit dem, was ihre Kraft und soz. die Wurzel ihres Wesens ausmacht.

Aber zu gleicher Zeit sieht sie, daß in seiner Wesenheit Gott alle diese Dinge ist, mit einer unendlich überragenden Überlegenheit; sie erkennt sie viel besser in ihrem göttlichen Prinzip, als in sich selbst.

Und dieses Erwachen Gottes in ihr ist die Quelle unaussprechlicher Freuden: denn sie läßt die Geschöpfe durch Gott und nicht mehr Gott durch die Geschöpfe erkennen.' [1]

Auch S. Teresa berichtet, und diese ausdrücklich aus eigener Erfahrung, daß ihr 'im Gebete in sehr kurzer Zeit gezeigt wurde, ohne daß ich irgendeine Gestalt oder Form sah (obschon es mir auf das klarste vorgestellt wurde), wie man in Gott alle Dinge sehe und wie er sie sämtlich in sich begreife.

Ich weiß das nicht zu beschreiben, . . . es muß doch etwas sein, das gesehen wird, weil ich es mit einem Gleichnis erklären kann. . . Ich erlaube mir nämlich zu sagen, die Gottheit sei wie ein klarer Diamant, der weit größer ist als die ganze Welt; oder wie ein' Spiegel. . . [2] auf eine höchst erhabene, unaussprechliche Weise; und daß alles, was wir tun, in diesem Diamant gesehen wird, so daß derselbe alles in sich einschließt.' [3]

Offenbar Ähnliches schildert Angela von Foligno in folgenden Worten: 'Alsbald wurden die Augen meiner Seele aufgetan und ich sah eine Fülle Gottes, in weIcher ich die ganze Welt erfaßte, diesseits der See und jenseits, die Seen und die Tiefen, in denen allen ich nichts als die göttliche Macht sah, in einer gänzlich unbeschreiblichen Weise;

und meine Seele, von Staunen erfüllt, rief aus und sprach: Diese Welt ist Gottes voll. Und ich erfaßte die ganze Welt, fast als wäre sie ein kleines Ding. Und ich 'sah die Macht Gottes alles überragen und alles füllen, und er sprach zu mir: Ich habe dir etwas von meiner Kraft gezeigt;"

Es ist natürlich unmöglich, selbst bei liebevollster Nachempfindung jedes Wortes dieser Äußerungen, eine bestimmte Anschauung von ihrem Sinne zu bilden, und zwar gerade unter der Voraussetzung. daß sie über alle bildliche Rede hinaus auch metaphysische Bedeutsamkeit besitzen.

Die weitestgehende Auslegung würde hinter ihnen ein unmittelbares Erfahren dessen wittern, was der Metaphysiker nur als begriffliche Forderung kennt; ein 'Schauen' dessen, was die Welt 'im Innersten zusammenhält': eben jener Bezogenheit des räumlich und zeitlich Ausgebreiteten auf eine transzendente Einheit, der wir immer wieder als einer Grundforderung des mystischen Denkens begegnet sind und die ich als denkbare Deutung schon anderer ekstatIscher Erlebnisse empfohlen habe.

Der Anspruch auf solches Erleben und Erfassen ist ja erhoben worden, solange es reife Mystik gibt.

[1] S. Jean IV 625ff. (La vive flamme d'amour, str. IV, v. 1u. 2.)  
[2] Vgl. o. S. 691. Pordage: glasse.  
[3] S. Teresa I 410f. (c. 40); vgl. IV 182f. und Hildegard 76 (7. Vis.). 
[4] Thorold 136; vgl. 154. 159. Vgl. noch das Gesicht des Br. Giovanni della Vernia bei Mantegazza, Ekst. d. Menschen 300.


Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 697)

Die Upanischads zB. sind, wie man weiß, erfüllt von der Lehre, daß Vollkommenheit und Erlöstheit bei dem nur sei, der alle Wesen und Dinge im Selbst (im atman) und das Selbst (auch kosmisch brahman genannt) in allen Dingen und Wesen zu schauen wisse.

Der Sufi hatte ebenfalls einen besonderen Namen - marilet - für jene Stufe der Erkenntnis, auf der man nur Gott und in jedem Atom das All sieht. [1] - Vielleicht darf ich auch folgende Äußerungen des eigenartigen Mystikers Hiel (Heinrich Janson) an dieser Stelle der verständnisvollen Erwägung des Lesers empfehlen.

Er hatte seine Seele durch 'Gottes Gnade (den Christus Gottes) aus dem verteilten Tode aufgenommen und in sein einwesig vollkommenes Wesen gebracht' gefühlt. 'Und in diesem wesentlichen Leben... war mir sein wesentliches Anschauen gegenwärtig im Lichte des Lebens, . . . also daß [meine Seele] in Gott nichts sahe dann Geist und Wesen.

Welcher Geist und Wesen Himmel und Erden begriff und regierte. Und dargegen sahe sie auch, wie das menschliche Wesen, in seiner blinden irdischen Verteiltheit, von demselben Wesen Gottes [abgefallen] war: und nicht wußte, .. . daß ein wesentlicher Gott wäre, der Himmel und Erde durch sein Wesen regierte.' [2]

Der Standpunkt dieser Lehren ist anscheinend ein monistischer. Aber auch der Dualist könnte solche Erfahrungen zu deuten suchen: durch eine zeitweilige auflösende Erweiterung des Einzelbewußtseins bis zu einer übergreifenden psychischen Einheit, in welcher ein Wissen und Erkennen so großer Vielheit sich zur Einheit der Apperzeption zusammenfände, wie sie dem Menschen unfaßlich ist:

ein Zustand also, in welchem der Mystiker plötzlich einen Vorgeschmack scheinbarer Allwissenheit hätte, oder doch eine solche Masse des Einzelnen sehen, wissen oder ahnen würde, daß er wohl vermeinen könnte zu begreifen, wie die 'Welt' und 'alle' Wesen in Gott enthalten seien, d. h. im Bewußtsein Gottes,

das der Mystiker hier mit seinem eigenen, maßlos erweiterten verwechselt hätte. Stellt man sich solche größere Einheit seelischen Lebens als Bildnerin und insofern Schöpferin 'objektiver', 'materieller' Welt vor - wie ein dualistischer Vitalismus in irgendwelcher Weise wohl müßte -, so würde dieses 'Enthalten-sein' noch einen tieferen Sinn empfangen. -

Dies wäre das eine Extrem einer metaphysischen Deutung der angeführten Berichte. Aber wie ich schon sagte, lassen diese seltsamen Schauungen vielleicht eine wesentlich bescheidenere, wenn auch immer noch übernormale Auslegung zu, die sich freilich, je tiefer man sie verfolgt, desto weniger von der eben angedeuteten unterscheiden würde.

Es fallen nämlich gewisse Ausdrücke auf, nach denen der Mystiker hier tatsächlich irgend etwas sinnlich-konkret gesehen haben will. Von Klarheit und Licht zumal ist viel die Rede: in diesem 'vollen Lichte' erscheinen die Dinge 'vollkommen unterschieden von Gott'. Ist etwa dieses Licht die 'Wurzel ihres Wesens', von der S. Johann v. Kreuze spricht?

Auch die Heilige von Avila meint, es 'müsse doch etwas sein, das gesehen wird', und sie

[1] Ferld ed-dîn Attar (nach Ethé, aaO.); vgl. auch Probst-Biraben in RPh 1906 II 494;
[2]  Arnold III 26.


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Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 698)

wendet das Gleichnis an: die Gottheit erscheine ihr dabei 'wie ein klarer Diamant, größer als die ganze Welt, oder wie ein Spiegel'. Vielleicht - ich rede notgedrungen in lauter Möglichkeiten - gibt uns eine Äthervision des Dr. W. . .[1] noch deutlicher den Wink, den ich hier zu erraten glaube.

In einem Zustande, worin das Subjekt bei völliger Empfindungslosigkeit 'sich bereits verloren' hatte, sagte es folgendes aus: 'Die Materie ist in Dunst aufgelöst. Ich sehe die Urnatur. Es ist ein Dunst, weiß wie Milch; es ist ein Licht, das noch weißer ist. ..

Um alles dies zu sehen und zu beurteilen, muß man von der Materie entbunden sein. .. Ich weiß, was ich wissen wollte. Schreiben Sie es nieder: Es ist der Geist, der die Materie trägt; er ist der Mittelpunkt.

Die Anziehungskraft, die Magie der Anziehungskraft, die Seele - ist Gott in der Vervollkommnungsfähigkeit der Materie, die ich in einem Punkte zusammenfließen sehe, der Alles ist. Obschon nur ein Punkt, ist doch Gott die Achse; alles dreht sich um ihn, alles strebt danach hin. Es ist eine Kraft, ein Gesetz. ..

Gott, von welchem alles ausgegangen, ist ein weißes, reines, einheitliches Licht; die Strahlen, welche bis zu uns dringen, sind nur im Verhältnis der Entfernung unseres Erdballs von diesem göttlichen Punkte in Strahlen geteilt.'

Das einzig Faßliche in diesen typisch chaotischen Worten ist wieder die Bezeichnung Gottes als Licht, und dieses Licht, wenn es alle Dinge in ihm enthalten zeigen, wenn die Welt dieses Gottes voll sein sollte, müßte die hellsehend geschauten Dinge in Nähe und Ferne durchdringen, sich wie ein Lichtnebel oder 'strahlendes Element' auch durch ihr Inneres ausbreiten.

Wir sind schon bei Sensitiven und Hellsehern, deren Blick die Dinge durchdrang, auf Aussagen darüber gestoßen, daß sie die ganze Körperlichkeit von solchem Lichte gebadet sähen, und Manche vertreten die Ansicht, daß es eben eine feinere 'strahlende' Materie sei, was ihnen dieses Innere sichtbar mache; etwas von der Art dessen, was Andern als 'odische' Ausströmungen des lebenden Körpers erscheint.

Ich habe Beispiele hiervon gelegentlich der theoretischen Erwägung des Nahhellsehens gegeben. [2] Aber das Licht, das wir dort in verstärktem Maße aus dem Einzelkörper hervorstrahlend fanden, dürfte in geringeren Graden der Wahrnehmbarkeit den Raum erfüllen und die Gesamtheit der Dinge umhüllen und durchdringen.

Wie nun die Psyche des Hellsehers das Einzelne, so 'sähe' die 'größere' Psyche weit umfassender die Welt in jenem Lichte gebadet und 'enthalten'; wobei natürlich die Frage gar nicht erst zu stellen wäre, wie denn dies Sehen ohne lichtbrechendes Organ und 'Licht-erzeugenden' spezifischen Nerv zustande komme;

denn eben dies unmittelbare Vertreten sein der Welt in einem umfassenden Bewußtsein war ja die Grundannahrne, zu der die Tatsachen des Hellwissens uns führten. In der Weltseele ruht, nach dieser Annahme, die Gesamtheit des Objektiven - ihr Grundelement wie alles einzelne Gestaltete, das ganze tosende und flammende,

[1] Cahagnet, Heil. 145ff.
[2] S. o. S. 408ff.


Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 699)

unserem Auge verhüllte Kräftespiel des Kleinsten und des Größten - als Wahrgenommenes und Gewußtes; wie das Einzelich begrenzt hellsehend wird, sofern es dem höheren Ich ein Einzelwissen entnimmt, welches ihm die materielle Zwischenschaltung seiner Sinnesorgane nicht vermitteln kann,

so hätte, wer das 'Enthaltensein der Dinge in Gott' wahrnimmt, durch eine gründlichere Verlegung seiner Bewußtseinsschwelle an dem allgemeineren und umfassenderen Weltwahrnehmen des höheren Bewußtseins Anteil gewonnen, sofern dieses ein alldurchdringendes 'leuchtendes' Grundelement der Dinge wahrnimmt.

Es wäre nur natürlich, wenn diesem massenhaft erweiterten Objekt gegenüber das erstaunte Ich das Bewußtsein der gewohnten persönlichen Synthese verlöre und damit gewissermaßen sich selbst zu verlieren, gleichsam die Dinge selbst zu werden glaubte, die plötzlich so massenhaft ihm zu dringen.

Etwas derartiges scheint zuweilen schon bei umgrenztem Hellsehen selbst auf kurze "Entfernung der Fall zu sein, vielleicht infolge Verlustes des festen Bodens der Selbstlokalisierung des 'ganz Anschauung' gewordenen Subjektes.

'Ich fand mich in alles verwandelt, was ich ansah', sagt Cahagnet im Rückblick auf ein ähnliches Erlebnis, wie das des Dr. W... 'Ich betrachtete ein Bündel Holz und sah in mir alle einzelnen Stücke, aus denen es bestand; ich sah äußerlich ihre Rinden und innerlich ihre Adern und Säfte, .. :

ich drang in die Gegenstände ganz ein, die nicht materiell in meinem Zimmer vorhanden waren. Ich besaß das Bewußtsein meiner totalen Individualität in den engsten Poren dieser Gegenstände. Sobald meine Beobachtung der Einzelheiten aufhörte, fand ich, daß ich ganz der Gegenstand war, den ich betrachtete. ..

Er war für mich das, was mein materieller Körper ist: ich war er und er war ich.' [1]

Weit stärker ist dieser Klang des Ichverlustes an die Dinge natürlich bei noch größerer Erweiterung des hellseherischen Umkreises und höherem Aufstieg in das auflösende Überich. Das folgende Beispiel läßt dabei deutlich das Motiv jenes 'fließenden Lichtes der Gottheit' [2] anklingen, das die Welt durchspült und sichtbar macht und so allanwesend ist, wie das Allbewußtsein selbst.

In einem Zustande teilweiser Demesmerisierung, worin die Augäpfel emporgerollt und somit blind waren, gab Dr. Haddocks mehrfach angeführte Somnambule an, daß sie 'jeden Gegenstand in einem höchst strahlenden Lichte sehe, vollkommen verschieden von dem gewöhnlichen Licht, sei es Sonnen- oder künstliches Licht.

Dabei sehe sie aber alle umgebenden Gegenstände auf einmal, gleichsam verbunden und eins geworden [3] durch dieses fließende Licht, und doch verblieb ein Bewußtsein ihrer gesonderten Identität. Im allgemeinen erschienen dabei die Gegenstände sehr vergrößert und strahlend.' [4]

Eine noch merkwürdigere Schilderung dieser Art entstammt der Feder Edward Carpenters,

[1] aaO. III.
[
2] Bekanntlich der Titel einer Schrift Mechthilds v. Magdeburg (hrsg v. P. Gall Morel, Regensb. 1869). 
[3] at once, as if united by...  
[4] Haddock 81f.


Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 700)

eines neueren englischen Mystikers, der nach ehrenvollster Universitätslaufbahn im Alter von 37 Jahren freiwillig Arbeiter wurde. [1] Über eigene Erfahrungen von der Art, die uns hier beschäftigt, änßert er sich wie folgt:

'Sehen bedeutet immer das Bewußtwerden von Licht; so besteht hier [bei kosmischem Bewußtsein] das Bewußtsein eines inneren Lichtes, natürlich außer Zusammenhang mit dem sterblichen Auge, das aber dem Auge des Geistes den Eindruck verschafft, daß es sieht, und [zwar] vermittels des Mediums, welches soz. die inneren Oberflächen aller Dinge und Menschen bespült - wie kann ich es ausdrücken?

Und doch ist dies [er Ausdruck] höchst mangelhaft, denn in jenem Bewußtsein weiß man sich selbst als jene Dinge und Menschen, die man wahrnimmt [2] (und das ganze Weltall), - ein Bewußtsein, in welchem Gesicht und Getast und Gehör alle in einer Identität verschmolzen sind.

Auch kann dies nicht verstanden werden, ohne daß man sich darüber klar wird, daß dieses Vermögen tief und innig in dem Jenseits der moralischen und emotionellen Naturanlage wurzelt, und jenseits der Denkregion des Gehirns. .. Wenn ich gesagt habe 'Ich, Natur', so geschah es, weil ich, zur Zeit wenigstens, empfand:

'Ich, Natur'; wenn ich gesagt habe: 'Ich bin eins mit dem niedersten [Wesen]', so war es, weil ich das, was ich empfand, nicht direkter ausdrücken konnte, als in diesen Worten. ..

Mir erscheint es mehr und mehr einleuchtend, daß das Wort Ich eine fast unendliche Ausdehnung der Anwendbarkeit hat. Bisweilen sind wir uns fast einer Verschmelzung unserer und einer fremden Individualität bewußt...

Sind wir wirklich gesonderte Individuen, oder ist Individualität eine Illusion, oder aber ist nur ein Teil des Ich und der Seele individuell, und nicht das ganze ?'  [3]

Von hier zu einer theologisch-religiösen Deutung und Wertung ähnlicher Erfahrungen ist augenscheinlich nur ein Schritt, den manche Seher auch außerhalb der Kirche unbedenklich tun.

'Ich kann mir jetzt, sagte eine der Somnambulen Kerners, Gott als Schöpfer, aber nicht sichtbar denken. Ich sehe Alles, ehe es zum Sichtbaren und Handgreiflichen wurde, ganz natürlich, aber ich kann es nicht aussprechen. ..

Ich könnte, hätte ich Worte, die Schöpfung beschreiben. Ich lese es als Natursprache. [Diese] aber vernehme ich nicht als Worte, sondern als Wille. Sie läßt sich mit unseren Worten nicht erschöpfen und übersetzen.' [4] -

Und Helmont meinte, in dem Zustande der Nachinnenwendung 'unterscheide die Seele alle Gegenstände, auf die sie ihre Aufmerksamkeit richtet; sie kann sich mit ihnen vereinigen, ihre Beschaffenheit durchdringen und selbst zu Gott gelangen und in ihm die wichtigsten Wahrheiten erfahren'. [5]

Ganz ähnlich bekundete Boehme, nachdem er in seinem 'Eifer so hart wider Gott und alle Höllenpforten angestürmt' und schließlich 'bis in die innerste Geburt der Gottheit durchgebrochen' und gleichsam von den Toten auferstanden war:

'In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen und an allen Kreaturen, an Kraut und Gras Gott erkannt, wer, wie er, und was sein Wille sei. [6]

[1] Geb. 1844, zeitweilig Fellow von Trinity Hall, Cambridge, Vi. u. a. von Civilization, its cause and cure; in Deutschland bekannt durch 'Wenn die Menschen reif zur Liebe werden'.
[2] The sense is a sense that one is those... things and persons...
[3] Aus The Labour Prophet, Mai 1894, bei Bucke 204.
[4] Kerner, Gesch. 257f.
[5] bei Steinbeck 250f.
[6] Aurora c. 19 (Werke, hrsg. v. Schiebler, II 212f.).


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Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 701)

Oder man lese folgendes Bekenntnis einer Namenlosen nach einer Unterredung über Whitmans Dichtungen: 'Ich verließ meinen Freund und schritt langsam heimwärts, mich an der ruhigen Schönheit des Abends weidend, als ich mir einer unsagbaren Stille bewußt ward [1] und gleichzeitig alle Dinge um mich her von einem weichen Licht umflossen schienen, heller und ätherischer, als ich je gesehen.

Dann flüsterte eine Stimme in meiner Seele: Gott ist Alles. Er ist nicht fern im Himmel; er ist hier. Dies Gras unter deinen Füßen ist Er; diese reiche Ernte, dieser blaue Himmel, diese Rosen in deiner Hand - du selbst, ihr alle seid Eins mit Ihm. Alles ist gut in Ewigkeit, denn Gott ist überall und zu aller Zeit...' [2]

Ja es ist möglich, daß in manchen der weiter oben angeführten Schauungen von ausgesprochen theologischer Deutung sich ein den letzten Fällen vergleichbares Element verborgen habe.

So knüpft Pordages Bericht augenscheinlich an Erfahrungen des allgemeinen Enthaltenseins-in-Gott an, wie ich sie soeben zu deuten versuchte. Der 'helle, durchsichtige Nebel', der die Tiefe des Kosmos erfüllen und durch alle Wesen ausgegossen sein soll, von dem alle Wesen ausgehen und in dem sie ihr Dasein haben, läßt sich am Ende mit der 'Gotterfülltheit der Welt' nach Angela von Foligno, der 'Kraft und Wurzel des Wesens aller Dinge' anderer Ekstatiker vergleichen.

Selbst das Bild, das Pordage gebraucht - dieser Körper Gottes sei der Weisheit kristallischer Spiegel, worin alle Dinge den Augen des Geistes sich darstellen -, stimmt mit dem der hl. Teresa, dem Bilde vom 'Diamanten' und dem 'Spiegel' über ein.

So fließen dem Ekstatiker umfassendstes Hellsehen und Gottschauen zuletzt beinahe in eins zusammen, und wir gewinnen von der induktiven Metapsychik her allmählich einen Zugang zum Herzen der religiösen Mystik.


Es ist nun offenbar zu erwarten, daß die Erweiterung des Bewußtseins zuweilen zu dem Anspruch des Sehers führen werde, nicht nur Dinge überhaupt oder ihr Verhältnis zu irgendwelcher Einheit der Welt geschaut, sondern dabei auch genauere Einsichten in ihr Wesen und ihren Bau gewonnen zu haben.

Ich übergehe als zweideutig oder nicht recht faßlich gewisse Ansprüche dieser Art bezüglich der Welt des Einzelnen und Nahen, wie etwa die Behauptung mancher Mystiker, in gewissen Zuständen über Bau, Wesen und Nutzen von Mineralien und Pflanzen ein 'eingegossenes' Wissen erlangt zu haben. [3]

Wo dies bestimmtere Formen annimmt, da geht es offenbar 'in das hellsehende Durchschauen der nächsten Umgebung über, wie wir es früher an profanen Beispielen reichlich kennenlernten.

So schreibt die Bourignon, sie 'sehe die Erde als einen Kristall, und durch ihre Oberfläche erblicke ich was in ihr ist. Die Pflanzen, die Steine, die Metalle und

[1] Dies deutet einen ekstaseartigen Zustand an.
[2]) C. Y. E., bei Bucke 297f.
[
3] S. Hildegard (Scivias), J. Bochme, G. Fox, der Zisterz. Candidus (Görres II I96f.) u. a. Vgl. Palmer 12; Reitzenstein 118; Weish. Salom. 7, 17ff., und bezügl. Somnamb. Haddock 154f. 158f.; Davis, Staff 219.


Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 702)

alles ist, wie wenn es im Wasser sichtbar wäre. . . Mir sieht das Feuer wie reines Gold und durchsichtig aus. Die Luft sehe ich voll glänzender Lichter, die ich für Körper der verstorbenen Seligen halte, die ich in meinem verderbten Zustande noch nicht erkennen kann.

Aber besonders sehe ich durch alle Menschenleiber hindurch, sehe ihre Adern, ihre Nerven, ihre Knochen, ihre Eingeweide und ihr In- und Auswendiges hell, glänzend und künstlich gebaut.' [1]

Dagegen will ich kurz auf ähnliche Ansprüche von größerer Spannweite hinweisen, vor allem weil sie in ihrer kosmischen Umfänglichkeit sich der 'religiösen' Bedeutsamkeit der meisten mystischen Einsichten nähern. Von dieser Art sind etwa die Ansprüche in den Selbstbekenntnissen der hl. Hildegard, wenn sie an Guibert von Gemblours schreibt:

'Das, was ich sehe, vermag ich nicht vollkommen zu erkennen, solange ich im Körperlichen wirke und die Seele nicht sieht... Meine Seele steigt bei diesen Visionen, je nachdem es Gottes Wille ist, in die Höhe des Firmamentes und durchdringt die verschiedenen Klimate und erweitert sich nach mancherlei Völkern hin, selbst wenn dieselben in fernen Gegenden und Orten sind.

Weil ich das nun auf diese Weise in meiner Seele sehe, so habe ich auch eine Anschauung vom Wechsel der Wolken und anderer natürlicher Dinge. Das nehme ich aber weder mit dem äußerlichen Auge noch mit dem Ohre wahr, auch nicht mit dem Denken meines Verstandes, noch mittels meiner vereinigten fünf Sinne, sondern einzig und allein in meiner Seele bei offenstehenden äußeren Augen, auch ohne in Ekstase zu geraten, denn ich schaue es wachend Tag und Nacht.' [2]

Von dem seI. Hermann Joseph lesen wir, daß er in einer Nacht 'den Aufstieg des Mondes und der Sterne betrachtete und sich erfreute an der Klarheit des Himmelsgewölbes.

Indem sein ganzes Innere diesem Anblick zugeneigt war und von dem Liebreiz der Schöpfung ergriffen, mit dem innigen Wunsche, sie besser zu erkennen', wandte er sich an Gott mit der Bitte um Einsicht, die ihn zu einer völligeren Kenntnis Gottes selbst führen könnte.

Über dieser Bitte 'ergriff ihn die Verzückung, und er . .. ward plötzlich teilhaftig einer neuen Wissenschaft. Alsbald erweiterte Gott den Umfang seines Gesichts; er zeigte ihm das Firmament und seine Sterne, er ließ ihn ihre Art und Größe verstehen, oder, daß ich mich klarer ausdrücke, ihre Schönheit und Unermeßlichkeit.

Da er wieder zu sich gekommen, vermochte er uns nichts zu erklären; nur sagte er, daß diese Erkenntnis der Geschöpfe so vollkommen und so berauschend gewesen wäre, daß keine Sprache sie ausdrücken könnte.' [3]

Eine ähnliche Erfahrung beschreibt einer, der zu sterben geglaubt hatte, M. Constant Savy: 'Plötzlich, offenbar den Übergang von diesem zum andern Leben bezeichnend, kam eine dicke Finsternis, und ihr folgte ein strahlendes Licht. ..

[Er scheint dann Verstorbene wahrgenommen zu haben und fährt fort:] Aber welch ein Unterschied zwischen dem Glück, das ich jetzt empfand, und den Gefühlen der Welt, die ich verließ... Es war durchdringend, ohne stürmisch zu sein, . . . und gewährte doch die Hoffnung auf ein noch größeres Glück. Dich sah ich nicht, mein Gott! Aber ich liebte dich stärker, als ich in dieser Welt getan. Ich verstand

[1] Corrodi III 445f.
[2] Hildegard 49.
[3] Hermann v. Steinfeld, Prämonstratenser des 13. Jahrh. - A. S. Boll. 7. April, Nr. 32 (Poulain 272).


Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 703)

dich besser, ... und die Spuren deines Wesens in allen Dingen erschienen mir deutlicher und heller. .. Ich sah mit größerer Deutlichkeit einen Teil der Wunder Deiner Schöpfung.

Die Eingeweide der Erde hatten keine Geheimnisse für mich, ich sah ihre Tiefen, ich sah die Insekten und andern Geschöpfe, die in ihnen wohnen, . . . die geheimen Wege und Kanäle der Erde. Ich zählte ihr Alter in ihrem Busen, wie einer das Alter eines Baumes im Herzen seines Stammes zählt;

ich sah alle Wasserläufe, die das Meer speisen; ich sah den Rückstrom dieser Wässer, und es war wie die Bewegung des Blutes im Körper eines Menschen; . . . ich sah die Tiefen der Vulkane, ich verstand die Bewegungen der Erde und ihre Beziehungen zu den Sternen, .'.

ich sah alle Länder mit ihren verschiedenen Bewohnern und Sitten, . . . und eine Stimme sprach zu mir: Wie du selbst, so sind alle diese Menschen das Ebenbild des Schöpfers und wandern zu Gott... ' [1]

Ich teile ferner einiges aus den durchweg lehrreichen Selbstbekenntnissen einer von Dr. Buckes Korrespondentinnen mit, C. M. C., die nach langem Sehnen nach 'erweitertem leben und tieferer Liebe' eines Tages ihre große Stunde u. a. in folgender Weise erlebte:

'Als ich früh zur Ruhe ging, um allein zu sein, schwanden mir die äußeren Dinge bald dahin. Ich sah und begriff den erhabenen Sinn der Dinge, die Gründe für alles, was zuvor verborgen und dunkel gewesen war, . . . daß das Leben eine geistige Entwicklung sei, . .. eine Phase im Fortschritt der Seele. ..

Und immer noch nahm der Glanz zu. Dann plötzlich senkte sich etwas wie eine schnell herankommende Flutwelle des Glanzes und der Herrlichkeit auf mich herab. .. Ich fühlte, daß ich mich verlor, . . . war aber außerstande, mich zu halten. Es kamen Augenblicke der ekstatischen Hingerissenheit, ... die vollkommene Weisheit, Wahrheit, Liebe und Reinheit!

Und mit der Ekstase kam die. .. Erleuchtung. Ich sah mit durchdringender innerer Schau die Atome und Molekeln, aus denen die Welt anscheinend zusammengesetzt ist - ich weiß nicht, ob materiell oder geistig -, wie sie sich umordnen, indem der Kosmos in seinem ununterbrochenen, ewigen Leben von Zustand zu Zustand fortschreitet. ..

Kein Glied [in der Kette] ausgelassen, alles an seinem Ort und zu seiner Zeit. Welten, Weltsysteme, alle verschmolzen in einem harmonischen Ganzen. Allumfassendes Leben gleichbedeutend mit allumfassender Liebe! . ..'

Bei einer späteren Gelegenheit, während sie tief ergriffen die Blumen im Garten betrachtete, hatte sie plötzlich das Gefühl, daß 'tief in meinem Innern ein Schleier, ein Vorhang plötzlich sich zerteilte und ich des Lebens und Bewußtseins der Blumen mir bewußt wurde.

Sie waren in Erregung, und ich wußte, daß sie elektrische Funken ausschickten... Das Gefühl, das mich mit diesem Gesicht befiel, war unbeschreiblich; ich wandte mich und ging ins Haus, von unsagbarer heiliger Scheu erfüllt.' [2]

Immerhin lernt der Mystiker, wenn er so angeblich die Fernen der Erde und des Himmels und das Innere der Wesen durchdringt, durch seine Intuition nur Dinge von jener Art, wie sie die mühsamere Erfahrungsarbeit des Sinnenmenschen eben auch erlangen und äußern könnte, wenn

[1] Bei R. Pike, Lifes borderland... 98f. Auf die großartigen kosmischen Gesichte A. J. Davis' und ihre kritische Erörterung kann hier aus Gründen des Raumes nicht eingegangen werden.
[2] Bucke 267ff.


Kap LXVII. Metapsychologie des mystischen Erkennens:  3. Kosmische Schauungen.            (S. 704)

jenem auch tatsächlich nie gelingt (sei es infolge seines Mangels an 'Bildung', sei es wegen der überwältigenden Massenhaftigkeit des plötzlich Geschauten), seine Gesichte in Worte und Begriffe zu fassen. Das ist es, was der ehrliche Mystiker immer wieder, wenn auch mit Schmerz sich eingesteht.

Als der Barnabit Franz Xaver Bianchi dem Arzt und Philosophen Pietro Magno, der ihm seine Wissenschaften anpries, von seinen eigenen jugendlichen Bemühungen in diesen berichtete, konnte er das Bekenntnis einer umfassenden, aber ergebnislos verlaufenen Schauung hinzufügen.

'Auch ich, sagte er, habe in meiner Jugend diese Kenntnisse mit Eifer erstrebt, und habe sogar Gott gebeten, mir bei ihrer Erlangung beizustehen, damit ich meinem Orden um so nützlicher würde.

Nach dem Gebete [um Gottes Beistand in meinen Studien] fand ich mich einmal von einem hellen Licht umflutet; es schien mir, daß ein Schleier sich vor den Augen des Geistes hob, und die Wahrheiten der menschlichen Wissenschaften, selbst die, welche ich nicht erlernt hatte, wurden mir offenbar durch eine eingegossene Erkenntnis...

Dieser Zustand des Schauens dauerte etwa 24 Stunden; dann, als wäre der Schleier wieder gefallen, fand ich mich unwissend wie zuvor. Gleichzeitig sprach eine innere Stimme zu mir: Da siehe das menschliche Wissen; wozu dient es? Ich bin es und meine Liebe, was man ergründen sollte.' [1]

Erlebnisse dieser Art mögen es gewesen sein, die den persischen Mystiker zur Behauptung trieben, 'es spiegle sich im menschlichen Herzen das All wieder; es erscheine alles darin, was ist, so wie es ist'; [2] oder die in den begeisterten Versen des Rumî wiederklingen:

    Ich bin der Wesen K e t t e , - ich bin der Welten Ring,
    Der Schöpfung Stufenleiter, das Steigen und der Fall;
    Ich bin, was ist und nicht ist, - ich bin - o, der du's weißt,
    Dschellaleddin, 0 sag es: - ich bin die Seel' im All. [3]

Die Einschätzung solcher Aussagen darf dem naturalistischen Psychologen von seinem Standpunkt aus leicht erscheinen. Indessen muß sie natürlich völlig von der Einordnung dieser Erlebnisse in allgemeinere Zusammenhänge abhängen.

Für uns sind diese Zusammenhänge längst gegeben. Wer die Tatsachen des Hellsehens in dem früher besprochenen Umfange zugesteht und ihrer angegebenen Deutung zustimmt -

nämlich der Voraussetzung einer Erhebung des Einzelgeistes über die Schranken seiner Sinnlichkeit, oder gar über ihre Formen, durch Teilnahme an der Erkenntnis eines überindividuellen Geistes -, der kann nicht nur zugestehen, sondern muß eigentlich fordern, daß auch hellseherische Einblicke in größere Weltbezirke und Weltzusammenhänge gelegentlich vorkommen, wennschon seltener als jene begrenzten Erkenntnisakte, die soviel mehr den Interessen und Fähigkeiten des Einzelnen entsprechen mögen.

[1] Aus dem Leben des F.-X. B. von Baravelli c. 4 bei Poulain 273.
[2] Hallâg, bei Kremer 72.
[3]) Bei Ethé, Morgenländ. Stud. 114. Vgl. die bekannte Stelle in Platons Sympos. 210 E, von Rohde (II 284 Anm. 1) als 'ein visionäres, plötzlich und nicht in diskursivem Denken erlangtes Erfassen des Weltzusammenhangs' bestimmt.

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