Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap  LXVI.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  2. unio mystlca.             (S. 689)

Wenden wir uns nunmehr dem Versuch einer Deutung auch der übrigen mystischen Erkenntnisakte zu und halten dabei im allgemeinen eine von abstrakteren zu konkreteren Behauptungen absteigende Bewegung ein, so können wir zunächst auf jene Schauungen eingehen, die den Ekstatischen angeblich zu einer unmittelbaren Erkenntnis Gottes erhoben.

Dieser Anspruch knüpfte sich, wie erinnerlich, nicht zuletzt an jene anscheinend ganz einheitlichen Zustände, die den Mystiker in den letzten Abgrund der Wesen, die göttliche Nacht, das Urlicht, die stille Wüste der Gottheit eintauchen sollten. [1]

Der Psychologe faßt sie auf als reine Gefühlserlebnisse ohne angebbaren halluzinatorischen Inhalt, oder doch höchstens von einer dumpfen Lichtempfindung getragen.

Ich bin auch jetzt sehr weit davon entfernt, dieser Auffassung mit Bestimmtheit zu widersprechen. Kann uns doch die Deutung des Mystikers selbst bedenklich scheinen gerade wegen der inhaltlichen Armut dieser Zustände, gegen- über der inhaltlichen Höchstfülle, die das 'göttliche' Bewußtsein auszeichnen müßte.

Daß dieses ex hypothesi die letzte Einheit aller Vielheit von Weltinhalten begründet, darf -natürlich nicht dazu verführen, in ihm Einheitlichkeit oder Einzelheit des materialen Inhalts zu suchen.

Und doch bestehen vielleicht Möglichkeiten, den fraglichen Erfahrungen die inzwischen erworbenen Einsichten wenigstens hypothetisch zugutekommen zu lassen. Man könnte sie zB. deuten als Zustände der Entrückung oder beginnenden Exkursion - etwa gar der Bewußtseinsübertragung auf ein ekstatisches 'Vehikel' - ohne artikulierte Erkenntnis.

Sie entsprächen dann gleichsam dem Erwachen in einem neuen Leibe und Leben, aber soz. mit geschlossenen Augen; der 'Zönästhesie' einer Verinnerlichung, ohne Wahrnehmung oder Denken.

So etwa möchte ein Kind, das im Mutterleibe plötzlich zu erhöhtem Bewußtsein erwachte, die wohlige Empfindung der bergenden Wärme genießen, ohne noch die neue Welt zu ahnen, deren Bürger es bereits zu sein begonnen und für die es die Sinnesorgane schon besitzt, aber nicht benutzt.

Ich möchte zum Vergleich an die seligen Wonnen gewisser Somnambuler erinnern, die außer diesen Gefühlen auch nichts weiter erleben, als allenfalls 'Licht', [2] und doch in einem Zustand sich befinden, der nachweislich - wenn er nur erst die

[1] S. o. s. 334 f.
[2] Dr. Görwitz' Subjekt sagte beim Erwachen: 'wie ist es dunkel in der Stube', obgleich mehrere Kerzen brannten: du Prel, Stud. II 166.


Kap  LXVI.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  2. unio mystlca.             (S. 690)

'neuen Augen' aufschlägt - bedeutend erweiterter Wahrnehmung fähig ist. Die Inhaltsleere dieser Zustände wäre dann am Ende nicht so groß, als sie auch dem Mystiker zunächst erscheint.

Wie im formenleer erscheinenden Pflanzenkeim die Fülle der späteren Gestalten potentiell enthalten und somit verborgen ist, so verbirgt sich hinter dem Verstummen des Nichts-angeben-könnens vielleicht die 'dunkle' Ahnung eines Überreichtums neuen, aber eben darum noch gar nicht assimilierbaren Erkennens.

Dies könnte vielleicht das merkwürdige Bekenntnis der Seligen von Foligno andeuten: '[Zwar] sieht die Seele schlechthin nichts, das die Zunge berichten könnte oder [der Verstand] begreifen, und doch sieht sie zu gleicher Zeit schlechterdings alles, ... denn jenes Gut, das ich sehe, ist vollständig, und die anderen Dinge sind ein Teil.' [1]

Dies erinnert ohne weiteres an gewisse Begriffe, die gelegentlich der theoretischen Erwägung der Vorschau erstmalig zur Sprache kamen.

Jene Tatsachen begründen möglicherweise die Forderung, das Herz der Welt als ein der Zeit enthobenes Sein zu denken, welches alles, was im Werden der anschaulichen Welt sich auseinanderlegt, gleichsam implicite enthält; überdies in einer Art, die wir nur als 'quasi-psychisch' bezeichnen dürfen; von der unser räumlich-zeitliches, in Subjekt und Objekt auseinanderfallendes Bewußtsein sich aber keinerlei Anschauung bilden kann.

(So erhebt sich der meditierende Buddhist, nachdem er die 'Sphäre der Unendlichkeit des Raumäthers' durchschritten, zur 'Sphäre der Unendlichkeit des geistigen Bewußtseins', demnächst zur 'Sphäre des Nichts', danach aber zur 'Sphäre jenseits von Bewußt und Nichtbewußt'. [2]

Nun suche man, soweit möglich, den Begriff zu fassen, daß ein begrenztes Ich, ein Ich der Zeit- und Raumanschauung, unter Preisgabe seiner persönlichen 'Inhalte', aber Beibehaltung seiner Bewußtseinsform von Ich- haftigkeit, [3] sich in jenen Bereich eines Welt-Ich über aller menschlichen Anschauung erhebe (oder versenke), welcher die Fülle aller Anschaulichkeit 'implicite' enthält (ähnlich wie ein Mittelpunkt von 'Spannungen' die Gesamtheit auseinanderfahrender Wirkungen) -

man wird dann immerhin die Möglichkeit ahnen, daß sich Erfahrungen ergeben, wie sie als unio mystica so oft beschrieben worden sind: als das Untertauchen in eine Nacht, die doch das höchste Licht sei; in ein Alles-Begreifen, über das doch menschlichem Denken nichts mitgeteilt werden könne.


Nächstdem erwähne ich gewisse Schauungen, die ebenfalls die äußersten metaphysischen Grenzen des Seins zu streifen vorgeben, aber doch die eben erwähnten an Faßlichkeit des Inhalts beträchtlich übertreffen. Ich

[1] Thorold I 48f.  
[2] So übers. die techn. Ausdrücke Beckh II 48f. Vgl. 54 üb. arupadhuta (Sphäre der 'Formlosigkeit'), Auf beide Endtermini folgt erst die Sphäre der höchsten  Transzendenz: nirodhadhatu.
[3] Dieser Ausdruck wird in Kap. LXIX an Deutlichkeit gewinnen.


Kap  LXVI.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  2. unio mystlca.             (S. 691)

habe sie im ersten Teil des Buches nicht angeführt, weil ihre Beleuchtung durch die inzwischen gewonnenen Ansichten mir doch beinahe fruchtbarer erscheint, als ihre eilfertige naturalistische Fortdeutung.

Sie beschäftigen sich mit den letzten Tiefen der Gottheit, der Dreieinigkeit, ihrem Verhältnis zur Schöpfung, den höchsten Wesen und Daseinsebenen, und ähnlichen Dingen. Ihre Besprechung hier wird aber nicht verfehlen, auf manche Gebilde auch jener früheren Reihe ein neues Licht zu werfen (um deren erneute Vergegenwärtigung ich hier den Leser bitten muß).

Dieser Art ist etwa das folgende Erlebnis Jakob Boehmes, dem sich nach ernstem Suchen (wie er sagt) nicht nach dem göttlichen Geheimnis, sondern nach gänzlicher Ergebung in Gottes Willen die Pforte öffnete, so daß er in einer Viertelstunde mehr sah, als viele Jahre auf hohen Schulen ihn hätten lehren können:

'Ich sah und erkannte das Wesen aller Wesen, den Grund und Ungrund; item die Geburt der hlg. Dreifaltigkeit, das Herkommen und den Urstand dieser Welt und aller Kreaturen durch die göttliche Weisheit.

Ich erkannte und sah in mir selber alle drei Welten, als 1. die Göttliche, Englische oder Paradiesische; 2. die finstere Welt, als den Urstand der Natur zum Feuer; 3. diese äußere sichtbare Welt, als ein Ge- schöpf und Ausgeburt oder als ein ausgesprochen Wesen aus den beiden inneren geistlichen Welten... ' [1]

In Manchem erinnern hieran die Schauungen des englischen Mystikers John Pordage, eines Freundes der Jane Leade und Mitbegründers der Philadelphischen Gesellschaft. Das Wesentliche seiner Angaben läßt sich etwa wie folgt zusammenfassen (wobei nach Möglichkeit seine eigenen Worte verwendet werden); bei allem Schwulst ist seine Darstellung im Grunde klar und äußerst systematisch, und verrät den Mann von Bildung, - Bildung seiner Zeit. [2]

Öffnet sich das göttliche Auge des Menschen, so erscheint der 'ausströmende Ozean der Gottheit' als 'ein heller, durchsichtiger Nebel oder Dunst, der die ganze Tiefe des kosmischen Abgrunds [3] erfüllt', ein erstaunliches Gesicht, das sich in 'toten Worten und Buchstaben' nicht ausdrücken läßt und das keine Vorstellung, Form oder Gleichnis völlig wiedergeben kann. [4]

(Gleichwohl sagt er gelegentlich, seine Form sei 'rund oder kugelförmig, denn das sei ,die vollkommenste aller Formen'.) Dies nun - 'die unermeßliche Tiefe des kosmischen Abgrunds der Ewigkeit ist Gottes allumfassender, unbegreiflicher, allgegenwärtiger Körper; die ewige Körperlichkeit der hlg. Dreieinigkeit, die alle Dinge umschließt...

Es ist in allen Wesen und durch alle Wesen ausgegossen; nichts kann es [von sich] ausschließen. .. Alle Dinge entspringen aus ihm... und haben ihr Dasein in ihm.' [5] Dieser Körper Gottes, sagt er an anderen Stellen, ist der Weisheit kristallischer Spiegel, worin alle Dinge wahrhaftig und intellektuell dem Auge des Geistes sich

[1] Brief an Caspar Lindner v. J. 1621.
[2] Unstreitig auf eigenen ekstat. Erfahrungen beruhend. Vgl. dazu die Zeugnisse der J. Leade in ihrer Vorrede zu seiner Theologia Mystica, or the Mystic Divinitie of the Aeternal Invisibles... by... J [ohn] P[ordage] M. D. (Lond. 1683) 5. 7. 77.
[3] Pordage: Abyssal globe.  
[4]) aaO. 41.  
[5] das. 49.


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Kap  LXVI.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  2. unio mystlca.             (S. 692)

darstellen. Niemand wisse, außer Gott selbst, was reine Gottheit sei (nämlich jene gleichförmige, allumfassende, alles durchdringende Kraft). Diese Kraft des Vaters ist es, was die stille Ewigkeit völlig erfüllt und als hellste Durchsichtigkeit und Klarheit erscheint.

'Stille Ewigkeit' aber ist die wahre Natur und der Zustand jenes metaphysischen Ortes, - ein 'majestätisches Schweigen und eine erhabene Stille' erfüllen den 'Empfangssaal der Gottheit'. [1]

Aber neben diesen halbwegs anschaulichen Kennzeichen schreibt unser Seher seiner Gottheit auch rein-seelische und moralische zu. 'Die göttliche Natur [sei] nichts anderes als Liebe, die in Gottes ewigem Herzen ihren Sitz hat und von ihm ausströmt. Gottes inwendige Form und Bildnis. .. ist nichts als seine wesentliche Heiligkeit.

Die göttliche Weisheit ist eine fließende, bewegende Kraft, eine bewegende Bewegung, die unmittelbar von Gottes ewigem Auge ausgeht, ein heller Strahl oder Blick, der aus dem Auge der Ewigkeit hervorbricht.' Anderseits ver- wahrt er sich gegen irgendwelche hierauf zu gründende Vermenschlichungen Gottes.

'Ich forschte in dem ursprünglichen Wesen Gottes: und fand, daß keine zum Verzeihen geneigte Gnade! noch rachsüchtige Gerechtigkeit, noch Zorn, noch Tod, noch Fluch, ... Leid oder Übel in dem einsamen abstrakten Wesen der Gottheit anzutreffen sei;' diese würden ihr nur zugeschrieben, sofern sie sich in die Eigenschaften der ewigen Natur eingeführt habe. [3]

Die Gesichte Pordages vermittelten ihm aber auch Anschauungen der höchsten Stufen der himmlischen Hierarchie. Er erwähnt zunächst die sieben Geister Gottes, von ihm ausgehende Kräfte, abgeleitete Ströme, die unmittelbar aus dem Körper des hlg. Geistes hervorgehen; Abwandlungen der alles bewirkenden Kraft des hlg. Geistes, unpersönlich und der obersten Einheit durchaus ähnlich.

Demnächst beschreibt er eine unzählbare Menge reiner, einfacher Geister, die ebenfalls unmittelbar von der obersten Einheit ausgehen, nicht (wie die Engel) aus den Formen der ewigen Natur geschaffen wurden.

Und es ward ihm 'ausdrücklich gesagt und ausdrücklich aufgetragen, sorgfältig zu beobachten', daß zwischen diesen Geistern und der Dreieinigkeit nur quantitative Unterschiede beständen, und daß jene aus dem Wesen und nach dem Ebenbilde des Geistes der Ewigkeit erzeugt wären.

'Diese Worte wurden meinem Geiste offenbart an dem allerheiligsten Ort.' Unter sich seien jene Geister alle gleich und auch von derselben Größe, Gestalt und Form.' Sie nähren sich von den durchdringenden Kräften des Liebesherzens. . . und baden immerzu in jenen Strömen unbekannter Wonnen, die von dem Herzen der Gottheit ausgehen, denn sie genießen ununterbrochen die visio beatitica.

Ihr Ort ist der Himmel der Himmel, der nicht mit dem Himmel der Engel und anderen Himmeln zusammenfällt; ihr Geschäft aber ist es, den Willen des Höchsten auszuführen, und ihr Verkehr untereinander geschieht auf dem Wege bloßer Gedanken.'

Halten wir einen Augenblick inne, ehe wir weitere Proben betrachten. - Ich weiß sehr wohl, wieviel geduldige Willigkeit dazu gehört, über derartige Expektorationen nicht einfach mit dem geringschätzigen Lächeln hinwegzulesen, das unser aufgeklärtes Denken für jeden abstrusen, chaotisch-ringenden Jargon bereit hat. Man muß in langer Beschäftigung

[1] das. 49. 54. 56.
[2] Dies wohl der Sinn des vermutlich nachlässig-fehlerhaften pardonable mercy.
[3] aaO. 43. 50. 66. 47f.
[4] das. 72. 74f. 84. 91.
[5] Das. 87. 92. 93. Vgl. des Gnostikers Valentin Schauung bei Hilgenfeld, Ketzergeschichte 304 (nach Weinel 177).


Kap  LXVI.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  2. unio mystlca.             (S. 693)

mit mystischen Schriften gründlich in dieser Leute 'Lande gegangen', um bereit zu sein, ihre Worte immer wieder auf möglichen Hintersinn zu belauschen; um auch nur zum Versuch geneigt zu sein, durch das mühvolle Gestammel und die wahrscheinliche darstellerische Verfälschung zu einem möglichen Kern von wirklich Geschautem sich hindurchzutasten.

Persönlich bin ich, im Zusammenhang aller metapsychischen Forschung, nicht abgeneigt, einen solchen Kern als denkbar anzunehmen: also eine gewisse Berührung der Seher mit einer Welt übergreifender, übermenschlicher Persönlichkeiten 'unterhalb' der letzten geistigen Synthese der Welt.

Was Boehme 'sah', läßt sich im wesentlichen als jene qualitative metaphysische Schichtenhaftigkeit der geistigen Welt bezeichnen, die wir als einen Grundbegriff der 'mystischen Weltanschauung' kennenlernten, der sich mit unseren eigenen früher entwickelten Anschauungen wohl vertragen möchte.

In sich selbst, sagt er, sah und erkannte er die göttliche, die finstere und die äußere sichtbare Welt, und dies erschien ihm als ein Einblick in die Abstammung und Schöpfung der Welt und ihre letzten Kräfte; als ein innerer Anblick der Welt, im Gegensatz zum äußeren. Etwas ähnliches u.a. behauptet aber auch Pordages Vision.

Dieser führt den Begriff einer metaphysischen Schichtenhaftigkeit der Welt und eines damit gegebenen Gefälles der schaffenden geistigen Kräfte unter dem Bilde einer Hierarchie von Geistern durch, über deren Personenhaftigkeit vielleicht ein gewisses Dunkel gebreitet bleibt, die man dagegen ohne Gewaltsamkeit auch als Verbildlichungen des in alles Einzelwirken sich teilenden Kräftelebens des geistigen Kosmos auffassen könnte, sofern ihnen ein bloß quantitativer Unterschied von dem göttlichen Geiste, als der Quelltiefe alles Lebens, zugeschrieben wird. [1]

'Abwandlungen der alles bewirkenden Kraft des hlg. Geistes' nennt sie Pordage; und solche Äußerungen sind immerhin gegen gewisse mehr vermenschlichende Angaben bei ihm zu wägen, die er über das gottschauende und -genießende Leben jener höchsten Geisteswesenheiten und ihren Gedankenverkehr untereinander macht.

Vielleicht kommen wir dem letzten Sinn des Sehers am nächsten, wenn wir an Lebensebenen mit eigentümlichem Kräftespiel denken, die aber auch durch typische, ihnen angemessene Einzelwesen charakterisiert werden können.

An der Ausgestaltung des Gesichts mag dabei das veranschaulichende Vorstellen des Sehers immer noch sehr bedeutend beteiligt sein, und der eigentlichen übersinnlichen Berührung, dem vorübergehenden Eintauchen seines Ich in jene Welt mag sich damit eine Deckschicht symbolischer Bilder übergelagert haben, nicht unähnlich den Vorgängen, die wir bereits am Zustandekommen der konkreten Jenseitsvision beteiligt vermuteten.

[1] Ich spreche immer von geistigen Kräften; denn von einer Wahrnehmung physikalischer Kräfte, als 'Ursachen der Bewegungsänderung' zu reden, wäre natürlich sinnlos.


Kap  LXVI.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  2. unio mystlca.             (S. 694)

Daß meist an einem Kern des Schauens sowohl die sinnliche Ausgestaltung, als auch die Darstellung des Erlebnisses durch den Seher sich vergreifen, dieser Gedanke wird natürlich insbesondere durch Selbstbekenntnisse von Ekstatikern nahegelegt, deren kirchliche Erziehung ihnen viel festere Regeln des Fürwahrhaltens an die Hand gab, als aller theosophische oder hermetische Schulbetrieb jemals tun könnte.

Ich will aus dem Bereich der katholischen Mystik ein Beispiel geben, das dem Stoffgebiete der eben besprochenen Gesichte zuzugehören scheint. Es ist enthalten in einem Berichte der uns schon bekannten Marie de l'Incarnation.

An einem Pfingstsonntag (das Jahr wird nicht genannt) während der Messe erhob sie zufällig die Augen zum Altar und 'nahm zuerst die kleinen Cherubim wahr, die an diesem angebracht waren. Dann wurden [mir die Augen] plötzlich geschlossen Cd. h: wohl: das sinnliche Wahrnehmen und Bewußtsein schwand ihr plötzlich] und mein Geist fand sich der allerheiligsten... Dreieinigkeit gegenüber. . .

Dieser Eindruck war ohne Formengestalt irgendwelcher Art, aber [doch] klarer und verständlicher, als das Licht selbst. Ich empfand zuerst, daß ich in der Wahrheit sei, darauf sah ich die Gemeinschaft der drei göttlichen Personen untereinander, die Geistigkeit des Vaters, die, [indem] sie sich selbst betrachtet, den Sohn erzeugt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Meine Seele sah sodann, daß die gegenseitige Liebe des Vaters und des Sohnes durch eine wechselseitige Liebesergießung den hlg. Geist erzeugt, aber ohne Vermischung irgendwelcher Art. Ich begriff gleichzeitig die göttlichen Wirklichkeiten, die in den Worten Spiration und Produktion, aktive und passive Spiration ausgedrückt werden.

Aber es gibt keine Worte, die mir gestatteten, das klar auszusprechen. Bei aller Unterschiedlichkeit der drei göttlichen Personen, die ich sah, nahm ich [doch auch] ihre Einheit der Essenz nach, sowie auch ihr innerliches und äußerliches Wirken wahr, und das in einem Augenblick, ohne jeden Zeitverfluß. -

Vermittels desselben Eindrucks erleuchtete die allerheiligste Dreieinigkeit meine Seele betreffs [ihres] äußeren Wirkens, und  zwar zuvörderst bezüglich der obersten Hierarchie der Engel, der Cherubim, der Seraphim, der Throne usw., wie sie ihnen ohne jede Vermittelung ihre heiligen Willensentschließungen zu erkennen gibt. Ich sah auch deutlich die erhabenen Beziehungen jeder der drei göttlichen Personen, . . zu jedem der englischen Chöre.

Ich sah den ewigen Vater in den Thronen wohnen, . .. ich sah das Wort sich den Cherubim mitteilen durch den Glanz seiner Lichter, [1] und ich begriff daher, daß es ganz Licht und ganz Wahrheit sei, in sich selbst vermöge der ewigen Zeugung, und nach außen, sofern es davon mitteilt.

Ich sah gleicherweise den hlg. Geist inmitten der Seraphim, die er mit seiner Liebesglut erfüllt. .. Diese höchste Hierarchie der Engel offenbarte dann die göttlichen Willensregungen den andern himmlischen Geistern, gemäß den Aufträgen, die sie dazu erhalten hatte. Meine Seele war wie verloren und vernichtet im Angesichte dieses gewaltigen Glanzes.' [2]

An diesem Bericht ist eine wesentliche Verwandtschaft mit John Pordages Schauung nicht zu verkennen, und was über diese gesagt wurde, mag teilweise auch auf die der Ursulinerin angewendet werden. Nur der

[1] lumières - Erkenntnisse? 
[2] Chapot I 166ff. Vgl. S. Teresa IV 196 (Mor. 7 c. I) und ihren 2. Brief an P. Rodrigo Alvarez; sowie Alvarez de Paz bei Poulain 275f.


Kap  LXVI.  Metapsychologie des mystischen Erkennens:  2. unio mystlca.             (S. 695)

katholisch-dogmatische Ton klingt vernehmlich vor, und dementsprechend verstärkt sich der Verdacht einer nachträglichen begrifflichen Ausdeutung von Erfahrungen, die an sich nicht sehr weit über die der mystischen Gottesnacht hinausgegangen sein mögen.

Auch bei Boehme und Pordage war von der Dreieinigkeit die Rede; aber keiner von ihnen ließ sich ähnlich weit auf Einzelheiten ein, wie die Priorin. Was diese von den Beziehungen der drei göttlichen Personen zueinander sagt, nimmt sich z.T. wie eine glatte Abschrift theologischer Dogmen aus.

Und in der Tat scheint die Vision in eine Zeit gefallen zu sein, da sich die Selige mit den Schriften des Pseudodionys beschäftigte. Immerhin sind gewisse Äußerungen der Seherin zu beachten, die den eigenartig ekstatischen Charakter des Erlebnisses über allen Zweifel heben.

Sie gab nämlich an, ihr Gesicht sei eine impression sum"te, d. h. wohl: sie sei in einem Augenblick vollständig gewesen, während dessen alle seelischen Kräfte aus- gesetzt hätten.

Ferner: die Offenbarung sei eine 'rein intellektuelle' gewesen, 'ohne jede sinnlich wahrnehmbare Form; sie habe nichts mit dem gemein gehabt, was uns unter die Sinne fällt oder in Worten ausgedrückt werden kann; ja man könne sie nicht einmal dem Lichte vergleichen, denn selbst das Licht habe etwas zu materielles; die Vision sei lauter, deutlich, beständig, von jeder Ungewißheit frei, ununterbrochen und [in ihrer Ganzheit] gleichzeitig gewesen'. [1]

Dies klingt nun selbstgewiß genug; aber subjektive Überzeugungskraft besitzt die mystische Vision fast immer; wie weit wir ihr in Fällen, wie diesen, Wert beimessen können, bleibt ungewiß; wir können nur immer wieder die unbestimmte Möglichkeit ihrer Anregung durch vorübergehendes Eingetauchtsein in eine geistige (vielleicht auch objektive) Überwelt vermuten; ein starkes Element hinzutretender Deutung durch bereitliegende Begriffe aber scheint mir dabei das mindeste Zugeständnis zu sein, das wir dem naturalistischen Zweifler machen müssen.

[1] Vgl. ihre zweite Vision der Dreieinigkeit: Chapot I 120ff   

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