Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 427)

In Wahrheit betreten wir mit der Erwägung der Vorschau eine kritische Strecke unsrer ganzen Kette von Argumenten. Ließe sich echte Prophetie erweisen, d.i. das Vorauswissen des normal nicht zu Erwartenden, ließe sich insbesondere eine Vermengung echter 'Präkognition' mit den andern bisher behandelten Arten übernormalen Wissenserwerbs beobachten, so würde der Gedanke Wahrscheinlichkeit gewinnen, daß sie alle im Grunde einheitlichen Wesens sind und nur unserem beschränkten Blick unter der Herrschaft vorgefaßter Begriffe in so viel verschiedene Vorgänge zerfallen.

Wäre dann für einen Teil dieses Tatsachenganzen - nämlich für die Prophetie - die physikalische Deutbarkeit unbestreitbar abgelehnt, so wäre sie gleichzeitig auch für die Gebiete beinahe unmöglich geworden, auf denen, solange wir sie gesondert betrachten, eine solche Erklärung bloß sehr großen Schwierigkeiten zu begegnen scheint.

Die Tatsache der Telepathie ist ja nur deshalb verhältnismäßig leicht von der 'Wissenschaft' anerkannt worden, weil man - ausdrücklich oder nicht - an der Hoffnung ihrer physikalischen Deutbarkeit. festhielt.

Die krampfhaften Versuche, alles anscheinende Hellsehen in telepathische Vorgänge aufzulösen, entsprangen ihrerseits der Einsicht, daß wenn diese Versuche scheiterten, die Tatsache des Hellsehens allein schon genügen würde, das einheitliche physikalische Weltbild zu sprengen, d.h. die Einbeziehung des menschlichen Seelenlebens in die Weltformel des Mechanischen zu verhindern. Die physikalische Deutung der


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 428)

Telepathie nun erschien uns bedenklich, die Auflösung des Hellsehens in Telepathie vielfach gekünstelt. Kaum in einem Falle aber war diese Kritik bis zu schlechthin zwingender Kraft zu steigern. Die Hoffnung, das physikalische Weltbild zu retten, würde erst vor der Tatsache echter Prophetie endgültig zusammenbrechen.

Wir haben dies aus dem Munde 'jenes entschlossensten Zweiflers, der trotz gründlicher Kenntnis des Materials noch an der Hoffnung festhielt, jede glaubhaft berichtete metapsychische Tatsache zuletzt doch irgendwie auf Telepathie zwischen Lebenden zurückführen zu können.  

'Das Vorauswissen der Zukunft', sagt Podmore, 'von der ins Einzelne gehenden Art (wie sie hier ins Auge gefaßt wird),  würde die Zertrümmerung des ganzen Aufbaus der Wissenschaft in sich schließen. Wenn (diese) Dinge... wirklich vorfallen, so müssen wir uns daran machen, einen neuen Himmel und eine neue Erde zu errichten.' [1]

Die Frage, ob der alte und verbreitete Glaube an Prophetie berechtigt sei oder nicht, hat mithin für unserem Gedankenzusammenhang, für die erweiterte Anthropologie, die wir hier suchen, und damit für das Problem einer vertieften Deutung etwa auch der geistlichen Erfahrungen geradezu entscheidende Bedeutung.

Der Leser wird mir darum an dieser Wegscheide das Recht auf etwas größere Ausführlichkeit zugestehen, als ich mir bisher gestattet habe; den Lohn mag er hoffen in erhöhter Sicherheit des Standortes zu finden, nicht nur allem Folgenden, sondern auch allem Vorhergegangenen gegenüber.

Die Beweislast, die dieser gewagtesten aller metapsychischen Aufstellungen zufällt, ist natürlich eine besonders große, und nirgendwo mehr als hier muß - selbst unter den lockeren Bedingungen der Darstellung, die ich mir selbst gestellt habe - eine saubere Binnenkritik der vorgeblichen Fälle gefordert werden.

Diese Kritik wird vor allem festzustellen haben, daß die Ankündigung des künftigen Ereignisses tatsächlich vor dem Ereignis gegeben war, und diese Feststellung wird je nach der Form der Ankündigung sehr wechselnden Bedingungen unterliegen.

Der einfachste Fall liegt vor, wenn sie z.B. durch automatische Schrift erfolgte oder wenn eine anders dargebotene Vorschau noch vor dem Ereignis schriftlich festgelegt wurde. Dann ist fast nur noch bewußter Betrug auszuschließen, was meist nicht schwer ist.

In allen andern Fällen kommen die Fehlerquellen ins Spiel, auf welche die neuere Psychologie des Gedächtnisses und der Aussage aufmerksam gemacht hat. Erinnerungstäuschungen mannigfacher Art; das unwillkürliche Hervorheben nebensächlicher Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen Vorahnung und nachfolgendem Ereignis,

daneben das sorglose Hinweggleiten über ihre inhaltlichen Abweichungen, das Deuteln an den Inhalten, um künstlich eine Übereinstimmung beider herzustellen, die an sich nicht besteht; das Außerachtlassen der Möglichkeit zufälliger Übereinstimmungen, also des statistischen Gesichtspunktes überhaupt; die mangelhafte Erwägung möglicher Deutungen von

[1] Podmore, Natur 345. Genau so der Podmore geistesverwandte R. Hennig, Wunder und Wissensch. I 234.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 429)

Voransagen durch unbewußte Schlüsse, etwa auf Grund vergessenen Wissens, oder der Selbstverwirklichung mancher anscheinender und geglaubter Prophezeiungen eben durch den Versuch, sie zu umgehen [1] - dies u. a. sind die Fehlerquellen, deren abstrakte Erwägung wohl geeignet ist, jede Hoffnung auf den Nachweis der Wirklichkeit von Vorschau geradezu im Keim zu ersticken.

Ich glaube allerdings beobachtet zu haben, daß in gewissen Darstellungen des Problems die Gründlichkeit in der Erörterung dieser möglichen Fehlerquellen im umgekehrten Verhältnis steht zur Reichhaltigkeit in der Darbietung - ich kann leider nicht glauben: auch in der Kenntnis - des besten einschlägigen Tatsachenmaterials.

Der oben gerügte Mangel in der Berücksichtigung der Berichte tritt bei keinem Typ metapsychischen Geschehens gleich peinlich in Erscheinung: indem verbreitete Arbeiten namhafter Gelehrter dieses unstreitig wichtigste Teilgebiet einer werdenden Wissenschaft mit einer Kürze und Flüchtigkeit abtun, die nachgerade einer Fälschung des Problembestandes gleichkommt. [2]

Gegenüber solcher Verdächtigung oder Vernachlässigung muß gesagt werden, daß gerade das Kapitel der Prophetie sich einiger der bestbeglaubigten und eindeutigsten Fälle rühmen darf, die im ganzen Gebiete des Metapsychischen anzutreffen sind, wie denn L. Kuhlenbeck, Prof. der Rechte an der Universität Lausanne, behaupten durfte,

daß er in zwei Fällen, die er gesammelt, die Beweismittel mindestens so stark finde, wie manche anderen tatsächlichen Feststellungen, 'auf Grund deren ich im Laufe meiner juristischen Praxis billigen mußte, daß Angeklagte zu schweren Strafen verurteilt wurden'. [3]

Von der abstrakten Bemängelung der Berichte durchaus verschieden ist jene Art der Binnenkritik, die auch an sich gut beglaubigte Fälle anscheinender Vorschau noch daraufhin prüft, ob dieser Anschein sich nicht durch irgendwelche Deutungselemente vor allem übernormaler Artung in einen Schein verwandeln lasse.

Tatsächlich ist es möglich, für ganze Typen anscheinend prophetischer Erlebnisse solche Alternativdeutungen aufzustellen, und es wird sich empfehlen, die jetzt darzubietende Reihe von Beispielen unter dem Gesichtspunkt der wachsenden Schwierigkeit eben solcher Wegdeutung zu ordnen.

So läßt sich z.B. ein Voraussehen menschlicher Handlungen dadurch entstanden denken, daß der Prophet die 'vorausgesehene' Handlung einem Andern (telepathisch) suggeriert und somit selbst die Verwirklichung seiner Ahnung bewirkt, [4] oder aber umgekehrt auf irgendeine Weise von den Absichten eines ganz selbständig Handelnden Kenntnis erlangt.

Der Anschein der Prophetie wird freilich nur dann entstehen, wenn diese Kenntnis unbewußt erlangt wird, das Vorauswissen also dem Seher selber unbegreiflich erscheint; und in den meisten Fällen dieses Typs, die mir bekannt sind, müßte diese Kenntniserlangung entweder auf telepathische oder hellseherische Vorgänge zurückgeführt werden.

Wenn z.B. ein Handlungsgehilfe träumt, er selber werde am nächsten Tage um 12 Uhr mittags für 150 Dollar drap d'été an einen Kunden verkaufen, so ließe sich

[1] Vgl. hierzu z.B. Hennig, aaO. 185.
[2] S. z.B. Dessoirs weniger als drei Seiten in Vom Jens. d. Seele. 2. Aufl. 124ff.
[3] Ludwig, 2. Aufl. 78.
[4] Vgl. etwa PS XXVI 564.


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 430)

annehmen, daß die Absicht dieses Kunden, in eben diesem Geschäft eine so außerordentliche Menge eben dieses Stoffes zu kaufen, dem Träumenden telepathisch mitgeteilt worden sei.

Die Unglaublichkeit des Vorgangs in den Augen des Perzipienten, dem 'in zehn Jahren nichts Derartiges vorgekommen war', könnte gerade eine solche Deutung begünstigen. Weniger natürlich würde sich diese Deutung damit abfinden, daß der Perzipient nur dadurch selbst zum Ausführen der geträumten Handlung kam, daß der Verkäufer des betreffenden Ladentisches kurz vor 12 Uhr abgerufen wurde, so daß der Träumer ihn zu vertreten hatte und für 148 oder 152 Dollar (die genaue Summe ist fraglich) drap d'été an einen Kunden verkaufte, der 'fast genau um 12' den Laden betrat. [1]

Daß unter diesen Fällen des Vorhersehens von Willenshandlungen Anderer willkürliche Todesfälle häufig sind, mag natürlich erscheinen, wenn wir bedenken, wie oft der erregende Todesvorgang den Inhalt 'bloß telepathischer' Halluzinationen bildet.

Ein Beispiel solcher Art teilt Sanitätsrat Dr. Droste mit, der sich für den 'wirklich unbestreitbaren Vorgang mit (seinem) sicher verläßlichen Worte' verbürgt: Ein 'sehr unterrichtetes' älteres Fräulein sitzt am Fenster mit ihrer Arbeit beschäftigt.

'Auf einmal schreit sie bei dieser Arbeit laut auf und bekommt heftige, anhaltende klonische und tonische Krämpfe;. . . sie habe deutlich gesehen, wie sich soeben hier an dem Hause ein Unteroffizier in den Mund geschossen habe und sein Gehirn bis zum Fenster des Zimmers gespritzt sei.

Außer dem jungen Mädchen hat niemand einen Schuß gehört. . . ' Man sucht sie zu beruhigen, indem man ihr klarmacht, sie könne doch im zweiten Stock von ihrem Sitze aus nicht sehen, was auf der Straße zugehe. Nach längerer Erregung wird sie zu Bett gebracht. Einige Zeit nach dieser Szene erschießt sich ein französischer Unteroffizier an der bezeichneten Stelle in der angegebenen Weise. [2]

Hier ist es offenbar denkbar, daß der Selbstmörder seine Tat schon z. Zt. des Gesichts, und zwar an jener Stelle auszuführen geplant, wo eine zufällig Empfängliche die Bilder seines Planens aufnahm.

Daß diese Deutung den in solchen Dingen Erfahrenen befriedigen werde, will ich freilich nicht sagen: einmal nämlich gleicht der Vorfall in charakteristischer Weise anderen, die solche Fortdeutung nicht zulassen; sodann gibt der Umstand zu denken, daß - wie Droste mitteilt - die Perzipientin (und übrigens auch ihr Bruder!) 'zum öfteren den Tod der Menschen vorhergesehen haben', also ein typisches Ereignis an sich, dem doch nur ausnahmsweise eine darauf zielende Absicht vorausgeht.

Ohne weiteren Kommentar wird der Zweifler bereit sein, den folgenden Bericht in das hier eröffnete Fach einzuordnen: - Im Juni 1889 (der Bericht ist vom April 1892 datiert) saß die Perzipientin, Frau F.C. Mc. Alpine, an einem kleinen See der schottischen Grafschaft Monaghan in Erwartung ihrer Schwester, die lautlose

[1] Owen, Debat. L, 262f. (Vom Perzip. selbst mitgeteilt, der übrigens den Traum bezeichnenderweise gleich am Morgen erzählt hatte.)
[2] in AZP XI 655ff.: 'Üb. Ahnungen und Vorgewahrwerden'; die Länge von 'einiger Zeit' wird leider nicht bestimmt. - Vgl. den Fall PS 1902 601.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 431)

Schönheit der Landschaft genießend. 'Plötzlich fühlte ich einen kalten Schauer mich durchkriechen, und eine sonderbare Steifheit der Glieder... Ich empfand Furcht und fühlte mich doch wie an den Platz gekettet und gleichsam gezwungen, das Wasser gerade vor mir anzustarren.

Allmählich schien sich eine schwarze Wolke zu erheben, und in ihrer Mitte sah ich einen hochgewachsenen Mann in einem Anzug aus Halbtuch ins Wasser springen und versinken.' Die Dunkelheit schwand damit und nur ein Gefühl des Unheimlichen verblieb.

Das Erlebnis wurde noch am selben Tage der Schwester und einem Bruder erzählt und die gedruckte Bestätigung des ersteren liegt vor. Eine Woche danach ertränkte sich ein Herr Espie, ein Bankbeamter, der Perzipientin unbekannt, genau an dem gleichen Uferfleck.

Ein hinterlassener Brief gab die längere Zeit hindurch bestehende Absicht des Selbstmordes zu. Die Zeitungsnotiz über den Vorfall im Norikern Standard ist vom 6. Juli 1889 datiert. [1]

Ein Bedenken der minder Skeptischen gegen die vorgeschlagene Deutung solcher Fälle knüpft sich natürlich daran, daß keinerlei Bezogenheit des angeblichen Agenten auf den Perzipienten, wohl aber eine solche auf den Ort der Tat gegeben ist.

Die offenbare Analogie mit Fällen von Rückschau an einem bestimmten Orte würde eher empfehlen, auch das Schauen künftiger Ereignisse gelegentlich an die Anwesenheit des Perzipienten am Ort ihres Geschehens gebunden zu denken, und nicht an die Tätigkeit eines telepathischen Agenten, der ja in Fällen der Rückschau oft ein Abgeschiedener sein müßte.

Diese Schwierigkeit fällt natürlich fort in den sehr viel zahlreicheren Fällen, wo die Vorahnung oder Vorschau den gewaltsamen Tod des Perzipienten selbst betrifft, zwischen ihm und dem etwaigen Agenten also eine persönliche Beziehung sehr ausgesprochener Art besteht, nämlich die des Mörders zu seinem ausersehenen Opfer.

Wenn Präsident Lincoln in der Nacht vor seinem Tode träumt (und den Traum seiner Frau erzählt), daß Diener in Trauerlivree im schwarzverhängten weißen Saal des Weißen Hauses ihm sagen:

der Präsident sei in der Oper erschossen worden, [2] oder ein früherer Erzbischof von Autun in den zwei Nächten vor einem Mordanschlag auf ihn von einem solchen träumt, so daß er angeblich sogar den Angreifer zu erkennen vermag, [3] oder wenn ein 1790 gewaltsam ertränkter Uhrmacher aus Locle auf einem offenbar kurz vor seinem Tode geschriebenen Zettel bezeugt:

'Diese Nacht habe ich einen schrecklichen Traum gehabt. Mir träumte, zwei Männer hätten mich angepackt, gebunden und ins Wasser geworfen. Dies habe ich jetzt in fünf Wochen zum vierten Male geträumt', so liegt eine telepathische Deutung in der Tat so nahe, daß wir den Berichten ihre zum Teil recht mangelhafte Beglaubigung willig nachsehen.

Nicht immer freilich ist diese Deutung so natürlich und widerstandslos, wie in den eben bezeichneten Fällen. Zuweilen ist der Perzipient nicht mit dem Opfer identisch und erscheint diesem gegenüber als ein leidlich zufälliger, 'versteckter', - wie in dem Traum, der die schwere Verwundung eines

[1] Pr X 332f.
[2] Nach Brander, Der Schlaf 26 in PS XXV 133.
[3] Crowe 79.
[4] Nach Prof. J. H. van Swinden (namhafter Philosoph u. Mathematiker) in PS XXVI 412.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 432)

Gastwirtes Jost durch Messerstich angeblich an bestimmter Körperstelle einem Dritten angekündigt habe, [1] - oder die Vorahnung schließt wahre Einzelheiten ein, die man nicht ohne Schwierigkeit unter den Absichten des angeblichen Agenten vermuten kann:

wie wenn Prof. von Gudden einige Tage vor seiner Berufung zu König Ludwig II. nach Hohenschwangau seiner Frau erzählt (die sich dafür verbürgt), er sei die ganze Nacht von dem Traumbild verfolgt worden, daß er mit einem Manne im Wasser kämpfe; wobei zu bedenken, daß zur Zeit der Traumes die Überführung des Königs nach Schloß Berg noch gar nicht geplant war. [2]

Immerhin dürfte der Zweifler mit Recht die Schwierigkeiten auch des letzteren Falls nicht für unüberwindlich halten. Man sollte jedenfalls bereit sein, diese Deutung in jeder denkbaren Ausdehnung anzuwenden, denn irgendeine Angriffsfläche für sie bieten in der Tat zahllose Berichte über anscheinende Vorahnungen. [3]

Eine 'seltsame Spielart’ von Fällen dieses telepathischen Schemas bildet das gewissen Personen beinahe gewohnheitsmäßige 'Voraussehen von Begegnungen durch eingebildete Ähnlichkeit'. [4] Dies besteht darin, daß der Perzipient in einem völlig Fremden einen Bekannten zu erkennen glaubt, der dann in wenigen Augenblicken um eine Ecke biegt, die ihn bis dahin den Augen des Perzipienten schlechthin entziehen mußte.

Eine vorzügliche Beschreibung und Analyse dieser Tatsache verdanken wir z.B. Frau Prof. Verrall (Cambridge), gleich ausgezeichnet durch ihre seherischen Gaben wie durch die Sorgfalt und den Scharfsinn, womit sie ihre Erlebnisse zu beobachten und zu zergliedern weiß.

'Ich habe', schreibt die gelehrte Dame, die seit Jahren über derartige Vorfälle Tagebuch führt, 'scharf zu unterscheiden gelernt zwischen gewöhnlichen Verwechselungen von Leuten, die sich ähnlich sehen, und diesen antizipatorischen Fällen:

wenn ich bemerke, daß ich einen Fremden irrtümlich für einen Bekannten gehalten habe, während der Fremde nicht die geringste Ähnlichkeit mit jenem Bekannten hat, so erwarte ich zuversichtlich, den Bekannten bei der nächsten Wegecke zu treffen, und in dieser Erwartung täusche ich mich selten.' [5] -  

Diese Beobachtungen sind zu typisch und zu häufig und treten zu sehr in individuellen Schwärmen auf, als daß man sie für ein bloßes Spiel des Zufalls ansehen könnte. [6]  Dagegen ist ihre Einordnung unter die Ahnungen mehr wie fraglich: telepathische Beeinflussung seitens des illusorisch wahrgenommenen sich Nähernden dürfte den Meisten eine befriedigende Deutung scheinen.

Sie fallen dann in eine natürliche Gruppe mit den überaus zahlreichen Fällen des Vorauswissens eines unerwartet anlangenden Briefes, oder der Halluzinierung eines unerwartet Heimkehrenden oder eines Besuchers mehr oder minder kurz vor seinem Eintreffen, Fälle, die so typisch sind, daß die englische Forschung für sie eine besondere Etikette geprägt hat: arrival-cases, Ankunftfälle.

Eine andere Alternativdeutung ist natürlich Hellsehen des Perzipienten. Aber zu dieser 'schwierigeren'

[1] der seinen Traum sogleich seinem Weibe erzählt habe. - PS XXIII 669f.
[2] du Prel, Mon. Seel. 334. - Hohenschwangau liegt ebenfalls an einem See.
[3] Man erwäge z.B. Gassendis Bericht bei Calmet I 206f.
[4] 'prevision by fancied resemblance'; antileptische Telepathie' nach Andern.
[5] APS II 309 ff.
[6] Weiteres hierüber: APS II 181 ff. 247; Oppenheimer in BIGP 1904 162f.; du PreI. Entd. I 198 (6 Perzipienten).


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 433)

Annahme würde sich die Mehrzahl doch erst in den sonst analogen Fällen entschließen, in denen der Gegenstand der 'Begegnung' ein lebloser ist, dessen ungesehene Nähe normalerweise nicht wahrgenommen werden konnte.

Ich selbst habe es erlebt, daß eine mir nahestehende Dame, die mich überdies in zahlreichen Fällen von Ihrer Begabung für übernormales Erfahren überzeugt hat, während eines Spaziergangs am Ufer des Schlachtensees bei Berlin mitten im Gespräch über abliegende Dinge die Gewißheit aussprach, sie werde jetzt Geld finden, und dann, nach einer scharfen Wendung des Waldweges, ein Groschenstück aufhob, das fast völlig im tiefen Sande verborgen lag. [1]

Indessen sind wir mit den letzten Bemerkungen in das Gebiet derjenigen Vorahnungen übergetreten, bei denen die Fortdeutung des prophetischen Elementes sich nicht mehr auf die Mittätigkeit fremder Bewußtseine beruft, sondern auf gegenständliche Wahrnehmungen des Subjektes der Ahnung selbst. Solche Wahrnehmungen brauchen unstreitig in vielen Fällen nicht einmal als übernormal angesetzt zu werden.

In einem Fall, den Splittgerber aus erster Hand mitteilt, wird ein bei der Arbeit fröhlich singender Schneider von 'unerklärlicher Angst' und dem 'bestimmten Gefühl' ergriffen, 'daß seinem schlummernden Kinde dort in der Wiege eine große Lebensgefahr nahe sei'; dazu hört der Mann, angeblich dreimal und immer bestimmter, zuletzt (da er nicht Folge leistet) 'wie rollenden Donner in seinem Herzen eine Stimme in seinem Innern:

Stehe eilend auf und nimm das Kind aus der Wiege', worauf dann gleich 'in jener Gegend des Zimmers, in welcher die Wiege stand, die ganze Decke: Kalk, Lehm und Windelboden plötzlich von oben herunterstürzte, gerade auf die Wiege fiel und dieselbe mit Schutt und Trümmern bedeckte...' [2]

Das Erlebnis scheint einen zu knapp-dramatischen und entsprechend scharf erinnerbaren Verlauf genommen zu haben, als daß eine kritische Zerlegung in eine zeitlich zerstreute Reihe von halben Zufälligkeiten sehr wahrscheinlich sein könnte.

Aber eben darum läßt sich vermuten, daß irgend welche 'unbewußte', aber normale Wahrnehmung, die auch ein klares Bewußtsein als Anzeichen eines unmittelbar bevorstehenden Unglücks gedeutet hätte, die nächste Veranlassung der scharf ausgebildeten Halluzination gewesen sei.

Immerhin werden die Grenzen solcher Deutung auch gegenüber Vorahnungen derartig einfacher Unglücksfälle bald überschritten.

Die bekannte Berliner Seherin de Ferriem gab z.B., wie sie schreibt, am 18. April 1899 folgendes zu Protokoll: 'Ich habe heute ein merkwürdiges Gesicht gehabt. Ich erschaute und betrachtete eine zwischen Häusern eingepfercht stehende neue Kirche.

Während ich das Gotteshaus ansah, vernahm ich einen furchtbaren Krach (und) sah gleich darauf die Glocke der Kirche abgestürzt daliegen. .. Soviel ich nach dem Gesicht urteilen kann, befindet sich die Kirche in Berlin.' - Am 19. April abends brachten Berliner Zeitungen die Meldung, die große Glocke des S. Simeonskirchturms

[1] Für 'Unverdächtigkeit' des Vorgangs bürge ich. - Vgl. auch PS XXVI 565f.
[2] 'gleich': 'kaum hatte er'. - Splittgerber, Leben, 2. Aufl. 121-3. Ganz ähnlich Frau Dr. Schwinger bei Bormann 136f.; Jung, Theorie 79ff.; ÜW 284.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 434)

in der Wassertorstraße 21 a sei um 2 Uhr nachmittags desselben Tages (des 19.) herabgestürzt, habe mehrere Balkenlagen durchschlagen und sei im Dachgewölbe steckengeblieben. [1] -

Verwirft man die Annahme nachträglicher Fabrikation des Protokolles sowie die eines zufälligen Zusammentreffens, weil die Übereinstimmungen (der Zeit, des Ortes, der ungewöhnlichen Lage der Kirche) zu zahlreich seien, so wird man den Fall den soeben angeführten wohl nur dann anschließen können, wenn man mindestens noch telepathische Benachrichtigung durch einen Lebenden voraussetzt, der den gefahrdrohenden Zustand des Glockenstuhles auf irgendeine normale Weise wahrgenommen hätte.

Andernfalls bliebe nur die Voraussetzung, daß die Seherin selbst hellsehend diese Wahrnehmung gemacht habe, zu der sie aber doch schwerlich irgendwelche Veranlassung hatte.

Ziemlich verwickelt und künstlich sind die Voraussetzungen, die im folgenden Fall die Annahme wahrer Vorschau überflüssig machen könnten. Dr. W. in Schottland träumte, daß er zu einem mehrere Meilen entfernt lebenden Kranken gerufen werde, zu Pferde dorthin aufbreche, unterwegs ein Moor überquere und dort von einem wütenden Stier angefallen werde, daß er sich an einen dem Tiere unzugänglichen Platz rette und erst nach langem Warten durch herbeieilende Leute von dort befreit werde.

Alles dies traf am nächsten Tage ein. Der Weg war Dr. W. unbekannt, doch erkannte er das Moor wieder und wurde, wie er sagt, nur durch den Traum instand gesetzt, sogleich die rettende Richtung nach dem sicheren Zufluchtsort einzuschlagen, den er erst nach 3 bis 4 Stunden unter dem Beistand herzukommender Fremder verlassen konnte.' -

Hier könnte man sich allenfalls durch die reichlich geschrobene Annahme helfen, daß die dem Arzte telepathisch und unterbewußt kundgewordene Absicht des Kranken, ihn zu sich zu bitten, Dr. W. veranlaßt habe, den Weg hellsehend in Augenschein zu nehmen, bei dieser Gelegenheit den Stier auf dem Moore zu entdecken, die mögliche Gefahr im Traum als wirklich zu erleben und sich eines Zufluchtsortes im voraus hellsehend zu vergewissern.

Außer der normalen oder übernormalen Wahrnehmung gewisser einfacher Tatbestände werden in Fällen wie den eben beschriebenen als Wurzeln der Vorahnung auch noch gewisse 'Schlüsse' aus diesen Wahrnehmungen vorausgesetzt, die ebenfalls gemeinplätzlicher Natur sind.

Jede dieser Voraussetzungen ist nun beträchtlich gesteigerten Verwicklungen zugänglich. Zunächst haben wir den Typ der Voransage von Vorgängen meteorologischer Natur, die im äußersten  Fall die möglichen Leistungen unserer Wissenschaft beträchtlich übersteigen.

Sodann finden wir Voraussagungen über organische, besonders pathologische Vorgänge in Lebenden, die, falls sie nach Analogie normaler Vorgänge erklärt werden sollten, eine alles Normale übersteigende Einsicht in die innersten Lebensvorgänge voraussetzen würden.

Bei Wettervorahnungen muß natürlich die Möglichkeit einer bewußt körperlichen Empfindung sich anbahnender atmosphärischer Veränderungen in Ansatz gebracht werden, selbst über die Grenzen hinaus, die der wissenschaftlichen Vorausbestimmung gezogen sind.

[1] de Ferriem 69.
[2] Crowe 72.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 435)

Merkwürdig, wenngleich schließlich auch noch hier unterbringbar, erscheint die Voransage einer gewissen Franziska. . ., die bei Ansetzung eines Umzugs auf einen Donnerstag im März 1883, mehrere Tage vor dem Ereignis, eine so große Angst vor diesem Tage empfand, daß sie durch inständige Bitten ihren Vater zur Verlegung des Umzugs veranlaßte.

Am Donnerstag riß ein Unwetter Bäume, Laternen und Telegraphenstangen um und Dachziegel von den Dächern, Hagel, Regen und Schnee schlugen Fensterscheiben ein. Am Sonnabend darauf, dem endgültigen Umzugstage, lachte die Sonne. [1]

Erdbeben sind ebenfalls ein Gegenstand vielfacher Voransagen gewesen. Aber auch hier wissen wir oder nehmen als natürlich an, daß sie sich von langer Hand her vorbereiten, und müssen daher die Möglichkeit zugestehen, daß die natürlichen Veränderungen ihrer Inkubationszeit irgendwie wahrgenommen und zu Erwartungsschlüssen verwendet werden. Bekanntlich hat man sogar an Tieren kurze Zeit vor Erdbeben häufig ein Benehmen beobachtet, das auf dergleichen Vorwahrnehmungen schließen ließ. [2]

Immerhin: die leidlich bestimmte Voraussagung eines Erdbebens durch einen Menschen 14 Monate vor seinem Eintritt ist entweder ein Spiel des Zufalls oder eine Leistung, die selbst die eben gemachten Voraussetzungen auf eine äußerst harte Probe stellt. Dem steht auf der andern Seite gegenüber, daß der Perzipient in dem Falle, den ich im Auge habe, sich auch durch andere metapsychische Leistungen ausgezeichnet haben soll.

M. Loustaneau, der nach einem abenteuerlichen Leben den Rest seiner Tage unter der Fürsorge der bekannten exzentrischen Lady Hester Stanhope in Syrien verbrachte, wurde von dieser stets als 'der Prophet' bezeichnet; er hatte ihr nämlich eines Tages gesagt:

Heute, in diesem Augenblick, da ich mit Ihnen rede, entflieht Napoleon von der Insel Elba. Im April 1821 suchte Lady Stanhope den britischen Generalkonsul in Aleppo und Antiochien, John Barker, zum Verlassen seines Wohnorts zu bewegen, 'denn beide Städte werden ungefähr in Jahresfrist zerstört werden.

Ich melde Ihnen dies im Namen des Propheten Loustaneau.' Im Mai 1822 berichtete Barker dies an Dr. Wolff, dessen Erinnerungen ich den Fall entnehme, mit dem Bemerken, er halte die Stanhope für verrückt.

Im August 1822 war Wolff bei M. Lesseps, dem französischen Generalkonsul, zu Tische, als dessen Dragoman, M. Derche, von Lady Stanhope kommend, dieselbe Warnung brachte, 'denn im Namen des Propheten L. erklärte sie, daß innerhalb 14 Tagen Aleppo und Antiochien würden zerstört werden. Derche redete von einem Erdbeben.

Wenige Tage nach dieser Unterredung verließ Wolff mit einer kleinen Karawane Aleppo. Bei dem 10 Meilen entfernten Orte Jusia trat das Erdbeben ein, welches Jusia, Aleppo, Antiochien, Lalakia, Hums und Hama zerstörte und 60000 Menschen tötete. [3]

Auch die Voransage von Grubenunglücken kann vielleicht in diesen Zusammenhang gestellt werden, wennschon es, wie ich nach meinen

[1] PS XXIX 603. Vgl. J. F. Teller, Vom Wiederkommen, Wiedersehen und Erscheinen der Unsrigen... (Zeitz 1806) 165f.; Hastings 242.
[2] PS XX1X 579; ähnlich Plinius üb. die Zeit vor dem Vesuv-Ausbruch. Vgl. Prof. Nowack über die 'Wetterpflanze' (abrus precatorius nobilis) in PS XXXI 382f.
[3] (Dr.) H. Sengelmann, Dr. Joseph Wolff. Ein Wanderleben (Hamb. 1863) 55ff. Üb. Loustaneau vgl. noch (Dr. Meryon,) Memoirs of the Lady Hester Stanhope... (Lond. 1845) II 182.


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 436)

geringen Kenntnissen annehmen möchte, eine Voraussetzung dieser Zuordnung wäre, daß Ansage und Ereignis zeitlich nicht zu sehr auseinander liegen, denn wie lange sollen wir die 'Wetter'-Bedingungen einer Grube in einem Zustande verharren lassen, der bereits einen katastrophalen Ausgang erschließen läßt?

Ich weiß darum nicht, ob die folgende bekannte Vorschau des großen Grubenunglücks von Brüx-Dux im September 1900 durch Frau de Ferriem eine derartige Deutung verträgt, da der Abstand zwischen Gesicht und Ereignis ein volles Jahr betrug; auch versteht sich von selbst, daß die räumliche Entfernung der Seherin vom Orte des Unglücks außerdem die Einschaltung eines telepathisch wirksamen Ur-Perzipienten am Orte selbst erfordert - falls wir nicht die Ansage lediglich für einen Zufallstreffer halten wollen.

Die Dame beschrieb, was sie sah, u. a. wie folgt: 'Die Ärzte kommen aus Brüx. . . das sind Böhmen. Die Weiber ,und die Kinder haben Kopftücher um. Ja, das sind Böhmen... Mit solch einem Zuge, der eben angekommen, bin ich schon gefahren. Da steht es dran, der kommt doch über Eger.

Ja, es sind Böhmen. .. Ich höre, was (der Schaffner) sagt. 'In den Kohlengruben von Dux' sagt er, ich lese aber Brüx. Der da hats an der Binde. ..' Diese Aussagen sind wortgetreu im Druck niedergelegt in Godefroys Berichten über die Seherin vom 20. Sept. 1899, also ein Jahr vor dem Unglück.

Sie setzte die Szene allerdings fälschlich um die Weihnachtszeit an, vielleicht verführt durch die wahrgenommene 'Hundekälte', immerhin konnte ein Teil der Toten wirklich erst Ende Oktober bei starker Kälte herausgeholt werden. [1]

Auf andersartigen Grundlagen ruht die etwaige Fortdeutung anscheinender Vorahnungen von Katastrophen im Leben des menschlichen Organismus. Schon die Betrachtungen über das Hellsehen haben uns die Tatsachen organischer Inschau kennen gelehrt, die wir ja auch 'unbewußt' verlaufen lassen dürfen und von denen sich gar nicht sagen läßt, wieweit sie etwa reichen, wie bestimmt anderseits die Schlußfolgerungen sind, die aus ihnen - 'unbewußt'! - sich gewinnen lassen.

Aber abgesehen von diesen Wurzeln natürlicher Deutung verwickelt sich das Problem der Todes- oder Krankheitsansagen noch durch die weitere Möglichkeit (die bei Naturkatastrophen nicht gegeben war), daß die Prophezeiung, gleichviel woher stammend, sich selber verwirkliche, nämlich durch die Macht, welche Vorstellungen, Erwartungen, Befürchtungen erfahrungsgemäß über den Körper gewinnen können.

Indem wir den zweiten Gesichtspunkt als den 'natürlicheren', wissenschaftsgemäßeren zuerst besprechen, wollen wir ganz absehen von den schier zahllosen Voraussagungen organischer Vorgänge, von denen die Krankengeschichten der älteren Somnambulen und ihrer Nachfahren erfüllt sind. Diese zählen wir heute samt und sonders den Hysterischen

[1] Bormann 130.


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zu, deren übermäßige Suggestionszugänglichkeit nicht minder bekannt ist als ihre Sucht, den Arzt durch immer neue Symptome zu fesseln. Der Wunsch aber, ihn durch Voransage solcher Symptome zu verblüffen, würde diese Sucht sehr natürlich ergänzen.

Schreitet die dabei vorausgesetzte Selbstschädigung tatsächlich zum autosuggestiven Selbstmord fort, so mag unser Urteil freilich stutzig werden, indes ist es nicht nötig, durchaus die 'hysterische Absicht' dazu vorauszusetzen. Der Gedanke des bevorstehenden Todes mag 'irgendwie' im Subjekt entstanden sein, sich dann aber sehr gegen seinen 'Willen' verwirklicht haben.

Eine junge Hysterische im psychiatrischen Institut in Reggio d'Emilia, an Tuberkulose beider Lungenspitzen leidend, aber in ziemlich gutem Allgemeinzustande, zeigte ihren Tod an, für dessen Bevorstehen die darauf angestellte Untersuchung keinerlei Anzeichen ergab.

Die Kranke verlangte jedoch nach einem Priester und 'beklagte sich danach in unbestimmter Weise, daß etwas sie zu genieren schiene, ohne sagen zu können, was es sei'. Plötzlich trat eine Halluzination der Hölle ein, man führte die Kranke ins Bett zurück, aus dem sie gesprungen war, sie kreuzte die Arme über der Brust, sagte:

Ich gehe, die Herrlichkeit der Engel des Paradieses zu sehen, 'und lag reglos da: sie war tot', zwei Stunden nach der Voransage. Die Temperatur betrug 38 und die Sektion deckte keinerlei Veranlassung des Todes auf.

Der medizinische Berichterstatter, dem ich folge, [1] nimmt einen 'Scherz' der Kranken an, der sich autosuggestiv verwirklicht habe. Ein unterbewußter Wink möge von der Wahrnehmung von Toxinen in der Lunge ausgegangen sein.

Immerhin haben wir bei weitem nicht in allen Fällen von Ansage des eigenen Todes Hysterische vor uns, und der Leser wird finden, wenn er die nachstehenden Beispiele wägt, daß die Annahme einer sich selbst verwirklichenden Erwartungsvorstellung, wenn auch an sich unanfechtbar, doch nur mit zunehmender Gezwungenheit auf sie anzuwenden ist.

Das nachstehende Ereignis führt zwar ins 17. Jahrhundert zurück, der Bericht des Bischofs von Gloucester, auf den ich mich stütze, beruht aber nach seinen eigenen Worten auf den Angaben - recital, das kann fast heißen: dem Diktat – des Vaters der Perzipientin, dessen Wissen seinerseits, wenn ich den Bericht recht verstehe, auf ein zwischen Ahnung und Erfüllung abgefaßtes, an ihn gerichtetes Schreiben der Perzipientin zurückgeht.

Diese, eine Tochter des Sir Charles Lee, war im Begriff, verheiratet zu werden, als sie eines Donnerstags nachts i. J. 1662 ein Licht in ihrer Kammer zu sehen meinte, der Magd klopfte und sie fragte, 'warum sie ein Licht in der Kammer habe brennen lassen?' Nach der Feststellung durch die Magd, daß weder ein Licht gebrannt habe, noch auch Feuer im Kamin zurückgelassen sei, gab sie zu, es könne ein Traum gewesen sein und legte sich wieder zum Schlafen hin.

Gegen 2 Uhr wurde sie wieder erweckt 'und sah die Erscheinung einer kleinen Frau zwischen ihrem Bettvorhang und ihren Kissen, die ihr sagte, daß sie ihre Mutter sei (die bei der Geburt der Perzipientin gestorben war), daß sie glücklich sei und daß um 12 Uhr desselben Tages sie (die Perzipientin) bei ihr sein werde.'

[1] G.-C. Ferrari in RS 4. sér. V (1896) 60.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 438)

Die junge Dame klopfte wieder ihrer Magd, kleidete sich an, schloß sich bis 9 Uhr ein, kam dann mit einem versiegelten Brief an ihren Vater zum Vorschein (vermutlich der Grundlage erster Hand für die Erzählung des letzteren) und brachte diesen ihrer Tante, Lady Everard, der sie das Vorgefallene berichtete und die sie um Bestellung des Briefes nach ihrem Tode bat.

Ein Arzt und Wundarzt wurden gerufen, der Arzt aber 'konnte keine Andeutung von den Einbildungen der Dame finden oder von irgendwelcher körperlichen Gesundheitsstörung'. Nach dem aufgedrungenen Aderlaß ließ sie einen Geistlichen rufen, der Gebete mit ihr las, worauf sie geistliche Lieder zur Gitarre sang.

'Und kurz vor Schlag 12 Uhr erhob sie sich und nahm in einem großen Armstuhl Platz, holte ein- oder zweimal tief Atem und verschied.' [1] - Daß die Todesansage, wie so häufig, durch die Erscheinung einer Verstorbenen erfolgte, mag man für das Anzeichen einer Veranlagung halten, die auch zu visionärer Ausgestaltung unterbewußter Vorstellungen (neben ungewöhnlich starker Selbstbeeinflussung des Organismus) befähigt war.

Am Ende gerät man auf den Gedanken, daß auch Sir Charles' 'gesunde' Tochter eine heimliche Hysterische mit Sexualverdrängung war, die 'lieber sterben als heiraten' oder gar einen Ungeliebten heiraten wollte.

Der folgende Fall wird von der Perzipientin selbst, allerdings 45 Jahre nach dem Ereignis, berichtet. Mrs. E. war gesund, hatte soeben eine Nacht gut geschlafen und war im Begriff sich anzukleiden, als sie wie von einem Eintretenden die lauten Worte gesprochen hörte: Heute um 6 Uhr wirst du sterben.

Sie beschloß, nicht über das Erlebnis zu 'brüten', und besuchte, um sich abzulenken, ihre Schwester auf den ganzen Tag. Als die Uhr 6 zu schlagen begann, sagte sie zu sich selbst: Nun also, jetzt ist's 6 und nichts ist vorgefallen, 'aber ehe das Schlagen beendet war, stürzte Blut in starkem Strom aus beiden Nasenlöchern'.

Die Blutung hielt lange an und der gerufene Arzt erklärte, daß das Leben mit genauer Not gerettet worden sei.' - Das Bemerkenswerteste ist, daß Mrs. E. sich nicht nur als weder phantastisch noch leichtgläubig noch überspannt noch neurotisch oder hysterisch bezeichnet, sondern auch ihr Leben lang Vorahnungen ihrer eigenen wie auch fremder Erlebnisse gehabt hat.

Das Bezeichnende und Typische an dem Vorfall wäre demnach nicht in einer physiologischen Selbstbeeinflussung, sondern in einer Vorahnung zu suchen, die man als solche in diesem Falle schwerlich auf Zufall zurückführen wird.

Wir müssen nun aber natürlich auch in Fällen von Ansagen fremden Todes der Möglichkeit von Suggestivwirkungen den weitesten Spielraum gönnen, sooft die Gewißheit oder auch nur Möglichkeit gegeben ist, daß der Todeskandidat von der Vorahnung auch nur 'eine Ahnung' gehabt habe.

Diese Freigebigkeit mag sogar in einem Falle angewendet werden, der im übrigen seltsam genug ist; nicht zuletzt durch die ausgezeichnete Bezeugung, für die kein Geringerer als Dr. Liebeault als Beobachter sich einsetzt.

In einer Familie in der Umgebung von Nancy machte im November 1883 eine junge Dame von 18 Jahren, die häufig in somnambulen Schlaf versetzt wurde, bei jeder Sitzung spontan die Angabe, daß eine nahe Verwandte der Familie, die sie

[1] Aus J. Beaumonts World of Spirits. . . bei Welby, Predictions realized in modern times (Lond. 1862) 74ff. Nach Th. Arnolds Übers. (1721) auch bei Hennings 780ff. Vgl. Dr. Geleys Fall ASP XXVI 125ff.
[2] Pr X 333f. Vgl. etwa noch Welby, aaO. 128f. (Ansage des eig. Todes auf Tag und Stunde; Zeugnis Ii a. des Dr. Lavington, spät. Bischof v. Exeter.)


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 439)

nannte und die in keiner Weise krank war, bald sterben, und zwar den 1. Jan. des kommenden Jahres nicht mehr erleben werde. Der Vater der Familie entnahm daraus die Veranlassung, sich um eine beträchtliche Versicherung des Lebens der also Bedrohten zu bemühen.

(Der bezügliche Schriftwechsel, der die Äußerung der Ansage vor ihrem Eintreffen beweist, hatte Liebeault vorgelegen.) Die betreffende Verwandte starb wirklich, und zwar plötzlich, am 31. Dez. [1] - Wir können freilich nur vermuten, daß ihr die Prophezeiung zu Ohren gekommen war, aber gerade das Eintreffen derselben am letzten noch möglichen Tage könnte auf Suggestion und somit auf Bekanntschaft des Opfers mit seinem Todesurteil schließen lassen.

In der Daily Mail vom 31. Okt 1905 findet sich ein Bericht, wonach am letzten Sonnabend vor diesem Datum der Schreiner Henry Malcolm White aus Grangemonth unerwartet in Dunblanc (West-Perthshire) bei seinem Bruder Alexander, einem Maurer, erschienen sei, weil er geträumt, daß A. gestorben sei, und er keine Ruhe gefunden habe, bis er 'kam, um selbst nachzusehen'.

'Der Bruder war damals noch bei guter Gesundheit, wurde aber gestern (d.h. am 30. Okt) krank und starb innerhalb einer Stunde.' [2] Suggestive Wirkung ist natürlich auch hier nicht ausgeschlossen, zumal ein Traum, der einen einfachen Mann zu einer Reise veranlaßt, wohl Eindruck machen kann.

Anderseits vermißt man Angaben, welche die Möglichkeit ausschließen, daß A., der Maurer, trotz angeblicher Gesundheit unbewußt an sich etwas wahrgenommen habe, was ihn zu trüben Ahnungen und ihrer telepathischen Weitergabe hätte veranlassen können.

Der Leser wird je nach bewußten oder unbewußten Denkneigungen entscheiden, was er von all solchen Deutungskünsten halten wolle. Im nächsten Fall indessen wird auch der ausgesprochene Zweifler gewisse unerwartete Einzelheiten entdecken, welche die Naivität der Annahme von Suggestion, deren 'Möglichkeit' auch hier nicht geleugnet werden soll, in einem eigentümlichen Licht erscheinen lassen.

Julia, eine gute Bekannte des namhaften englischen Tagesschriftstellers W.T. Stead, mit welcher dieser nach ihrem Tode in regem mediumistischem Verkehr zu sein glaubte, kündigte eines Tages im Januar 1908 durch die Hand ihres Freundes an, [3] daß M.E., eine Freundin der Julia, die bei Stead arbeitete und etwas leichtfertig war, 'in Jahresfrist bei (ihr) sein werde', er solle daher Geduld mit ihr haben.

Diese Botschaft wurde in den folgenden Monaten hartnäckig wiederholt; aber nichts ließ ihre Bewahrheitung wahrscheinlich erscheinen. Als M.E. im Juli einen Nagel verschluckte und die Ärzte sie schon aufgegeben hatten, schrieb 'Julia': 'Sie wird gesund werden. Sie wird aber am Ende dieses Jahres sterben.'

M.E. genas. Im Dez. erkrankte sie an Influenza, aber die Botschaft kam: 'Sie wird am Ende des Jahres eines unnatürlichen Todes sterben.' Zu Weihnachten meinte Julia: 'Ich kann mich um einige Tage geirrt haben, aber was ich sagte, ist wahr.' Am 10. Jan. schrieb sie: 'Besuchen Sie morgen M.E. und sagen Sie ihr Lebewohl.

Sie werden sie nicht mehr auf Erden sehen.' Drei Tage später stürzte sich M.E. in einem Anfall von Delirium aus dem Fenster und war sofort tot. Stead .besaß die automatischen

[1] Libéault, Thérapeutique suggestive 282 ff.
[2] was seized with ilIness, ohne nähere Angabe. - APS II 322.
[3] Die Glaubwürdigkeit des 'Geistes' als solchen braucht uns natürlich hier nicht zu beschäftigen. 


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 440)

Originalschriften mit den unterschriftlichen Beglaubigungen seiner zwei Sekretäre. [1]

Ich brauche kaum zu sagen, welches die unerwarteten Einzelheiten sind, welche die Seltsamkeit des Falles begründen. Nichts hindert uns, bei einer 'leichtfertigen', vielleicht halb hysterischen jungen Dame Delirium und Selbstmord infolge einer ihr vermutlich bekannt gewordenen Todesansage eintreten zu lassen.

Aber das erklärt nicht die seltsame Sicherheit, mit welcher zweien möglichen, unter den Umständen doch doppelt wahrscheinlichen Todesursachen im voraus jede Bedeutung für den Fall abgesprochen wird.

Dies erweckt in der Tat den Anschein, als liege die übernormale Wurzel des Eintreffens der Ansage wirklich in der Perzipientin (bzw. dem Perzipienten) und nicht in ihrem 'Opfer': als handle es sich in allen drei Fällen um ein Wissen, und nicht in zweien um bloße Einbildung, im dritten um Einwirkung auf eine Andere. [2]

Immerhin ist solche suggestive Einwirkung der Voransage hier wenigstens in einer Hinsicht sogar glaublicher als in den vorangehenden Fällen: sofern nämlich die Erfüllung durch Selbstmord, also eine willkürliche Todesart erfolgte.

In den früheren Fällen blieb die Art der Vollstreckung des angeblichen suggestiven Auftrags durchweg im Dunkeln; wäre uns dagegen die nächste Ursache des Todeseintritts in jedem Falle bekannt, so entstünde die weitere Frage, ob ein solcher Vorgang denn auch wirklich autosuggestiv zu erzeugen sei. Meines Wissens beruhten die einzigen bekannten Fälle willkürlichen, aber nicht gewaltsamen, also von innen erzeugten Todes - des Penthesilea-Todes - auf willkürlichem Anhalten des Herzens. [3]

Unsere Unwissenheit gestattet nicht die Leugnung noch viel weitergehender Möglichkeiten; immerhin sollte, wer sich bei Todesprophezeiungen so geläufig auf Suggestionswirkung beruft, die Verpflichtungen nicht vergessen, die eine solche Annahme seiner physiologischen Leichtgläubigkeit auferlegen könnte.

In den vorstehenden Beispielen habe ich die Alternativdeutung durch autosuggestive Verwirklichung vorgeschlagen, weil die gute Gesundheit des 'Opfers' zur Zeit der Todesansage in jedem Fall entweder ausdrücklich bezeugt wurde oder doch nach dem Wortlaut der Berichte angenommen werden konnte.

Wo wir dagegen Grund .zur Annahme haben, daß zur Zeit der Todesansage sich bereits ein gefährlicher Krankheitszustand anbahnte oder aber in voller Ausbildung (wenn auch unerkannt) bestand, werden wir die andere der beiden erwähnten Deutungen wählen und zunächst geneigt sein, eine zutreffende Vorschau des Todes

[1] Aus Rev. of Rev., Jan. 1909 bei Lombroso 284ff.
[2] Vgl. die Fälle in MES II,1 (1784) 72ff. (aus d. Akten des Obercollegii Medici), und in The Medium and Daybreak v. 4. Dez. 1874, ref. bei Perty, Spir. 289.
[3] Nach Donders: Inhibition der Herzmuskeln durch eine ursprüngl. von d. Kontraktion der Halsmuskeln ausgehende Nervenreizung (bei Ziemssen, Handb. d. spez. Pathol. u. Ther., 2. Aufl., VI 311). Fälle 'willkürI. Sterbens': Dendy 372; PS 1903 42ff.; AR 1898 278; Contempor. Rev. XXIII (1873) 135 (der bekannte Col. Townsend).


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 441)

auf irgendwelche unbewußte, unter Umständen hellsehend erlangte Einsicht in den gefahrdrohenden Zustand des Körpers zurückzuführen. Wir wissen ja, wie häufig anscheinend vollkommene Gesundheit eine innere Gefährdung des Lebens verschleiert und wie oft ein plötzlicher und 'unvorhergesehener' Tod auf Ursachen zurückgeht, deren genaue Kenntnis ihn unter Umständen aufs bestimmteste hätte voraussagen lassen.

Als typisch kann hier G.-C. Ferraris Bericht über eine anscheinend gesunde Person gelten, welche plötzlich ihres unmittelbar bevorstehenden Todes völlig gewiß wird, ihren Strickstrumpf beiseite legt, zur Beichte läuft und in einer Stunde tot ist. Besondere autodiagnostische Gefühle werden nicht erwähnt.

Die ärztliche Nachforschung ergab die Zerreißung eines großen Aneurysma sacciforme, einer sackartigen Blutaderausbuchtung. [1] - Die 'natürlichste' Deutung scheint hier, daß die betreffende Person auf irgendeine Weise - durch innere Hyperästhesie oder meinetwegen Autoskopie - von dem sich (sagen wir) einleitenden Vorgang der inneren Verblutung Kunde erhalten und die äußerste Gefahr, in der sie schwebte, daraus erkannt habe.

Dies setzt zwar bei der offenbar einfachen Person eine um so erstaunlichere prognostische Scharfsicht voraus, als nach medizinischer Erfahrung das Bersten von Aneurysmen nicht immer und noch weniger immer sofort zum Tode führt. Doch mögen wir, im Kampf gegen die Vorahnungen, uns wohl auch dies noch gefallen lassen.

Bei Voransagen des Todes Anderer (nicht des Sehers) kommt dagegen eine Deutung durch zoen- oder hyperästhetische Binnenwahrnehmung natürlich nur dann in Frage, wenn wir diese Annahme durch die weitere Annahme verwickeln, daß das so erlangte Wissen des Todeskandidaten zwar telepathisch einem Fremden, aber nicht normalerweise seinem eigenen Wachbewußtsein zugänglich gemacht worden sei.

Anderseits könnte eine übernormale Deutung - soweit sie wahre Prophetie verwirft – auf hellsehende Körperdurchschauung sowohl seitens des Todgeweihten als auch seitens des Propheten [2] zurückgreifen, wozu im ersten Falle wiederum die Annahme telepathischer Benachrichtigung des Sehers treten müsste. Doch wird man der Einfachheit halber wohl lieber die ganze Leistung, soll sie nun schon einmal das Normale überschreiten, in den Perzipienten selbst verlegen wollen.

Das nachstehende Beispiel berichtet Mrs. Crowe von einem 'Bekannten', H., also zweiter Hand, doch wird es glaubwürdig durch den Umstand, daß das Subjekt, ein im tätigen Leben stehender Geschäftsmann, zweimal auf seinen Traum hin in leicht zu erinnernder Weise handelte. Dieser Traum, welcher ihm einen gewissen Freund gestorben zeigte, 'war so lebendig, daß H., obgleich er nicht den mindesten

[1] RS 4. sér. V (1896) 59. Üb. plötzliche tödliche Perforation seit langem bestehender, beschwerdeloser Aneurysmen s. Strümpell, Lehrb. d. spez. Pathol. u. Ther. 19. Aufl. I 494.
[2] Ein Fall ausdrückl. dieser Art (2. Hand) bei Mirville 57 (aus Dumas' Mémoires XIII): angebl. durch Sektion bestät. Vgl. den o. angel. Fall von Phinuit: Pr XIII 565f. Riechen des 'Todesduftes' (nach G. Jäger zuweilen Wochen vor d. Tode) kommt wohl nur bei gewissen Krankheiten in Frage. (Vgl. über Vorwissen der Hunde vom Tode ihres Herrn, angebl. durch Riechen, PS XVIII 128; XXXII 338f.)


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 442)

Grund hatte, eine Krankheit seines Freundes anzunehmen, nicht umhin konnte, gleich am Morgen Erkundigungen bei ihm einzuziehen. Er erhielt die Antwort, daß Mr. A. ausgegangen und vollkommen gesund sei. Der Eindruck (des Traumes) war jedoch so lebhaft, daß H. außerstande war, eine nötige Geschäftsreise nach Glasgow anzutreten, ohne zuvor nochmals anzufragen, trotzdem sein Bote dazu beinahe (fünf km) zurücklegen mußte.

Diesmal war sein Freund zu Hause und erteilte selbst die Antwort, daß er bei ausgezeichneter Gesundheit sei und irgend jemand H. zum besten gehabt haben müsse. H. verreiste, ohne seine Sorge überwinden zu können, und hörte wenige Tage darauf - 'ich glaube: drei', sagt Mrs. Crowe - bei seiner Heimkehr, daß A. an einem 'Anfall von Entzündung' gestorben sei. [1]

Für das nachstehende Beispiel, dessen Deutbarkeit in bemerkenswerter Weise auf bereits erörterte Begriffe zurückgreift, besitzen wir ebenfalls die ausgezeichnete Bürgschaft Dr. Liebeaults. Dieser wurde am 9. Jan. 1886 von dem jungen M. S. de Ch... zu Rate gezogen, anscheinend wegen unüberwindlicher Angstvorstellungen.

Demselben war am 26. Dezember 1879, im Alter von 19 Jahren, von der berühmten Lenormand vorausgesagt worden, daß er nach Verlauf von genau einem Jahre seinen Vater verlieren, demnächst als Soldat dienen würde, indessen nur kurze Zeit, daß er sich jung verheiraten, zwei Kinder haben und mit 26 Jahren [2] sterben würde.

Diese Prophezeiungen, die er s. Zt. nicht ernst genommen hatte, waren bis auf die letzte vollkommen eingetroffen, und da sein 26. Geburtstag am 4. Februar bevorstand und sein vormaliger Skeptizismus völlig erschüttert war, so bedrückte ihn die Furcht vor dem Eintreffen auch der 5., letzten Vorhersagung.

Da Liébeault den jungen Mann nicht zu hypnotisieren vermochte und eine suggestive Wirkung seiner Angst befürchtete, so schlug er ihm vor, mit ihm zusammen einen seiner Somnambulen aufzusuchen, welcher wegen zweier eingetroffener diagnostischer Voransagen 'der Prophet' genannt wurde. Mit M. de Ch. .. in Rapport gesetzt, erwiderte der Somnambule ihm auf eine bezügliche Frage, daß er noch 41 Jahre zu leben habe. [3]

'Die Wirkung dieser Worte war eine wunderbare, augenblicklich wurde Ch... wieder fröhlich und voll Hoffnung, und als der 4. Febr. überschritten war..., hielt er sich für gerettet. Er starb am 30. Sept. 1886, 'mit 26 Jahren', wie die Lenormand ihm gesagt hatte. [4] -

Der Fall könnte, wie gesagt, in die obige Gruppe der durch Suggestion verwirklichten Scheinprophezeiungen zu fallen scheinen, ließe sich doch annehmen, daß die Ausrottung der verhängnisvollen Einbildung nur eine oberflächliche gewesen sei, daß diese unbewußt fortgewirkt habe oder daß sie, was der Bericht freilich verschweigt, von neuem bewußt aufgetreten sei.

Aber das hieße übersehen, daß die Ansage, nachdem sie zuerst verlacht worden, nur dadurch zur Suggestion wurde, daß der größere Teil ihres Inhalts bereits in Erfüllung gegangen war. Können aber diese erfüllten Ansagen z. T. auf Rechnung von diagnostischer Durchschauung gesetzt werden (wie der Tod des Vaters und die 'nur kurze Dienstzeit', die sogar aus der normalen Wahrnehmung schwächlicher Konstitution gefolgert worden sein mag), so könnte es naheliegen, auch den Rest (bis auf die banalen 'zwei Kinder') demselben Gesichtspunkt unterzuordnen.

[1] was very well;... inflammation. - Crowe 58.
[2] à vingt-six ans.
[3] Soupçonnant le trouble de ce jeune homme, sagt Liébeault. Sprach etwa dieser 'Seher' nicht aus, was er zu wissen glaubte?
[4] Pr XI 528f.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 443)

Aber auch der Deutung durch Hellsehen erwachsen bald Schwierigkeiten, die man als um so gewichtiger einschätzen wird, je vorurteilsloser man sie betrachtet. Es könnte nämlich zwar eine sehr genaue Einsicht in die krankhaften Veränderungen eines Körperinnern, verbunden mit außerordentlichem medizinischem Wissen (!), wahrscheinlich in allen Fällen die verbleibende Lebensdauer ungefähr einschätzen; aber selbst die außerordentlichste, nur eben noch 'endliche' Wissenschaft dürfte außerstande sein, den nicht unmittelbar bevorstehenden Tod auf den Tag zu bestimmen.

Gerade ein solches Vorhersagen des Hingangs nach Daten ist aber typisch für eine umfangreiche Gruppe von Todesankündigungen. - Bei der Wichtigkeit dieses Umstandes mögen mehrere Beispiele erlaubt sein.

Großes Aufsehen und heftige Erörterungen erregte s. Zt. die Voransage des Todes König Friedrichs von Württemberg i. J.1816 durch zwei Somnambule, die Krämer und die Wanner, die in Dr. Nicks und Dr. Kleins Behandlung waren. Die letztere hatte bereits vier Jahre zuvor das Todesjahr des Königs bezeichnet, seinen Tod aber zwischen den 18. und 20. April verlegt; später setzte sie dafür den Oktober ein.

Die Krämer bestimmte am 17. April 1816 den 28. Oktober als den Tag, an welchem den König ein 'Kopf- und Brustschlag' treffen würde; Ende Oktober 'sehe sie ihn nicht mehr unter den Lebenden'. Diese Voraussagungen im 'magnetischen Schlafe' waren in Gegenwart u. a. des Ministers von Wangenheim, des Hofkaplans Harprecht, des Grafen von Gräveniz, des Prof. von Eschenmayer, des Dr. Lebret, Dr. Sturm, Dr. Klein gemacht worden. Wetten wurden entsprechend angeboten und gewonnen.

Der König starb am 30. Oktober nach einer Unpäßlichkeit von wenigen Tagen. Vor dem 28. traten Brustkrämpfe ein, die in der Nacht auf diesen Tag (27./28.) sehr heftig wurden und am Morgen des 28. Lungenlähmung herbeigeführt hatten - 'Brustschlag' nach der volkstümlichen Ausdrucksweise. 'Kopfschlag' weist der Krankenbericht nicht ausdrücklich nach. [1]

Der folgende Bericht stammt von M. Henri Buisson, einem Journalisten. - 'Am 8. Juni 1887', schreibt er, 'sah ich meine Großmutter tot auf ihrem Bette ausgestreckt, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, als wenn sie schliefe. Über dem Kopfende ihres Bettes schien eine strahlende Sonne.

Im Mittelpunkt dieser Sonne las ich deutlich das Datum 8. Juni 1888, wobei Tag und Monat über die Jahreszahl gestellt waren. .. Am nächsten Tage... erzählte ich (diesen albdruckartigen Traum) meiner Mutter... (und diese) machte sich eine entsprechende Eintragung; mein Bruder und Schwester sahen diese Notiz, und danach sprach meine Mutter oft von ihr.

Ein Jahr später, am 8. Juni 1888, starb meine Großmutter nach einem Unwohlsein von einer Viertelstunde. Was mir auffiel, war die Ruhe ihres Gesichtsausdruckes, er war so friedlich, wie ich ihn ein Jahr zuvor in meinem Traum beobachtet hatte.' [2]

[1] ATM I, 1; III, I; XII, 2 (auch Perty, M. E. I 238f. u. sonst). Daß der König um die Proph. gewußt, sie also als Suggest. habe wirken können, läßt nichts annehmen. - Ganz ähnlich Dr. Testes Fall bei Richet 274. Vgl. auch Flournoys Fall in APs IV (1905) 57ff. und seine Verteidigung das. 226f., sowie Dr. Suddicks Fall in Pr XI 432ff.
[2] APS VI (1907) 207f. Üb. die gemachte Eintragung liegen Zeugnisse von Mutter und Geschwistern vor. - Eine Heiratsansage mit gesehener Datierung ('in 3 Jahren 4 Monaten 2 Tagen') s. bei Perty. M.E. II 287.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 444)

Das dritte Beispiel stammt von Mrs. Henry-Anderson, und ich führe es trotz seiner ganz ungenügenden Bewiesenheit an, weil es die hier fragliche Gruppe in besonders anschaulicher Form vertritt.

Am 10. eines gewissen Monats sieht sich die Perzipientin im Traum vor einem Landsitz im Tudor-Stil, geht hinein, ersteigt eine Wendeltreppe, betritt ein sonniges Zimmer und sieht auf einem Sofa (wie sie glaubt) eine Freundin mit todbleichem Gesicht ausgestreckt, über die sich eine Krankenschwester beugt, die sie mit den Worten anblickt: 0, dies ist der Tod.

'Und hinter mir hörte ich eine Stimme dreimal sagen: am siebzehnten.' Der Traum erregte sie so stark, daß sie ihn nicht nur mehreren Personen erzählte, sondern auch trotz großer Unbequemlichkeit eine 150 km weite Reise zu der vermeintlich gesehenen Freundin machte.

Am 17. des nächsten Monats starb die Schwester der vermeintlich Gesehenen, die dieser sehr ähnelte: nur ihre Gesichtsfarbe war verschieden: die vermeintlich Gesehene war von rahm-weißer Blässe; Betty, die Schwester, rosig. Es liegt also nahe zu vermuten, daß in der Tat Betty gesehen, aber wegen ihrer 'Todesblässe' mit der von Natur blassen Schwester verwechselt wurde.

Eine Krankenschwester war bei dem Tode Bettys wirklich zugegen, der auch in einem Tudor-Hause erfolgte, und zwar ganz unerwartet auf einem Sofa; auch die Richtigkeit der übrigen Einzelheiten des Zimmers, selbst des Sonnenscheins, behauptet die Perzipientin nach glaubwürdigen Angaben Anderer. [1]

Ich führe endlich noch einen Bericht des Herrn J. F. Edisbury an, zwar lange Jahre nach dem Ereignis abgefaßt, aber angesichts deren Eigenart offenbar doch nicht ohne Vertrauenswürdigkeit. - 'Im Jahre 1859 lebte ich als Studierender bei einem Arzte.

In der Nacht des 9. Juni jenes Jahres hatte ich einen Traum, an dessen Einzelheiten ich mich nach dem Erwachen am Morgen nicht erinnern konnte, doch war das Datum (das darin vorkam), der 9. Juni 1864, meinem Gedächtnis tief eingeprägt. Ich ging ins Operationszimmer, erzählte dem Assistenten meinen Traum und sagte:

Schauen Sie her, ich will das Datum auf das Unterteil dieses Kaminsimses schreiben: '9. Juni 1864. J. F. E.' Und wenn Sie (dann) noch hier sind, sollen Sie sehen, daß an diesem Tage ich sterbe oder ein Unglück mich treffen wird... Im Juni 1863 heiratete ich und am 9. Juni 1864 starb meine Frau, und erst am Abend dieses Tages kam mir wieder die Erinnerung an meinen Traum. ..

Gegen Ende jenes Monats nahm ich zwei alte Freunde nach dem Operationssaal, und da stand meine Aufzeichnung: 9. Juni 1864. J. F. E. [2]  

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß in dem ersten dieser Beispiele die Natur der Krankheit (Arteriosklerose) eine Todesansage auf den Tag für menschliches Wissen sicherlich unmöglich machte, während im zweiten Falle die Krankheit nach den Angaben des Berichtes zur Zeit der Voransage überhaupt noch nicht begonnen hatte.

Schon damit ist der hier vorgeschlagene Ausweg einer Deutung durch übernormale Körpereinsicht und daraus gezogene Schlüsse uns offenbar abgeschnitten. Aber nicht nur die sonderbar genaue Datiertheit der Ahnungen ist es, was den Eindruck erweckt, als würde hier überhaupt gar nichts 'erschlossen', vielmehr etwas unmittelbar in-der-Zukunft-gesehen; [3] sondern mehr

[1] OR 1905 I 138f.
[2] Pr V 318. Vgl. Mrs. M. Smiths Fall das. 319. Weitere Ahnungen des Todes Anderer mit Datumsangabe: ÜW VII 30; JSPR XII 340f.
[3] I cannot see, von etwas Künftigem: PrXX 211. 213 oben; XXI 311 u. 320. 326ff.


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 445)

noch die wirklichkeitsgetreue Bildhaftigkeit, in welcher die äußere Inszenierung des Todesfalles (im Unterschiede von seiner inneren Verursachung) geschaut wird. Dagegen fehlt dasjenige Bild völlig, das der Voraussetzung nach doch die meiste Aussicht hätte, dem Seher zu erscheinen: nämlich ein Anblick des krankhaften innern Zustandes des Todgeweihten, und selbst abstrakt gefaßte Andeutungen der Todesursache sind nur in einem Fall gegeben, und tatsächlich in solchen Fällen äußerst selten.

Wir finden hier also in reinster Form - nur eben in Anwendung auf die Zukunft - jenen Typ des Sehens verwirklicht, dessen Anwendung in der Rückschau uns die Frage beantwortete, ob denn wohl im Hellsehen Wirkliches unmittelbar wahrgenommen oder aber nur bildhaft dargestellt werde.

Auch die Leistung des Propheten stellt sich eben häufig nicht als ein mühseliges Erschließen aus irgendwelchen übernormal bemerkten Tatsachen dar, sondern als ein unmittelbares Schauen von Vorgängen, die einmal sein werden.

Die Vorahnung des Todes Fremder braucht dementsprechend nicht einmal das eigentliche Sterben abzubilden, sondern kann z.B. eine beliebige Szene aus dem Verlauf der Krankheit oder der Behandlung des Leichnams enthalten.

Ein Beispiel für das erstere scheint mir ein Gesicht zu geben, in welchem die Herzogin von Hamilton 1882, im 'Halbschlaf' nach eben beendeter Schlummerlektüre und mit mehrmals willkürlich geöffneten und geschlossenen Augen, wie eine 'Bühnenszene' das folgende sah:

Lord L. (den sie nur von Ansehen kannte, für den sie sich in keiner Weise interessierte und von dessen Krankheit sie nichts gehört hatte), 'in einem Stuhl, wie von einem Anfall übermannt, und einen Mann über ihn gebeugt dastehend, mit einem roten Bart. (Lord L.) saß neben einer Badewanne, über welcher eine rote Lampe deutlich sichtbar war'.

Diese 'ganz außerordentliche Vision' erzählte die Herzogin am Morgen nach dem Gesicht ihrem Vater, dem Herzog von Manchester, sowie einem andern Herrn (der dies mündlich Myers berichtete), und kurz darauf auch dem Lord L. behandelnden Arzte, A. Cooper, der ihr daraufhin die Krankheit des Lord als geringfügig bezeichnete und seine rascheste Heilung vorhersagte.

Eine Woche danach war der Kranke 'fast gesund', aber sechs oder sieben Tage später wurde Cooper plötzlich zu ihm beschieden: es war beiderseits Lungenentzündung eingetreten. 'In sechs Tagen war er tot. Zwei Krankenpfleger warteten ihm auf; einer war erkrankt.

Aber als ich den andern sah', bezeugt Cooper, 'hatte ich ein genaues Abbild des Traumes der Herzogin (vor mir). Er stand in der Nähe einer Badewanne über den Earl (gebeugt) und – seltsam - sein Bart war rot. Daneben war (auch) die Badewanne mit der ganz ungewöhnlichen roten Lampe darüber.' [1]

Diese realistische Bildhaftigkeit charakterisiert bekanntlich häufig auch jene Todesvorschau, die uns die Volkskunde unter dem Namen des 'zweiten Gesichts', der Späukenkiekerei u.dgl. als geradezu endemisch, oder doch

[1] Pr Xl 505f. (Bericht v. J. 1888, gezeichnet von Cooper u. d. Herzogin v. Hamilton, 'revised' vom Herzog von Manchester). Vgl. den überhaupt sehr bemerkenswerten Fall Pr V 322f.; Crowe 41; PS XLVIII 481f. und Mrs. Morrisons Fall ASP XVIII 712.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 446)

als Gabe sehr zahlreicher Personen in gewissen Landstrichen kennenlehrt. [1] Hier wird in solchen Fällen nicht das Sterben, sondern z.B. das Begräbnis geschaut, [2] oder das Hereintragen des Sarges, oft verbunden mit später eintreffenden seltsamen Einzelheiten des Vorgangs. [3]

Ebenso häufig, wenn nicht noch häufiger ist allerdings ein bloßes Erschauen der Tatsache des Einzeltodes in einer symbolischen Form, die von Ort zu Ort oder von Person zu Person wechselnd bestimmt ist: z.B. hätten die schottischen Seher des second sight den Todgeweihten vielfach in ein Leichentuch gehüllt gesehen, dessen verschieden hohes Hinaufreichen an seiner Person die Länge der Zeit andeutete, die ihm noch zu leben verblieb. [4]

Ich verzichte indessen auf Wiedergabe von Beispielen dieser ethnologischen Herkunft, deren Beweiskraft im Einzelnen fast durchgehends gleich null ist, während sie im Zusammenhang mit wohlverbürgten Fällen der Einzelbeobachtung immerhin schon durch ihre Massenhaftigkeit Eindruck machen.

Wird dies aber billigerweise zugestanden, so tragen auch sie zur Stärkung der Erkenntnis bei, daß der Todseher es gar nicht (wie die Deutung durch Hellsehen uns glauben machen will) mit organischen Todesursachen zu tun hat, sondern mit der abstrakten Tatsache des bevorstehenden Sterbens einer bestimmten Person, oder allenfalls mit Szenen, die im Zusammenhang damit sich einem äußeren Zuschauer darbieten werden.

Ich gebe noch einen Fall dieser Art aus der Einzelbeobachtung der neueren Zeit, enthalten in einem Briefe des baptistischen Geistlichen James Hughes in Kimberley (Südafrika) an W.T. Stead, datiert d. 6. Febr. 1892, dessen wesentlichen Inhalt ich zusammenfasse:

Am Morgen des 21. Mai 1891, zwischen 7 und 9, träumte James Denyer, ein 25jähriger Mann, 'gesund, kräftig und von tadellosem Rufe', Aufseher in den De Beers-Minen in Kimberley, daß er im Wohnzimmer seines Bruders, des Rev. Ch. Denyer in Cradock wäre und schwere Fußtritte von Männern sich nähern hörte, daß er auf die Diele hinausträte und dort seinen Bruder auf einer Bahre hereintragen sähe.

Dieser Traum wiederholte sich am Morgen des 22. Mai, mit Hinzufügung des Umstandes, daß der Träumende sich in des Bruders Studierzimmer jenseits der Diele begäbe und dort seinen Bruder im Sarge aufgebahrt erblickte.

Am Morgen des 23. endlich träumte er, daß Tausende vor seines Bruders Hause ständen und ein Leichenzug das Haus verließe, worin er das einzige leidtragende Familienmitglied wäre, woran sich der Trauergottesdienst und die Beerdigung auf einem Friedhof schloß, den der Träumende 'wiedererkannte'.

Diese Träume wurden erzählt, bevor James D. vom Tode seines Bruders hörte, der am Morgen

[1] S. Martin. Zahlreiche Ermittelungen auch in Dr. Johnsons Journey to the West. Islands of Scotland (Lond. 1775). S. ferner ÜW IX 33ff. (Weber Mewes in Netzdorf); PS XXIII 70ff. (Boy Johannsen in Niebüll); Geh. Hofrat Enderlins Manuskr. (Karlsruhe 1783) bei Fr. Giehnke, Skizzen u. Studien (Würzburg 1871) 57ff.
[2] S. z.B. PS IX 226.
[3] Vgl. Jung, Theorie 178 (Transport der Leiche auf ochsengezogenem Schlitten, verwirklicht durch späteren Schneefall und Requirierung der Pferde durch Truppen); ferner Steinbeck 440f. (auch bei Horst, Deut. I 140); ATM VIII, 3 100f. - Bezeichnenderweise auch in arrival-cases: z.B. Gumey I 515.
[4] Vgl. du PreI, Entd. II 110f. Ähnlich: Jung, Theorie 183; Abercrombie 370; ÜW X 330; PS XXIII 215; de Ferriem 71. 72; Bormann 153; Horst, Deut. I 134 (sich selbst im Sarge sehen); Zurbonsen 48f.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 447)

des 23. auf einem Amtsgang plötzlich auf der Straße verstarb (34 Jahre alt). Alle beschriebenen Einzelheiten der Träume sollen sich 'genau' erfüllt haben; doch haben wir hierfür nur Pastor Hughes' Zeugnis zweiter Hand.

Immerhin erscheint gesichert, daß drei bildhafte Träume dem unerwarteten Todesfall vorausgingen. Der Brief enthält überdies die Angabe, daß James D. 'von seinem verstorbenen Bruder über einen Monat lang nicht (brieflich) gehört und nicht den geringsten Grund zur Annahme hatte, daß dieser nicht noch viele Jahre leben würde'. [1]

Ob dies nun heißen soll oder nicht, daß Pastor Denyer sich in vollkommener Gesundheit befand, jedenfalls macht es uns nochmals darauf aufmerksam, daß die Deutung der Todesansage aus 'diagnostischen Schlüssen' schließlich dort eine Grenze finden muß, wo selbst eine hellsichtige Durchschauung des ganzen Organismus nichts zu erschließen fände,

weil der Betreffende zur Zeit der Ansage nach menschlichem Ermessen überhaupt noch völlig gesund ist, indem der spätere Tod entweder durch eine infektiöse, also gewissermaßen zufällige Krankheit herbeigeführt wird (deren äußerste Inkubationsdauer geringer ist als der Abstand zwischen Ansage und Tod);

oder durch ein organisches Leiden, das zur Zeit der Ansage sicherlich noch nicht merklich im Anzuge war oder das einen so langwierigen Verlauf besitzt, daß eine Ansage seines tödlichen Ausgangs auf den Monat oder gar auf Tag und Stunde gänzlich außerhalb der Leistungsfähigkeit auch der umfassendsten menschlichen Einsicht in den Organismus gelegen wäre. [2]

Auch wird in Fällen von Tod durch infektiöse Krankheiten [3] sicherlich nur eine geradezu verzweifelte Skepsis sich darauf berufen, daß eine Voransage desselben sich auf die Wahrnehmung jener erworbenen oder ererbten konstitutionellen Disposition gegründet habe, wie sie ja die Pathologie in gewissem Umfang auch für ansteckende Krankheiten annimmt.. .

Aber selbst dieser entschlossene Zweifel muß verstummen gegenüber Todesansagen, die überhaupt nicht mehr aus dem Innern des Organismus heraus verwirklicht werden, sondern völlig von außen her, sei es durch Unglücksfälle oder Mordanfälle oder Duelle u. dgl. m., die sämtlich zur Zeit der Ansage weder in der Natur in durchschaubarer Weise vorbereitet noch von Menschen geplant waren.

Solche Voransagen eines gewissermaßen zufälligen Todes - zufällig in dem Sinne, daß die Kenntnis seiner Ursachen nur einer 'unendlichen' Einsicht verdankt werden könnte - unterscheiden sich gleichwohl in der Art ihres Auftretens in

[1] Aus Rev. of Rev. bei R. Pike, Lifes Borderland and beyond (Lond. o. J) 105ff. - 'Wiedererkannte' - recognized; kann auch heißen sollen: 'sich deutlich merkte'.
[2] Vgl. Jean   Pauls Tagebuch v. 15. Nov. 1790; E. M. Arndts Gesicht, seinen Tod 'im 91. Lebensjahr' ansagend, 20 Jahre vor seinem Ende: Deutsche Revue XVI, 2 (1891) 58 (H. v. Bunsen); Prof. Mayers Fall in MES V, I 105; Konsistorialrat Bernhardis Fall in PS 67 (J. H. Fichte).
[3] S. ÜW X 327f. (Chemiker J. Meyer über einen Todesfall infolge Diphtherie außerhalb e. Epidemie; Pat. z. Zt. der Ansage 'bei ungewöhnlich guter Gesundheit und Kraft'). Ein Beispiel der ersten Gattung s. in PS XVI 17ff.


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 448)

nichts von denen, deren mögliche Wegdeutungen bisher erwogen wurden. Ihrer Natur entsprechend aber wird es auch gleichgültig, ob sie in der Form von Ansagen des eigenen oder eines fremden Todes auftreten.

Von der letzteren Art will ich zunächst, gewissermaßen als stimmungmachende Einleitung, drei Fälle anführen, die zwar den höchsten Ansprüchen an Überzeugungskraft nicht genügen mögen, aber doch helfen, das Bild der 'Gattung’ abzurunden.

Im ersten von diesen mag der entschlossene Zweifler die Ansage als einen Glückstreffer der gewerbsmäßigen Hellseherin ansehen, wenn auch gewisse ihrer Äußerungen nicht verfehlen dürften, auf den Unbefangenen Eindruck zu machen.

Mrs. P. wurde in Boston von einer Freundin zu einem hellsehenden Medium geführt. 'Obgleich ich erst am Tage vorher in Boston angekommen war, erkannten ihre 'Führer' augenblicklich, daß ich über das Wasser käme, und eröffneten nicht nur mein vergangenes Leben, sondern ein gutes Stück der Zukunft.

Sie sagten, ich hätte ein Bild meiner Familie bei mir, und als ich es hervorholte, sagte mir das Medium (im Trans), daß zwei meiner Kinder in der Geisterwelt seien, und indem sie auf einen Sohn in der Gruppe wies: Dieser wird bald drüben sein, er wird plötzlich sterben, aber Sie müssen ihn nicht beweinen, er wird vor dem Übel, das ihm bevorstände, weggenommen.

Es nicht oft erlaubt, diese Dinge zu sagen, aber wir sehen, daß es das beste für Sie ist, damit Sie wissen, daß es kein Zufall ist. Ich war erst wenige Wochen wieder zu Hause, als mein Sohn, ein wackerer Bursch von 17 Jahren, im Fußballspiel getötet wurde.' [1]

Der nächste Fall hat den Vorzug (der allerdings auch verschieden eingeschätzt werden wird), von dem jüngeren Fichte gesammelt und mitgeteilt zu sein, ein Zweifel wird sich allenfalls auf die ganz willkürliche Vermutung nachträglich zurechtgestutzter Ähnlichkeit zwischen Wahrtraum und Todesursache berufen.

Fräulein Vaihinger träumte im Spätherbst 1874, sie sähe den Sohn eines in Stuttgart wohnenden Verwandten, einen Knaben von etwa 14 Jahren, der den einen Daumen emporstreckte und dann von diesem Daumen aus starb.

Sie erzählte diesen Traum mehreren Bekannten, die denselben 'toll wie man nur träumen kann' fanden. Aber nach wenigen Tagen kam der Junge einem Maschinenrade zu nahe, wurde von diesem schwer am Daumen verletzt und starb. [2]

Ein anderer, noch älterer Fall, den ich bloß in den Hauptzügen zusammenfassen will, bezieht, was er an Überzeugungskraft hat, großenteils aus dem seltsamen Ineinandergreifen zweier Vorahnungen, darunter eine von großer Verwickeltheit.

Der erste Perzipient, ein Pfarrer (dessen Name nicht genannt wird), gewann eine so starke Gewißheit seines drohenden Todes, daß er einem Freunde, dem Pfarrer Ulrici, seinen 'Leichentext' und die Angaben zu einem Nachruf überbrachte und während vier Wochen sein Ende als nahe bevorstehend bezeichnete. Am Ende dieser

[1] Podmore, Stud. 349 (auch Pr V 311). Vgl. Prof. Richets Fall: Richet 281.
[2] Perty, Spir. 292.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 449)

Zeit träumte Pfarrer Ulrici morgens um 6 Uhr unter Tränen, daß sein Freund von scheu gewordenen Kutschpferden aus dem Wagen geschleudert und sein Kopf an einer Fichte zerschmettert würde, daß er (Ulrici) das Sterbehaus beträte, dort zahlreiche Menschen versammelt fände usw. Alles dies traf am Nachmittag desselben Tages um 5 Uhr ein.

Ulrici wurde von der Magd des Freundes unter einem Vorwande ins Trauerhaus geholt, und während der Anwesenheit daselbst und des Berichtes - sagt er - 'schauderte mir die Haut vor jedem neuen Auftritt, den ich immer schon vorher wußte und der meiner Frau aus meinem erzählten Traum auch schon bekannt war, da nicht einmal eine Veränderung des Anzugs von mehr als hundert Personen anzutreffen war. . . ' [1]  -

Auch wenn man die letzte Versicherung billig in Frage zieht, wird man es schwer finden, die geschlossene Masse leicht zu erinnernder Tatsachen beiseite zu schieben, bestehend in der wochenlang fortgesetzten Todesansage eines Befreundeten, der dem überlebenden Berichterstatter seine eigene Leichenrede aufnötigt;

in einem dramatischen Traum, der zu sofortigem Erzählen drängt, und einem mit wachsendem Grauen erlebten Übereinstimmen von Ereignissen mit diesem Traum, zum mindesten doch in groben Zügen.

Diese, wie auch die zeitliche Übereinstimmung widersprechen dem Bedenken, daß Pfarrer Ulricis Traum eben durch die Ahnungen seines Freundes veranlaßt sein möchte, wobei doch diese bestimmten Ahnungen selbst noch zu erklären wären.

Die drei demnächst anzuführenden Fälle, die diese Gruppe abschließen mögen, wird man als außerordentlich bezeichnen dürfen, nicht nur hinsichtlich der Beglaubigung der Tatsachen an sich, sondern auch bezüglich der Eindringlichkeit, womit solche Vorfälle, soweit beglaubigt, für ein wirkliches Vorherwissen des 'Zufälligen' sprechen.

Ich persönlich muß gestehen, daß eine kleine Anzahl solcher Fälle mir genügend erscheinen will, die Frage der Prophetie im bejahenden Sinne zu lösen. - Der zunächst wiederzugebende Fall, von Prof. William James und Dr. Hodgson untersucht, gewinnt, gleich dem zuletzt angeführten, noch ferner an Überzeugungskraft durch Kollektivität, d.i. Verteilung der übernormalen Wahrnehmung auf mehr als einen Perzipienten.

Der erste von diesen, Mr. T.F. Ivey, bezeichnet sich in seiner schriftlichen Aussage als vollständig gesund, nicht abergläubisch, keinen Sinnestäuschungen unterworfen und von Natur lebhaft und hochgestimmt.

Sein 18jähriger Sohn hatte eine Stellung in einer Drogenhandlung einer benachbarten Grafschaft angenommen, und der Vater ließ ihn vollkommen willig ziehen, ohne sich die geringsten Sorgen um ihn zu machen. 'Vergangenen Herbst', schreibt Mr. Ivey am 1. Febr. 1894, 'fing ich an, in einer unbestimmten und unbeschreiblichen Weise mir wegen meines Sohnes Gedanken zu machen.

Ich kann nicht sagen, daß ich unruhig war, nur unzufrieden, ohne zu wissen warum.' Er schrieb häufigere Briefe, der Sohn kam zu Besuch nach Hause, und nach seiner Abreise vermehrte sich die Unruhe.

'Es war, als ob das Licht aus meinem Leben gewichen und das Leben zwecklos und leer geworden wäre. Ein Gewicht, wie das von einem Mühlstein, schien mir mein Leben zu erdrücken. . . Im Dezember wurde dies Gefühl noch heftiger und

[1] MES III, I 47; vgl. die beiden Fälle ASP II 323. und Dr. Wiltses bemerkenswertes Gesicht Pr XI 573ff.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 450)

irgendwie schien mein Sohn der Mittelpunkt von alledem zu sein. Nachts erwachte ich beständig mit Gedanken an ihn und. . . konnte nicht schlafen. Am Morgen des 17. Dezember erwachte ich einige Zeit vor Tage. Ich hatte das Gefühl, in eine Krise eingetreten zu sein.

Ich stand auf, zündete ein Feuer an... und setzte mich davor nieder, um nachzudenken. Ich kann das entsetzliche Gewicht nicht beschreiben, das mich bedrückte. . .' Am Morgen berichtete ihm seine Frau, sie habe ihn im Traum an einem fremden Ort inmitten einer zahlreichen Familie gesehen, die sehr zutunlich gewesen, bis er - dies, wie man sehen wird, offenbar ein Mißverstehen des Gesehenen - plötzlich hingesunken und gestorben sei.

'Ich erwiderte, daß ich mich so elend fühlte, daß ich wünschte, der Traum wäre wahr, ich wäre so besorgt um Walter, daß mir das Leben zur Last würde.' Nach dem Frühstück ließ er die Tochter dem Sohne schreiben, er solle sofort nach Hause kommen, und den Brief mit dem ersten Zuge abgehen.

Er ritt aus, erhielt um 12 Uhr mittags eine Botschaft, daß der Sohn schwer verletzt und bewußtlos wäre, und fuhr sofort auf einem Güterzuge hin. Der Verunglückte war in das Haus guter Freunde gebracht worden, deren Tochter er seit langem besuchte und die sehr an ihm hingen.

Die Mutter, welche nachgefahren kam, behauptet, dieses Zimmer und diese Leute in ihrem Traum gesehen zu haben, selbst die Gegend umher glaubte sie zu erkennen. Auch daß 'der Vater bereits anwesend war, sie aber im Wagen nachkam’ hatte ihr Traum enthalten. -

Das Gefühl der Bedrückung war von diesem Tage an bei Herrn Ivey gänzlich verschwunden. Die Trauer, die er über den Tod des Sohnes empfand, war 'ein völlig anderes Gefühl'. Das Unglück war dadurch geschehen, daß Pferde durchgegangen waren und den jungen Mann an einen Baum geworfen hatten. [1]

An Erinnerungsverfälschung der nur wenig zurückliegenden Tatsachen ist hier im Ernst nicht zu denken.

Eine durch mehrere Monate sich steigernde Unruhe, die zur Heimberufung des Gegenstandes dieser Unruhe führt an eben dem Tage, da ein tödliches Unglück die Heimkehr vereitelt, ist ein massiger Tatsachenzusammenhang,

der durch eines Zeugen Mund genügend verbürgt wäre, auch wenn wir nicht die schriftliche Aussage einer zweiten Perzipientin besäßen und der Hauptperzipient durch seine Aussage selbst uns an weitere Zeugen verwiese, denen er von seinen Gefühlen noch am Morgen des verhängnisvollen Tages gesprochen hatte.

Im folgenden Fall ist die Zahl der Nebenzeugen, deren schriftliche und mündliche Aussagen wir besitzen, noch größer, und die Tatsache der mehrfachen Äußerung des Tod verkündenden Gesichtes ist so sicher festgestellt, als nur je vor gewissenhaften Richtern eine nicht ganz 5 1/2 Jahre zurückliegende Tatsache festgestellt worden ist.

Ich fasse zunächst den entscheidenden Hergang nach den mir selbst gegebenen mündlichen Auskünften der Perzipientin zusammen, Frl. Frieda Gentes in Berlin, bekannt als 'Traumzeichnerin' und Hellsehende.

Am 26. Sept. 1907 gegen 10 Uhr vormittags war Fräulein G. in der Hinterstube ihres Ladens in der Alexanderstraße unter den Händen ihrer Friseuse (sie ist durch

[1] Pr XI 509ff. Vgl. den z. T, ähnlichen, glaubhaften Fall bei Werner 89ff. und vielleicht den von Prof. Hyslop verbürgten bei Richet 290f.


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Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 451)

ein körperliches Übel zu dieser täglichen Hilfeleistung gezwungen), als sie plötzlich visionär ihre Schwester EIsa vor sich stehen sah 'mit zur Hälfte blauem Gesicht' (in ihrem schauenden Leben ein persönliches stehendes Symbol für den nahebevorstehenden Tod der gesehenen Person), worauf sie, nach ihrem eigenen Ausdruck, 'eine ganze Weile wie trunken', nach dem Zeugnis aller Beteiligten in höchster Erregung war.

Sie erklärte ihrer Stiefschwester Emmi Scholz, die einen freien Tag bei ihr verbrachte und im Begriff gewesen war, mit ihr einen Pflaumenkuchen zu backen, ausdrücklich, daß die Schwester EIsa sterben werde, schickte die Friseuse unverrichteter Dinge fort, und zwar, da diese wiederkehrte, noch zweimal, und veranlaßte ihre in der Blücherstraße lebende Mutter, ein zweites Mal an diesem Tage nach dem Kaufhaus des Westens zu fahren, wo die vollständig gesunde EIsa Gentes angestellt war, um nach dieser zu sehen.

EIsa G. kam bei dem bekannten Hochbahnunglück am Gleisdreieck ums Leben, welches am selben Tage gegen [2] Uhr stattfand. Daß das Vorgesicht mehrere Stunden vor diesem Zeitpunkt geäußert wurde, ist erstens durch die Anwesenheit der Friseuse erwiesen, welche täglich zwischen ½ 10 und 10 zu kommen pflegte [1],

sodann bezeugt unabhängig davon die Schwester Emmi Scholz u.a. das Gesicht und die sehr erregte und immer wiederholte Todesansage mit der Angabe: 'es mag zwischen 10 und 11 gewesen sein'; endlich bezeugt, gleichfalls völlig unabhängig,

Fräulein Gentes' Stiefbruder Hermann Scholz, ein ordentlicher und gewissenhafter junger Mann, der z. Zt. als Aufzugsbediener in der Leinenfabrik von A. Samulon in der Magazinstraße angestellt war und täglich zum Mittagessen zur Schwester nach der Alexanderstraße kam, daß er an jenem Tage die Schwester 'fürchterlich erregt' vorgefunden habe: 'sie war zu unruhig, auch nur einen Augenblick zu sitzen, sondern lief fortwährend umher, aus dem Laden hinaus und wieder herein, während der Schweiß ihr vom Gesicht herablief.

Sie weinte und sagte mir, ich solle (in die Blücherstraße) gehen und zusehen, was geschehen sei. . .' Ganz abgesehen von den sehr bestimmten Aussagen dieses Zeugen, ließ sich durch die Firma, bei der er diente, feststellen, daß Hermann Scholz an jenem Tage unmittelbar nach 1 Uhr bei der Schwester eingetroffen sein und sie spätestens vor 1:30 verlassen haben mußte.

Weitere Bestätigungen von Einzelheiten kommen von Herrn Weingärtner, dem damaligen Bräutigam, und von Frau Scholz, der Mutter der Perzipientin. Es mag hinzugefügt werden, daß EIsa Gentes die verhängnisvolle Fahrt antrat, obwohl sie am Morgen des 26. aufgefordert worden war, häuslicher Umstände wegen an diesem Tage nicht, wie sonst täglich, zum Mittagessen nach der Wohnung der Mutter in der Blücherstraße zu fahren. [2]

Ein ähnliches gut verbürgtes Vorschauerlebnis, das überdies Bestandteile von Szenerie und Einfühlung aufwies, berichtete der Literaturhistoriker Dr. R. Schwinger in Heidelberg unterm 17. Oktober 1900 Herrn Dr. W. Bormann.

'Fräulein -m- hatte am Freitag, 5. Okt., früh morgens in halbwachem Zustande die dumpfe, immer wiederkehrende Empfindung, es seien ihr bei einem Eisenbahnunglück die beiden Beine abgefahren, sie sah neben sich beständig ein großes schwarzes Tor und es war Sonntag. Am Samstag erzählte uns Fräulein -m-

[1] Diese Person selbst ist nicht mehr aufzufinden gewesen.
[2] Ausführl. Bericht von mir in JSPR XVI 217-23.


Kap XLII. Vorschau des angeblich Ableitbaren.                 (S. 452)

von jener beängstigenden Vorstellung und berichtete uns auch, daß sie infolge davon die Einladung einer Freundin, mit der Bergbahn zum Schloß zu fahren, abgelehnt habe. Zwei Tage nach jenem Gesicht, am Sonntag, 7. Okt., ereignete sich das furchtbare Unglück in der Nähe der Station Karlstor, bei dem mehreren Menschen beide Beine abgefahren wurden.

Dicht neben der Unglücksstätte ist ein großes, dunkles, zu einer Fabrik gehöriges Tor, in das man die Toten und Schwerverwundeten zunächst hineintrug.' [1]

In Fällen wie diesen wird im Grunde überhaupt nicht ein Tod vorausgesehen, d. i. eine bestimmte Phase des physiologischen Lebensablaufs, sondern ein 'zufälliges' Ereignis, d.h. ein solches, dessen Vorauserschließung einen soz. allwissenden Geist und ein unendliches Vermögen der Errechnung von Wirkungen aus Ursachen erfordern, also über alle menschliche Psychologie des Unbewußten unendlich hinausführen würde.

Bedenken wir nun ferner, daß selbst Todesansagen, die zur Not als hellsichtig 'erschlossen' gedacht werden können, sich gelegentlich mit solchen vermengen, die einer derartigen Deutung völlig entzogen sind, daß Ansagen von zufälligen Todesfällen sich im Habitus durch nichts von jenen notdürftig wegdeutbaren unterscheiden;

daß Todesansagen bei vielen Sehern nur einen Teil beständiger Vorahnungen bilden, deren Mehrzahl ebenfalls auf 'zufällige' Ereignisse im obigen Sinne zielen - so erscheint es mehr und mehr wahrscheinlich, daß die reichlich mühsame Deutung eingetroffener Todesansagen durch Suggestion oder unbewußte Schlüsse überhaupt nur ein Erzeugnis vorgefaßter Begriffe und unserer (letzten Endes) unwissenschaftlichen und unfruchtbaren DenkeinsteIlung diesen Tatsachen gegenüber sei.

Versagt ein Deutungsbegriff gegenüber dem 'dicken Ende' einer kontinuierlichen Tatsachenreihe, so verliert er auch innerhalb seines möglichen Geltungsbereiches zum mindesten sehr an Interesse, während gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit wächst, daß der Begriff, der allein die schwierigsten Fälle zu deuten vermag, auch die wahre Deutung der einfacheren enthalte.

Auf alle Fälle haben wir es von jetzt ab ausschließlich mit Voraussagungen solcher Ereignisse zu tun, die wir angesichts der menschlichen Unübersehbarkeit ihrer Ursachen als zufällig bezeichnen; und da auf solchen Voransagen natürlich die schwerste Beweislast unseres Problems liegt, wird der Leser gewiß nicht abgeneigt sein, die Zugestehung einiger Ausführlichkeit noch ein wenig zu verlängern.    

[1] Bormann 135. Vgl. auch Crowe 40.

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