Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXXV. Mystisches Erkennen: 5. Unio mystica. Kritik.                  (S. 334)

Die Ansprüche des mystischen Erkennens gehen indes noch einen Schritt über die zuletzt beschriebenen, schon leidlich allgemeinen 'Einsichten' hinaus. Tiefste und letzte Lehre der Mystik ist es meist gewesen,  daß das All im Grunde eins sei.

Man kennt die Darlegungen - von den Upanishads bis auf unsere Tage - über das apeiron, den göttlichen Urgrund, 'vor dem die Worte umkehren', der alle Begriffe übersteige, über das Brahma, das Sein und Wahrheit und Wonne in eins fasse, über die göttliche Nacht, die zugleich der Ozean des Urlichtes sei, des Lichtes und der Liebe, darin die Wesen versinken und daraus sie auftauchen, und was dergleichen mehr ist.

Diesem All-Einen oder Absoluten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, die kenosis zu erleben nach katharsis und ellampsis, die via unitiva zu beschreiten nach der via purgativa und illuminativa, muß begreiflicherweise des Mystikers höchster Ehrgeiz sein.

Es gibt Erlebnisse, die ihm diesen Ehrgeiz zu befriedigen scheinen, ja die vielleicht die Lehre allererst haben entstehen lassen, und ihre Beschreibungen aus verschiedenen Lagern der Jenseitigkeit ähneln einander genügend, um einen Typ erkennen zu lassen. Ich bringe ihn hier abschließend zur Sprache, weil er auf der bisher verfolgten Linie vom Konkreten zum Abstrakteren den äußersten Punkt zu bezeichnen scheint.

Der zwischen Lehre und Erfahrung etwa die Mitte haltende Tauler z.B. berichtet von einem zuweilen im Menschen aufleuchtenden Verlangen nach Gott, der sich dann 'so offenbarlich zeigt, daß man nicht zweifeln kann, es sei Gott selbst, der sich zu erkennen gebe, (nämlich) gleichsam in der Form eines jähen Lichtes (oder Glanzes), . .. (wobei) keinerlei Bild von etwas Gesehenem verbleibt. ..

Man kann aber den Glanz dieses Lichtes mit gutem Recht (auch) Finsternis und Dunkelheit nennen, falls man es überhaupt (ein) Licht nennen soll, von wegen seiner Größe und unserer Blindheit. .. Bemüht sich (aber) unser Verstand, es zu verstehen, so 'verrinnt und entflieht es alsobald...

Je unaussprechlicher, unbegreiflicher... und von allen Bildern entfernter (dieses sehr reine und erhabene Gut) ist, desto wahrer und sicherer, erhabener, reiner, innerlicher und nützlicher ist es.' [1]

Bei Ruysbroeck, der unzweifelhaft aus eigener Erfahrung spricht, verläuft die Beschreibung ähnlich ins Ungreifbare: Licht, Finsternis, Glanz, Abgrund, Ineinsfließen alles Einzelnen, Unfaßlichkeit, Unaussprechlichkeit, - bei alledem doch ein Eindruck von Erleuchtung und Erkenntnis und zugleich von Erfüllung aller Sehnsucht der liebenden Natur:

solche und ähnliche Ausdrücke drängen sich ihm immer wieder auf. 'In dieser Finsternis', heißt es einmal bei ihm, 'scheint und wird  geboren ein unbegreifliches Licht, das ist Gottes Sohn, in dem man das ewige Leben schaut. .. Und der Geist selbst wird unablässig zur Klarheit, die er

[1] Übers. aus: Les Institutions divines . .. du Reverend pere frere Jean Thaulere (Par. 1507). Vieles Verwandte bei Preger III 173ff. 215ff. Vgl. auch S. Jean IV 576ff. (Vive flamme, str. III v. 3. § 9f.); III 428f. (N. O.II, 17); II 200ff. (Sub.II, 14); älter: S. Macarius, Hom. VIII (Migne, P.G. XXXIV 527ff.).


Kap XXXV. Mystisches Erkennen: 5. Unio mystica. Kritik.                  (S. 335)

empfängt, in der ledigen Leerheit, worin der Geist sich durch den Genuß der Minne verloren hat...

Diese Klarheit ist so groß, daß der minnende Seher in seinem Grunde, wo er ruht, nichts sieht noch fühlt, als ein unbegreifliches Licht; und gemäß der einfachen Nacktheit, die alle Dinge umgibt, weiß und fühlt er sich als dasselbe Licht, durch das er sieht, und als nichts anderes. .. Selig sind die Augen, die also sehend sind, denn sie besitzen das ewige Leben.' [1]

'Ich empfing', sagt eine spätere Mystikerin, 'ein Licht, das mir zu erkennen gab, daß Gott eine Lichtquelle wäre, die unzugänglich ist, in die nichts Geschaffenes Eingang haben kann; daß das göttliche Wesen ein einfältiges, einiges, unberührliches Wesen wäre und folglich ganz unterschieden von allem, was geschaffen ist. ..

Mein Geist dünkte mir selbst ein flammender Punkt geworden zu sein, so wirksam, so leicht erheblich war er gegenüber diesem göttlichen Zentrum.' [2]

Ähnlich klingen gewisse Äußerungen eines sehr viel älteren Mystikers, Symeons, des neuen Theologen (970-1040), in seinen Liebesgesängen an Gott: 'Mein Geist schaut das Unsichtbare, das aller Gestalt Ledige, durchaus Einfache, nicht Zusammengesetzte und an Größe Unendliche.

Denn er erblickt keinen Anfang, und kein Ende schaut er, und ist gänzlich keiner Mitte bewußt... Jenes aber ist ein Geistiges, unermeßlich, untrennbar und unerschöpflich; .. 'es geht in meinem armen Herzen auf, wie eine Sonne oder runde Sonnenscheibe, dem Lichte ähnlich, denn es ist ein Licht'. [3]

Die Vorstellung dieser Zustände wird scheinbar verwirrt, in Wahrheit  aber wohl präzisiert, wenn man das seltsame Ineinander von Licht und Nacht, das diese Zeugnisse bereits anklingen lassen, recht anschaulich nachzuempfinden sucht. Tatsächlich ist der eine Ausdruck fast so häufig, wie der andere, und ebenso häufig ihre ausdrückliche Gleichsetzung.

Von einem 'dunklen Lichte' sprach Heinrich Seuse, dunkel wegen seiner übergroßen Helligkeit. Und Heinrich Herphius sagte vom Zustande der Gottschauenden: Gott 'überschwemme sie mit seinem Glanze, und dieses Licht sei etwas Unbegreifliches, eine Dunkelheit, eine Stille, ein erhabenes Nichts'. [4] -

Man möchte in solchem Gestammel die sinnliche Beschreibung eines ekstatischen Bewußtseinszustandes lesen, der das Ich in einer dunkel strahlenden Unermeßlichkeit, einer flimmernden, blendenden Tiefe versinken läßt.

Dazu passen trefflich andere trunken-tastende Umschreibungen, die das Weite, Unendliche, Einsame, Weltferne, Ichlose der Erfahrung zu malen suchen: es sind abgründige Tiefen, in die der Gottliebende gleitet, unzugängliche Höhen, zu denen er sich erhebt, schweigende, weglose Wüsten, in denen er sich verliert, unfaßliche Breiten und ewige Längen, 'das Ruhen aller Heiligen in der Einheit. Einheitlichkeit und Einfachheit',  in dem 'unergründlichen Gut'. [5]

[1] Ruysbroeck 153; vgl. 150f. 69. Vgl. muham. Ekstaseschilderungen: 'Ozean des Lichts', 'schneller Blitz', 'friedliches Licht des Neuen Mondes' usw.: Palmer 22ff.; Asin 215f.
[2] Maria de S. Ter. 28. Ähnl. Osanna v. Mantua in A, S. Boll. XXIV 621 (§ 99).
[3] Bei Buber. Ekstat. Konfessionen 40. Vgl. Dante, Farad. XXX 97ff.
[4] Auger 309. Die im MA. klassische Stelle des Dionys. Areopag. spricht von 'Finsternis durch Übermaß von Licht'  xxx. Myst. Theol. I § 1).
[5] Ruysbroeck 88. 131. 134.


Kap XXXV. Mystisches Erkennen: 5. Unio mystica. Kritik.                  (S. 336)

Oder um eine sehr alte Stimme vernehmbar werden zu lassen: Hierotheos, des  Areopagiten Lehrer, sagt:

'Ohne Worte auszusprechen und ohne Erkenntnis zu verstehen das, welches über Worten und Erkenntnis ist: dies ist, wie ich begreife, nichts anderes, als das geheimnisvolle Schweigen und die mystische Ruhe, welche das Bewußtsein zerstört und Formen auflöst. Suche darum schweigend und auf mystische Weise jene vollkommene und ursprüngliche Vereinigung mit dem Erz. Guten.' [1]

Ein entscheidendes Merkmal indessen ist bisher noch nicht gebührend hervorgehoben worden: diese unbestimmten ekstatischen Zustände sind zugleich gefühlserfüllt. In der höchsten Anschauung, der theoria tau agathou der alten Mystiker des Ostens, ist auch das höchste Gefühl: chit-ânanda  nach der indischen Fassung.

Die höchsten Stufen des 'gottschauenden Lebens' sind Rausch und letzte Einsicht zu gleicher Zeit. Ja in vielen Beschreibungen der äußersten ekstatischen Zustände verstummt zuweilen fast jede Angabe sinnlicher Empfindungsreste: der stille göttliche Abgrund ist von Liebe völlig ausgefüllt.

Von dem 'innerlichsten Ausgang des Geistes durch eine göttliche Berührung' sagt Ruysbroeck: 'Da scheint die Klarheit Gottes so mächtig, daß Vernunft und Verstand mit ihrer Tätigkeit unterliegen und der unbegreiflichen Klarheit Gottes weichen müssen.

Wenn aber der Geist dieses in seinem Grunde fühlt, dann will. . . doch die Kraft der Minne noch vordringen; ... und sie ist blind und will genießen, und das Genießen liegt mehr im Schmecken und Fühlen, als im Verstehen.' [2]

S. Angela spricht eine ähnliche Sprache, wenn sie ein ekstatisches Erlebnis wie folgt beschreibt: 'Nachdem ich die Macht Gottes und seinen Willen und Gerechtigkeit gesehen, ward ich von da noch höher erhoben, und da sahe ich weder die Macht noch den Willen, wie zuvor, sondern ich sahe ein ruhendes Etwas gänzlich unbeschreiblich, außer daß es gänzlich ein Gut war.

Und meine Seele befand sich in einer unbeschreiblichen Freude. Und in diesem Zustande sah ich nicht Liebe, sondern jenes schlechterdings unbeschreibliche Etwas.’ Aber dann - und vielleicht schon in den Schlußworten der eben gegebenen Schilderung - scheint sie diese noch überbieten zu wollen: sie leugnet den Gefühlsinhalt ihrer äußersten Ekstase, betont aber den Erkenntniswert des Erlebnisses mit einem Nachdruck, der das Problem dieser Äußerungen in schärfster Form erregt.

'Bei einer gewissen Gelegenheit', sagt sie nämlich, 'ward meine Seele entrückt, und ich sahe Gott mit größerer Klarheit und Völligkeit, als ich je zuvor getan. Und in dieser Erhebung sahe ich nicht Liebe, und ich verlor jene Liebe, die ich zuvor getragen, und ich wurde Nicht-Liebe.

Und dann sahe ich Ihn in einer Finsternis, und das, weil Er (ein) Großes Gut ist, das nicht vorgestellt noch verstanden werden kann; ... und ich ward so gewiß in Gott gemacht, daß ich nimmer daran zweifeln kann, nämlich, daß ich ganz gewißlich Gott habe; und in jenem höchst wirksamen Gute, in Finsternis gesehen, ist jetzt meine Hoffnung völlig gesammelt und sicher.’ [4]

Wir begegnen also hier in einer anerkannten Mystikerin einem ekstatischen Bekenntnis, wie man es eigentlich nur aus dem Mund eines kirchlich

[1] Frothingham, Stephen bar Sudaili (1886) 96. 97. Vgl. Proclus bei Zeller, Phi!. d. Gr. III, 2, 2. Auf!. 745.
[2] Ruysbroeck 108.
[3] Thorold 141f.
[4] Das. 147; vgl.148f.


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Kap XXXV. Mystisches Erkennen: 5. Unio mystica. Kritik.                  (S. 337)

verurteilten Quietisten oder gar eines Buddhisten erwartet hätte. Beide streben über den lustvollen Frieden zur sainte indifférence, zur upekha hinaus, [1] im Leben, wie in der Ekstase. -

Aber dies mögen für den Psychologen Fragen zweiter Hand sein, die auf persönliche Verschiedenheiten der Gefühlsanlage deuten, oder auf Suggestionen der Überlieferung bestimmter mystischer Kreise. Was uns im Augenblick am nächsten angeht, ist der sonderbare Anspruch auf ganz gewisse und bedeutsame Erkenntnis – des Umfassendsten, Letzten, 'Gottes' - in diesen schwer beschreibbaren Zuständen, der sich selten zum Geständnis auch nur teilweiser Verschleierung des göttlichen Wesens herbeiläßt. [2]

Noch umfassender beinahe als Angela erhebt ihn die Schwester Remuzat:

'Während der Gebetssammlung', schreibt sie, 'war es mir, als öffnete Gott mir seinen Busen und lüde mich ein, dort einzutreten, damit ich, mich selbst verlierend, besser imstande wäre, alles von ihm entgegenzunehmen.

Ich sah mich dann wie ein schmutziges Wasser, das man ins Meer schüttet und einen Augenblick später nicht mehr als etwas Gesondertes und vom Meere Verschiedenes sieht. (Hier spricht die Marseillerin.)

Auf diese Weise ein und dieselbe Sache mit meinem Gotte geworden, ... ward ich wie erfüllt von der Erkenntnis Gottes gemäß seiner eigenen Erkenntnis, die mich Ihn sehen ließ als ein unendlich vollkommenes Wesen, einzig beschäftigt mit sich selbst und seinen anbetungswürdigen Vollkommenheiten . ..

Fragt mich nicht, was vorgegangen sei. Das war weder ein Licht, noch ein Geschmack, noch ein Leiden, noch eine volle Freude, sondern Gott selbst, so wie er ist, soweit er in einem elenden Geschöpf empfangen werden kann.' [3]


Es kann kein Zweifel bestehen über die Deutung, die der moderne Psychologe diesen Zuständen geben muß, die einst so hohe Wertschätzung genossen und bei Vielen noch heute genießen.

Er muß in ihnen die letzte Stufe der ekstatischen Zersetzung des Bewußtseins erblicken, die der mystische Geist erreicht, nachdem er selbst den Traumbildern und Symbolen seines ekstatischen Halluzinierens den Rücken gewandt hat, weil sie ihn noch zu sinnlich und persönlich, zu voll von 'Eigenheit' und möglicher Täuschung dünken,

nachdem er die Verarmung und Vereinheitlichung des Bewußtseinsinhalts und die Auslöschung des Ichbewußtseins auf den Gipfel getrieben und so zuletzt bei schlechthin einfachen, halb gefühlsmäßigen Zuständen angelangt ist, deren gänzlich formloser, unbestimmter Empfindungsinhalt, in endlosen Räumen lokalisiert, nur mehr Beschreibungen wie 'Wüste' und 'Stille' zuläßt, oder sich allenfalls als dumpf-gesehenes, dunkel-flimmerndes Licht - halb Glanz, halb Finsternis – bezeichnen läßt. [4]

Ja die seI. Angela scheint geradezu den Vorgang und Augenblick der

[1] Vgl. Heiler 256. 257. Eckehart (Büttner I 9): 'Ich... stelle die Abgeschiedenheit über die Liebe.'
[2] Wie etwa S. AIph. Rodriguez 292.
[3] Remuzat 318f.
[4] Vgl. hierzu Murisier 60ff.; Godiernaux in RPh 190Z I 12; Leuba, in Mind, new series No. 53 15ff., bes. 22. 26; Flournoy, M. M. 178f.; P. Beck, Die Ekstase (Bad Sachsa 1906) 26 (Indifferenzpunkt zwischen Ich und Nichtich, Subjekt u. Objekt).


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Zerblätterung der letzten Sinneseindrücke in das eindruckslose Nichts zu beschreiben, wenn sie nach Ausmalung des geschauten Gottmenschen - der 'ihre Seele zu sich zieht mit leisem Zureden' -, seiner Augen und seines friedespendenden Antlitzes also fortfährt, daß das 'obgenannte Gut, das ich mit Finsternis sehe, aus dem Gesichte jener Augen und jenes Antlitzes hervorgeht und aus (seinem) Innern hervorströmt'. [1]

Es liegt nahe, die verbleibende reine 'Stimmung' inhaltlich eben auf das 'benachbarte' Gesicht des göttlichen Geliebten zurückzuführen: so entschwindet dem tagträumenden Liebhaber das Bild der Liebsten, aber das innere Feuer glimmt fort.

Das Bild versinkt, aber es bleibt als 'unbewußte' Vorstellung wirksam; es lebt in seinem 'Gefühlston' fort, wie die versunkene Sonne in dem haftenden Rot des Abendhimmels. [2] Auch die hysterische Ekstase läßt ähnliches zuweilen beobachten, und in der profanen Halbhypnose kann, wenn man 'an nichts denkt', ein nicht ganz unähnlicher Zustand bewußt werden, in welchem der Eindruck eines 'schwarzen Nichts' das einzige Überbleibsel des Empfindungslebens ist. [3]

Auch das Vorkommen reiner Gefühlszustände wird von der Psychologie zugestanden. Vogt glaubte sogar im hypnotischen Bewußtsein(!) mit einiger Übung willkürlich reine Gefühle-an-sich erzeugen zu können. [4]

Was aber die angebliche Erkenntnishaftigkeit dieser völlig geschrumpften Bewußtseinszustände anlangt, so liegt es nahe, auf Gedanken zurückzugreifen, wie sie uns ähnlich schon früher das angebliche mystische Erfassen verwickelterer dogmatischer Gebilde entlarven sollten: vor allem auf den Gedanken der nachträglichen Deutung und der 'Realisierung' infolge Gefühlsdurchströmung.

Unsere Betrachtung schließt sich damit zum Kreise: die Deutungsmittel zur Entlarvung naivster Selbsttäuschungen des Anfängers in der Mystik werden auch ihren äußersten und letzten Aufschwüngen gerecht. In der Tat ist das Zustandekommen solcher Selbsttäuschung in der Auslegung auch dieser letzteren nicht schwer zu begreifen.

Man muß bedenken, daß der ganze jenseitige Entwicklungsgang, an dessen Ende die beschriebene unio mystica winkt, als ein Gottesdienst und eine Bewegung auf 'Gott' zu aufgefaßt und angelegt war. Ist auf dieser Reise zu Gott ein Grenzpunkt, ein non plus ultra erreicht, so muß dies eben 'Gott' sein.

Mit dem unüberbietbar letzten Erleben muß 'Gott' 'erkannt' sein, das ist der Glaube, der sich auf Zweck und Sehnsucht des ganzen mystischen Weges gründet. Man muß ferner bedenken, daß Gott und seine himmlischen Nächsten im Verlauf dieses Weges häufig gegenständlich, dem Menschen gegenüberstehend, 'gesehen' wurden.

Tritt endlich ein Zustand ein, in welchem selbst diese erhabenen Bilder schwinden, ein Zustand, der das Gefühl beschert, als schmelze man dahin, verliere sich in

[1] Thorold 150f. Das Umgekehrte: Angela c. XXXIV.
[2] Als klinische Parallelbeobachtung vgl. Janets Extatique (aaO. 69).
[3] Marcinowski in ZH IX 30.
[4] ZH IV 161.


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einem Größeren (wie 'im Meere'!), werde selbst das Geschaute, das Licht, die Nacht - was liegt näher, als daß dann der Gläubige, dem jede zweifelnde Selbstzerlegung ohnehin fernliegt, den ehemals außen geschauten 'Gott' nun in sich übergegangen oder - was dasselbe ist - sich selbst in ihm untergegangen empfindet? Wenn alles Sinnliche, selbst das erhabenste, ausgeschaltet ist, was bleibt dann noch, als Gott, der reine Geist?

So folgert im Grunde der hl. Johann vom Kreuze, wenn ihm die Worte unterlaufen: 'es wisse in diesen Zuständen die Seele, die hinsichtlich des Geschaffenen auf heilige Weise unwissend geworden ist, nicht mehr, als Gott allein.' [1]

Wie es denn zu verstehen sei, daß die Seele nach solcher Erfahrung nicht zweifeln könne, Gott sei in ihr und sie in Gott gewesen, wenn doch die Seele in der Erhebung weder sehe noch verstehe? S. Teresa, welche die Frage stellt, beantwortet sie auch in sehr bezeichnender Weise:

'Ich behaupte nicht, daß sie es damals gesehen habe, sondern daß sie es nachmals sehe.' [2] Oder wie Mme. Guyon im Rückblick auf ein sehr viel bescheideneres Bad im 'Flusse des Friedens' sagt: 'Ich wußte durch den Glauben, daß es Gott sei, der solcher Art meine ganze Seele in Besitz nahm.' [3] Sagt doch der Glaube, daß jede gute Gabe von Gott komme, wie sollte die beste nicht Gott selber sein?

Wie sehr dies aber im Grunde einem Nichterkennen gleich kommt, scheint ja die mystische Bekenntnisschriftstellerei und die von ihr angeregte Theologie durch die bekannten sich überbietenden Negationen zu verraten, mit denen allein sie der Gottheit begrifflich nahen zu können meinen, wie wenn der Inder vom Brahman sagt, daß es der 'Erkennende nicht erkennt, aber der Nichterkennende erkennt', [4]

oder wenn der Areopagit von den 'verborgenen und unoffenbarten Erhabenheiten der überunaussprechlichen und überunbekannten Abgesondertheit' spricht, der Überwesentlichkeit, der 'übergöttlichen Gottheit, der überguten Güte', und was dergleichen Ausschweifungen des Nichtfassenwollens und -könnens mehr sind. [5]

Ja am Ende liefern uns gewisse ekstatische Bekenntnisse zwischen den Zeilen hinreichend deutlich sogar das direkte Geständnis, daß die äußersten Grenzbezirke der Vereinigung mit Gott außer dem dunkel sie durchglühenden Gefühl und allenfalls den dürftigsten Empfindungsresten tatsächlich nichts enthalten, was einer Erkenntnis gleich käme, und daß alles, was an solcher aus ihnen gewonnen werde, bloß nachträgliche Auslegung sei.

'In diesen Zuständen', sagt Ruysbroeck, 'wird der Mensch von der Minne besessen, so daß er sich selbst und Gott vergessen muß und nichts mehr weiß und

[1] S. Jean II 203.
[2] S. Teresa IV 79 (Mor. Vc.I).
[3]Vie I 101 (I, 11., 3). Vgl. Remuzat 313; Ruysbroeck 88f. Extrem bei Maria de S. Ter. 118ff. und St. Julienne in A. S. Boll. X 449 (§ 20).
[4] Kena Upan. 3,11 (Deußen, 60 Up. 206); vgl. Brihadar. Up. 2, 3, 6; Chand. Up. 3,14, 3f.; Plotin, Ennead. V, 5, 6 (übs. v. Müller II 186); VI, 9, 11 (II 455); den 1. Brief des Dionys. Areopagita (an Gaius Therapeutes) in Works ..., transI. by J. Parker (Lond. 1897) I 141; Buber, Ekst. Konf. 216 (Schule Laotses).
[5] S. zn.  Dionys. Areop., (Göttl. Namen c.11 § IV (Parker I 17).


Kap XXXV. Mystisches Erkennen: 5. Unio mystica. Kritik.                  (S. 340)

kann, als minnen.' Der Geist werde selbst zu Minne an sich. [1] 'Denn in diesem grundlosen Strudel der Einheitlichkeit werden alle Dinge vom Genusse der Seligkeit erfaßt.

Und der Abgrund selber wird niemals begriffen, ... indem in ihm alle göttlichen Namen, alle Weisen und alle lebendigen Ideen, die in dem Spiegel der göttlichen Wahrheit Bild geworden sind, in die einfache Unnennbarkeit, die ohne Weise und Idee ist, verfallen.' [2] - Der Zustand der hohen Kontemplation ist 'blind und stumm'.

Selbst 'die Wonne,' sagt S. Teresa, 'welche die Seele empfindet, dauert nur während des Näherkommens zu Gott; ist aber die Vereinigung geschehen, so versteht sie gar nichts mehr, weil hier sich alle Seelenvermögen verlieren.' 'Wenn sie liebt, weiß (die Seele) nicht, wie sie liebe, oder was das sei, das sie liebt, oder wonach sie verlangt.' [3]

[1] Ruysbroeck 110; vgl. 107; Ramakrishna 173.
[2] Ruysbroeck 160.
[3] S. Teresa IV 196. 75; vgl. Molinos 103.

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