Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 340)

Wir haben jetzt die meisten wichtigen Arten religiösen 'Erkennens' überblickt, welche den Anspruch begründen sollten, daß die innere Führung der mystischen Entichung von der Berührung mit einer übersinnlichen Welt ausgehe.

In allen Fällen mystischer Einsicht ließ sich eine subjektivistische, alle übersinnlichen Quellen beiseite setzende Deutung von beträchtlicher Glaubwürdigkeit anführen, und damit gewinnen natürlich die mit dieser Deutung oft im engsten Zusammenhang stehenden Ableitungen auch der Willens- und Gefühlsmystik an Überzeugungskraft.

Insbesondere liefert die heutige Psychanalyse einen bedeutsam geschlossenen Versuch, das ganze mystische Erleben in seinen bei den Hauptformen nach einheitlichen Gesichtspunkten aus einheitlicher Wurzel abzuleiten: nämlich aus der maskierten Tiefenwirkung der beherrschenden Kräfte des Trieblebens.

Der Kreis der Psychologie des Mystikers scheint damit durchlaufen, und in der Tat wäre diese jetzt am Ende angelangt, wenn von den Ansprüchen des Mystikers nicht noch einer übrig wäre, der seiner Natur nach eine ganz andersartige Nachprüfung auf Wirklichkeitsgeltung zuläßt, als die bisher behandelten, dessen Rechtfertigung überdies, falls sie gelänge, nicht ohne Rückwirkungen auf die bisherigen Schlußurteile sein könnte, die zwar plausibel, aber nicht in jeder Hinsicht zwingend sind.

Dieser letzte Anspruch gründet sich auch auf Berichte (die kaum in einer mystischen Biographie fehlen) von Erkenntnissen 'sinnIich'-übernormaler Art; aber der Unterschied dieser Erkenntnisse von den bisher betrachteten und damit ihre 'Nachprüfbarkeit' beruht darauf, daß ihre


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 341)

Gegenstände, unabhängig von ihrem übernormalen Erfahrenwerden durch den Mystiker, auch der normalen sinnlichen Erfahrung und damit eben der Nachprüfung zugänglich sind.

Diese Berichte nämlich schreiben dem Erweckten z.B. die Fähigkeit zu, die verborgenen Gedanken Fremder auf anderem, als dem üblichen Wege sinnlicher Mitteilung zu erfahren; oder Dinge und Vorgänge 'wahrzunehmen', die seiner Sinneswahrnehmung zur Zeit entzogen sind, oder in die Vergangenheit oder Zukunft Blicke zu tun u. dgl. m., lauter Erkenntnisinhalte offenbar, die auch unabhängig von ihrer mystischen Wahrnehmung auf normalem Wege feststellbar sind.

Diese Wahrheitsfeststellung aber würde die 'Übernormalität' (nicht 'Übernatürlichkeit') des mystischen Erkenntnisaktes erweisen, vorausgesetzt, daß sich verborgene normale Quellen für ihn ausschließen lassen.

Augenscheinlich also unterscheidet sich das Gebiet dieser Ansprüche auf Erkenntnis durchaus von dem der bisher betrachteten, auf welchem die Erkenntnisgegenstände ihrer behaupteten Natur nach jeder normalen sinnlichen Erfahrung überhaupt unzugänglich waren.

Darüber hinaus aber würde jenes uns Ausblicke in Gebiete geistiger Fähigkeit eröffnen, die uns nicht nur eine neuartige Vorstellung über das Wesen Mensch vermitteln, sondern auch unser Urteil über das mystische Erkennen im bisherigen engeren Sinne nicht unbeeinflußt lassen könnten.

Und offenbar sind es eben diese möglichen Schlußfolgerungen aus den nunmehr in Frage stehenden Tatsachen, worauf letzten Endes unsre gesamte Problemstellung hindrängen wird. -

Ich will dem Leser zunächst ganz flüchtig der mystischen Biographie entnommene Beispiele vorlegen, die ihm eine deutlichere Vorstellung von den behaupteten Tatsachen geben sollen. Ich wähle diese Beispiele aus sehr großen Beständen nicht gerade blindlings aus (wiewohl ich fürchte, daß die Zufälligkeiten meiner Belesenheit die Zwecke dieser Auswahl vielfach vereiteln), noch auch ordne ich sie ohne jede Absicht in eine bestimmte Folge.

Doch fehlt unter den Absichten meiner Darbietung die des Wahrheitsbeweises zunächst völlig: ich führe biographische Behauptungen an; dagegen soll die Glaubwürdigkeit der angeführten Berichte einstweilen gänzlich dahingestellt bleiben.

Soweit ich gleichwohl hier und da kritische Bemerkungen in meine Darlegung verwebe, werden sie sich fast nirgends auf die Glaubwürdigkeit der Berichte an sich beziehen, sondern nur auf die Zulässigkeit der Schlußfolgerungen, die von seiten mystisch Gläubiger aus diesen Berichten (ihre Genauigkeit voraussetzt) gezogen worden sind.

Es soll also diese Kritik nur dazu beitragen, die reinen Typen jener einzelnen Ansprüche auf übernormale Erkenntnis herauszuschälen, die sich auf die Masse der Berichte gründen lassen, nicht aber dazu, die Berechtigung dieser Ansprüche selbst zu stützen oder zu widerlegen.

Unter den angeblichen Tatsachen selber nun nehmen die des nicht- sinnlich vermittelten Verkehrs von Bewußtsein zu Bewußtsein (sog. Telepathie) den breitesten Raum ein.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 342)

Evan Roberts, der Führer der jüngsten Walliser Erweckung, hat vielfach behauptet, daß ihm geheime Vorgänge in den Seelen seiner Zuhörer offenbar wären. Zwei Anwesende z.B. sollen gegeneinander Feindschaft hegen; er begibt sich zitternd und gemartert ins Gebet für sie, fordert sie zur Versöhnung oder zum Verlassen der Versammlung auf.

Oder es soll jemand anwesend sein, der sich 'dem Geiste widersetze', durch den der Betreffende aufgefordert werde, sich der Heidenmission zu widmen. Oder Roberts läßt mehrmals den Gesang unterbrechen, weil jemand sich gerade 'in der Krise' befinde; oder er wird ausdrücklicher und gibt den Ort im Versammlungsraume an, 'wohin er sich gezogen fühle', weil sich jemand dort befinde, der im Begriff stehe, sich zu bekehren.

Oder er bezeichnet, zuweilen nach einer kurzen Versenkung nach innen (!) gewisse anwesende Personen, welche 'Wölfe in Schafskleidern' seien, sich den Vorgängen widersetzten usw., oder behauptet, ein Anwesender glaube nicht an die Göttlichkeit der Bibel, und nennt ihn, als er sich weigert aufzustehen, schließlich beim Namen.

Oder er verkündet im voraus, daß 'keiner unsrer englischen Freunde sich heute abend bekehren werde' u. dgl. m. So behauptet er ununterbrochen in einem übernormalen 'Rapport' mit den Anwesenden zu stehen und die unausgesprochene seelische Verfassung der Versammlung in allen Schwankungen unmittelbar zu empfinden. [1] -

Nicht in allen solchen Fällen, wo dies möglich gewesen wäre, erfahren wir, daß die Behauptung des Predigers sich bestätigt habe, und jedenfalls können die berichteten Vorfälle nicht Anspruch auf Eindeutigkeit erheben.

Immerhin geben sie einen charakteristischen Zug in dem Gesamtbilde der religiös erregten Gemeinschaft, der uns mit dem Vordringen der Untersuchung zunehmend bedeutsam werden wird.

Ähnliche Berichte finden sich z.B. in der sehr gründlichen und vertrauenswürdigen Schilderung, welche Robert Baxter von seinem eigenen Reden 'in der Kraft' während der Londoner Anfänge des Irvingianismus hinterlassen hat.

So wird ihm einmal 'in der Kraft deutlich gezeigt, ehe noch jemand gesprochen, daß irgend eine Person im Raume eine Sinnesart habe, die das, was prophezeit (d.h. im Geiste geredet) werde, mit der größten Entschiedenheit von sich weise'.

Als er dies ausspricht, fragt schließlich einer, ob er es sei; aber Baxter erwidert: Sie werden mir nicht als der Mann gezeigt. Nach einer Pause, die mit allgemeiner Unterhaltung ausgefüllt war, 'fiel mir', sagt Baxter, '(plötzlich) eine Stimme am obersten Ende des Raumes auf, und es wurde mir gezeigt, daß dies der Mann sei'.

Diesen hatte Baxter nie gesehen, noch auch, soweit ihm bewußt (und dies ist natürlich eine wesentliche Voraussetzung), seine Stimme je gehört. Jetzt aber aufgerufen, 'sprach sich der Mann (rückhaltlos) aus und bewies sehr schlagend, wie genau sein Geisteszustand mir offenbart worden war'. [2]

Ich weiß von keiner religiösen Gemeinschaft, in welcher die Erregung, mit der sich eine Masse um ein jenseitiges Ideal schart, in ähnlichem Maße gerade die Früchte anscheinenden Hellwissens gereift hätte, wie unter jenen heldenmütigen Protestanten, die vor etwa 200 Jahren in den Gebirgen des

[1] Fursac 3f. 78. 87; Bois (481 ff.) 417ff. 421. 462f. 470f. 474ff. 488ff.
[2] Baxter, Narrative 70. Vgl. das. 14. 72. 135; Dyer 94. Gibson u.a. scheinen ähnliches aus Vorurteil zu verschweigen.


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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 343)

Languedoc einen jahrelangen Kampf gegen die jesuitischen Ausrottungspläne des Sonnenkönigs führten.

Die Kamisarden übten ihre Gabe der Durchdringung der Geister meist in einer Art von Ekstase und sprachen ihre Gesichte in einer Form aus, die an den antiken Prophetismus oder den Trans der Medien erinnert: die ekstatisch redende 'Persönlichkeit' betrachtete sich als vom Subjekt gesondert und redete den Sprecher in zweiter Person an:

Mein Kind, mein Sohn, ich sage dir... Einmal, so berichtet Jean Cavalier, behaupteten mehrere, 'im Geiste' redend, daß an der gemeinsamen Tafel ein Verräter sitze. Einer der Redenden, du Plan, gab sogar die Summe an, für die jener es angeblich übernommen habe, den Anführer Cavalier (einen Vetter des Berichterstatters) zu vergiften:

'Ich sage dir, daß er in diesem Augenblick die Absicht hat, das Gift, das er bei sich verborgen hat, fortzuwerfen, oder es jemand von der Gesellschaft in die Kleider zu stecken; aber ich werde zulassen, daß er erkannt und bei seinem Namen genannt werde.' Dann, ins Zimmer tretend und inmitten ekstatischer Zuckungen, auf *** losgehend und ihm die Hand auf den Arm legend: '...

Weißt du nicht, Unseliger, daß ich allsehend bin? Daß ich die Herzen und Nieren prüfe und daß die geheimsten Gedanken mir offenbar sind? ... Bekenne dein Verbrechen...' Du Plan erklärte bestimmt, so fügt der Bericht hinzu, 'daß das Gift sich in der Tabaksdose und in dem Ärmel des Wamses des Betreffenden fand, also daß er völlig überführt ward.'

'Ich war anwesend', sagt Jean Cavalier, 'und habe dies alles gesehen. Das Gift war in Papier (eingewickelt).' [1]

Ein anderes Mal bestanden starke Befürchtungen für das Leben des älteren Marion, Vaters zweier Kamisardenkämpfer, dem die Staatsbehörde nachstellte. Einer seiner Söhne, Pierre, [2] beschwichtigte, 'im Geiste' redend, diese sehr berechtigten Besorgnisse:

'Sei guten Mutes, mein Kind, ich sage dir, daß dein Vater nichts zu befürchten hat, noch sonst jemand von diesem Hause. Ich sage dir, daß ich einen seiner eigenen Feinde auferweckt habe, der seine Begnadigung erbittet und auch erlangen wird.'

Das völlig unbesorgte Verhalten des Vaters auf diese Versicherung hin wurde tatsächlich durch die nachfolgenden Ereignisse gerechtfertigt. [3]

Diese Kraft der Gedankendurchdringung scheint sich bei den Kamisarden auch in der Richtung nutzbar erwiesen zu haben, daß sie eine eindringendere Prüfung und Beaufsichtigung der Gewissen durch die geistigen Führer der Bewegung ermöglichte.

So empfing zu einer Zeit, da die Teilnahme an gewissen 'weltlichen' Vergnügungen (vermutlich sehr harmloser Art) die geistliche Zucht zu lockern begonnen hatte, ein gewisser Salomon Couderc vom Geiste den Befehl zu einer 'Reinigung' seiner engeren Gemeinschaft.

Er ließ die Brüder ins Glied treten, und 'immer vom Geiste erfüllt und bewegt', schritt er ihre Reihen ab und empfing, jeden Einzelnen anblickend, geheime 'Eingebungen', die ihn darüber belehrten, wer zu entfernen sei: 60-70 Brüder wurden auf diese Weise verworfen, in einer Szene allgemeiner Rührung aber wieder in Gnaden aufgenommen. [4]

[1] Misson 47ff.; vgl. 114f. 116. Gingen die 'inspirierten' Aussagen weniger ins Einzelne, so läge die Vermutung nahe, daß die Ekstase bloß den Mut zum Auftreten gegen unsichere Parteigänger gegeben habe.
[2] Der andere, Elie, ein offenbar nüchterner und ehrlicher Zeuge, ist der Vf. des Berichts.
[3] Misson 76.
[4] avertissements. - Misson 69 bis f.: Fages Bericht 112f.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 344)

Gegen dies letzte Beispiel legt sich natürlich der Einwand nahe, daß die so Inspirierten das Menschenmaterial, das sie zu beurteilen hatten, sehr genau kannten, so daß an ihren Massenurteilen nichts ungewöhnlich gewesen wäre, als eben die Art der Äußerung.

Ich würde mich selbst dieser Vermutung anschließen, wenn die Berichte nicht eben unter einen Typ fielen, der als 'Gnadengabe der Unterscheidung der Geister' seit biblischen Tagen [1] zu den klassischen Gaben des 'Geistes' gezählt hat und seitdem nicht nur, wie die bisherigen Angaben bereits erkennen lassen, aus Zeiten der Massenerregung in Menge, sondern auch aus der gleichmäßigen Stille des Einzellebens mit einer gewissen Vertrauenswürdigkeit berichtet wird.

Mme. Guyon z.B. hat für sich selbst mit großer Bestimmtheit diese Gabe der Durchdringung fremder Seelen in Anspruch genommen. Eine impression intérieure sollte ihr selbst von Entfernten, besonders aber - was bedeutsam ist - von solchen, die für Spirituelles galten, den inneren Wert anzeigen.

'Ich erkannte zunächst, ob sie einfältig oder heuchlerisch waren, ihren Grad (den Stand ihrer geistlichen Entwicklung) und (das Maß ihrer) Eigenliebe.' [2] Mit den ihr religiös Nahestehenden besonders glaubte sie in einem mehr als gewöhnlichen Rapport geistlicher Mutterschaft zu stehen.

'Alle die, welche meine wahren Kinder sind, haben eine Neigung, bei mir in Schweigen zu verharren, und ich selbst habe den Instinkt, ihnen schweigend mitzuteilen, was mir Gott für sie gibt. In diesem Schweigen entdecke ich ihre Bedürfnisse und ihre Mängel und teile ihnen in Gott selbst alles mit, was ihnen fehlt.

Sie fühlen (auch) sehr wohl, was sie empfangen und was ihnen in der Fülle mitgeteilt wird.' [3] Von dem ihr besonders nahestehenden P. Lacombe schien es ihr, 'daß (sie) bis auf den Grund seiner Seele und bis in die letzten Falten seines Herzens sah'.

Auch glaubte sie, durch den engen innern Rapport mit ihm gezwungen zu sein, in einer unmittelbaren Weise (die wir, falls erwiesen, als emotionelle Telepathie bezeichnen würden) an seinen innern Zuständen und allen Leiden seiner geistlichen Entselbstung teilzunehmen.

'Ließ er sich treulich vernichten, so war ich in Frieden und Freiheit; wurde er sich selbst untreu, grübelte oder zögerte er, so litt ich seltsame Qualen, solange er nicht damit aufhörte. Ich brauchte nur den Versuch zu machen, mir seinen Zustand vorzustellen, um ihn (alsbald) zu wissen.' [4]

Auch mit ihm meinte sie - zum erstenmal während einer fiebrigen Erkrankung - sich ohne Worte unterhalten zu können. Besuchte sie Lacombe, so war ihr das Wort geradezu genommen: aber sie verstand sich mit ihm 'in Gott auf eine unaussprechliche und ganz göttliche Weise. Unsere Herzen sprachen zueinander und teilten einander eine Gnade mit, die sich nicht in Worte fassen läßt.

Das war (wie) ein ganz neues Land für ihn wie für mich. . . Stunden verbrachten wir in diesem tiefen, aber stets mitteilsamen Schweigen.' Sie nennt dies einen 'Gnadeneinfluß' aus dem 'Innersten der Seele', einen flux et reflux, der nichts Menschliches oder Natürliches an sich hatte. [5]

[1] Vgl. schon Ev. Joh. 2, 25; die frühchristI. xxxxxxx. Buddhist. 8. Beckh 77f.
[2] Guyon, Vie III 83 (c. 8 § 5).
[3] avec plénitude. Das. II 143.
[4] Das. II 117. 134.
[5] Das. II 139f. 10f. - Vgl. III 105f.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 345)

Die Erfahrungen der Mme. Guyon sind nichts weniger als vereinzelt. In einem Brief berichtet M. Olier, daß er in der Ferne über eine Versuchung unterrichtet wurde, welcher eine ihm geistlich nahestehende Dame, wahrscheinlich Mlle. du Vigean, mit Bezug auf ihre religiöse Berufung unterworfen war, und von ihrer Befreiung davon; 'so daß ich zu M. de Bretonvilliers sagte:

Ich bin nicht länger in Sorge um Mlle. du V., sie befindet sich in einem Zustande großen Friedens und der Freude. Zwei Tage darauf erhielt ich Briefe von ihr, die ihren Seelenzustand beschrieben, der in jeder Beziehung dem glich, was ich in mir selber innerlich gefühlt und erfahren hatte.' [1]

Aber auch banalere Einzelheiten des geistlichen Lebens werden mitunter Gegenstand des Gedankenlesens, wie wenn z.B. die Schwester Remuzat dem Bischof von Marseilles, Mgr. de Belsunce, bestimmt, wiewohl bescheiden, auf den Kopf zusagt, ohne davon normal erlangte Kenntnis zu besitzen, daß er die Gewohnheit der täglichen Messe aufgegeben habe, - damals freilich keine seltene Erscheinung unter Prälaten, [2] - oder die A. K. Emmerich dem Geistlichen Limberg an einem bestimmten Tage, daß er sein Brevier noch nicht gebetet habe. [3]

Der BeichtstuhI, in dem so viele heilige Männer gesessen haben, bildet natürlich einen der klassischen Schauplätze für solche Äußerungen der Seelendurchschauung, und zahlreich sind die Berichte beschämter Sünder, denen verschwiegene oder selbst vergessene Missetaten vorgehalten worden waren.

Von S. Katharina von Siena wird erzählt, daß sie einem gewissen Nicola Saraceni im Traum erschienen sei, um ihn zur Bekehrung zu ermahnen, bei einem nachfolgenden Zusammentreffen schickte sie ihn allem zuvor zur Beichte.

Als er später auf ihre Frage versicherte, alles gestanden zu haben, 'erinnerte sie ihn an etwas, was viele Jahre zuvor in Apulien vorgefallen war, wovon kein Lebender wußte und was er selbst vergessen hatte. Saraceni mußte ihr recht geben und erzählte die Geschichte oft, die Worte des samaritanischen Weibes [4] auf die Heilige anwendend.'

Stephan Maconi merkt am Rande des Manuskripts der von ihm übersetzten Leggenda Minora an: 'Ich, Bruder Stephan, war nicht nur genau bekannt mit diesem Nicola, sondern sein Weib war mir nahe verwandt.' [5] Demselben Zeugen aber bekannte ein großer Mann der Öffentlichkeit:

'Gott und ich allein wissen, was diese heilige Frau mir offenbart hat; darum kann ich nicht zweifeln, daß sie weit größer vor Gott ist, als wir auch nur zu denken vermögen.' [6] - Ähnlich soll z.B. S. Leonhard  an ähnlichen Beispielen einem Beichtenden, der nun fertig zu sein behauptete, auf den Kopf zugesagt haben, er habe vor Jahren einen Gartendieb

[1] Lettres de M. Olier I 367; vgl. 429 (Joly 69f.). Ähnlich S. Alph. Rodriguez 79; Dixon II 55f.; Fox, Lebensbeschr. 291f.; Hildegard 58; Gr. Lopez, bei Tersteegen, Leb. heil. Seelen I 61; PS XI 80 (muhamed.); Ramakrishna 37f. Vgl. über die 'gemeinsame' Erzeugung des Werkes Sympneumata durch L. Oliphant und seine Frau Alice: Mrs. M. Oliphants 'Memoir. . .' (Edinb. u. Lond. 1892) 394ff. und den ähnl. Vorgang Kingsford I 119ff.
[2] Remuzat 155.
[3] Emmerich II 26; vgl. I 384f. und S. Thom. Aquin. in A. S. Boll. s. v. p. 672 (c. VIII § 47). Biblisch: Ev. Matth. 9, 4; 12, 25; 26, 21-26; Mark. 2, 8; 9, 34; 12, 15; Luk. 7. 39; 9,47; Joh. 4, 16-19; 6,64; Apgesch.5, 3.
[4] Ev. Joh. aaO.
[5] Drane I 148; vgl. 166.
[6] Das. 343.


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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 346)

zufällig erschlagen und heimlich begraben, was er schon wiederholt in der Beichte nicht vorzubringen gewagt hatte; der Entdeckte selbst berichtete dies später zweien Religiosen. [1]

Mitunter scheint sich das Wissen um den geistlichen Zustand des Entfernten in den Antrieb zu übersetzen, ihn zum Zwecke normaler Beeinflussung persönlich aufzusuchen. Von den ersten Quäkern in England werden 'gut verbürgt' [2] solche Fälle berichtet, die an die biblische Erzählung von Ananias [3] erinnern: indem jemand den 'Ruf' erhält oder empfindet, einen Andern, häufig ihm Unbekannten, aber geistlich Bedürftigen, aufzusuchen, um ihm religiösen Beistand zu leisten. [4]

Ja russische Sektierer haben die regelmäßige Befähigung zu solcher Berufung als Merkmal des 'Propheten' bezeichnet. Komme dieser zu dem Ratbedürftigen, so gebe 'der Geist Gottes' ihm ein, 'ohne dessen Frage ihm das zu sagen, was jener zu fragen nötig hatte'. [5]

Es ist ein bedeutsamer Umstand, daß das Erkennen des geistlichen Zustandes einer entfernten Person angeblich häufig während des Gebetes für sie gewonnen wird; bedeutsam, weil das Gebet der religiöse, jenseitige Zustand kat' exochén, für manchen die einzige religiöse Zeitspanne ist, ja wie es anderseits sich der Ekstase nähert, die wir bereits in einigen der obigen Beispiele die 'Unterscheidung der Geister' begünstigen sahen.

Die geistliche Selbstbeobachtung hat die Tatsache seit langer Zeit hervorgehoben, wie denn Ruysbroeck es als nicht seltenes Erlebnis des 'erleuchteten Menschen' anmerkt, daß er 'vom göttlichen Geiste besonders aufgefordert werde, für einen Sünder oder eine Seele um etwas zu bitten', dann aber 'so verinnerlicht und so entzündet werde in seinem Gebete, daß er die Antwort erhält, sein Gebet sei erhört', bei welcher 'Nachricht dann der Antrieb des Geistes nachlasse'. [6]

Wir können diese Erfahrung so ausdrücken, daß der für einen Entfernten Betende unter Umständen mit ihm in einen übernormalen Rapport trete, kraft dessen er schon während des Gebetes über den inneren Zustand seines Schützlings, aber auch über Erfolg oder Mißerfolg seines Gebetes unterrichtet werde.

Ein Beispiel, das wenigstens den Vorzug verhältnismäßiger Neuheit hat, teile ich aus der Selbstbiographie des englischen Predigers W. Haslam mit.

Haslam, der während einer eigenen Predigt seine Erweckung erlebt und die folgende Nacht in der unter solchen Umständen normalen freudigen Erregung verbracht hatte, erwachte am nächsten Morgen sehr früh mit dem 'Eindruck', aufstehen und in ein nahegelegenes Dorf gehen zu müssen, um dort einem gewissen James B. seine Bekehrung zu erzählen, einem Frommen, der seit Jahren für ihn gebetet hatte.

[1] Labis, Vie de S. Léonard de Port-Maurice (Tournai 1868) 297f. Vgl. Vianney 115; Preger I 54; Ochorowicz 154. Ähnlich von Plotin.
[2] Dies sagt der äußerst skeptische  Podmore, Spir. I 282.
[3] Apgesch. 9, 10ff.
[4] Ein modernes Beispiel dieser Art aus d. Leben des bekannten D. John Watson ('Ian Maclaren') s. Ripon 27ff. Vgl. die Behauptung gewisser gewerbsmäßiger 'Heiler' bei Podmore, Spir. I 281.
[5] Grass 218. 'Erfahren' noch  gleichgültigerer Vorgänge: Kanne II 74; Emmerich I 190f.; Remuzat u.a.
[6] Ruysbroeck 95.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 347)

Diesen traf er auf halbem Wege, und James B. erzählte ihm, er sei in der Nacht aufgewacht und habe sich gedrängt gefühlt, für Haslam zu beten, dabei jedoch nichts 'Festes fassen' können, es war, als ob er nicht beten könne.

Nachdem er es länger als zwei Stunden vergeblich versucht hatte, kam ihm auf einmal der Gedanke, daß H. vielleicht schon bekehrt sei. Dieser Gedanke machte ihn so überglücklich, daß er sofort mit lauter Stimme Gott zu loben anfing, . .. bis das ganze Haus lebendig ward und er den Herbeistürzenden zurufen konnte:

Ich lobe und preise Gott, der Pfarrer ist bekehrt. [1] - Ich merke im Vorübergehen an, daß Haslam den Hergang erzählt, ohne mit einem Worte das Bewußtsein seiner Übernormalität anzudeuten; womit er jedenfalls erkennen läßt, daß ihm, wie zahllosen andern religiösen Berichterstattern, 'diese Art Dinge' eben als etwas ihrem Stande Natürliches und Zukommendes erscheine, als ein Teil der unbemerkten Atmosphäre, in der sie leben und weben.

Es ist jedenfalls nicht immer bewußte Wundersucht, was dem seelisch-übernormalen Element in der religiösen Lebensbeschreibung einen Platz gewinnt.

Eine zunehmende Verwicklung kann dieser Vorgang des Fernerfahrens in der Gebetsekstase dadurch gewinnen, daß der Erfahrende zugleich zum Gegenstand einer ähnlichen Erfahrung seitens seines Partners wird, so daß also zwei Wesen, gleichzeitig in religiöser Hochspannung befindlich, gegenseitig von ihrem augenblicklichen Zustand erfahren.

'Als Ida von Nivelles', berichtet z.B. Görres, 'eines Tages verzückt war, erfuhr sie, eine andere ihr sehr liebe Freundin sei in demselben Augenblick in dem gleichen Zustande; und dieser hinwiederum wurde gezeigt, wie Ida im gleichen Abgrunde göttlichen Lichtes mit ihr sich eingetaucht finde. Von da an waren beide im Herrn aufs engste verbunden.' [2]

Sehr häufig erfährt der Erweckte den Tod eines Entfernten durch unmittelbaren 'Eindruck', wie z.B. Mme. Guyon den ihren Vaters, den sie zuletzt gesund verlassen und dessen Krankheit nur 12 Stunden gedauert hatte. [3]

S. Philipp Benizi verkündigte, durch einen sinnbildlichen Traum belehrt, am 4. Mai 1280 in Florenz den tags zuvor in der Ferne erfolgten Tod zweier Ordensgenossen, der Gründer der Serviten, Uguccioni und Sostegno; [4] der Franziskaner Bernardin von Feltre (gest. 1494) während einer Predigt in Padua das Ableben seines Vaters Donato.

Die Nonne Lukardis, noch im zarten Alter von 13 Jahren, 'sah' den Tod ihrer fernen Mutter, [5] Heinrich Seuse den der Elsbeth Stagei, S. Philipp Neri den mehrerer in der Ferne Sterbender,' S. Benedikt den seiner Schwester. -

Sehr bekannt ist das Gesicht, welches der letztgenannte Heilige vom gleichzeitigen Tode des Bischofs Germanus von Capua gelegentlich eines Besuches des Diakonus

[1] Deutsch v. Schettler (Bonn 1891) 60f. (hier gekürzt). Andere Beispiele s. Finney 34f. (Gebetsantwort im Gegensatz zur bewußten Erwartung); das. 80 (desgI.); Bourignon, Leben 197; Görres II 321 (Prior Werricus); Kanne II 167 (GichteI) usw.
[2] II 355f. Vgl. S. Augustin, De civit. Dei I. XVIII c. 18.
[3] Vie I 178f.
[4] S, Fr. Malavals Leben des Hlg., engl. Übs. (Lond. 1874) 306.
[5] Analecta Boll. XVIII 311.
[6] Bacci I 348ff. Vgl. Leben u. Offenb. d. hlg. Brigitta, übs, v. Clarus (Regensb. 1856) IV 282; Zöckler 225; Vianney 144; Riley 199f. (über P. Pratt).


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 348)

Servandus bei ihm gehabt haben soll. Der letztere hatte sich zur Ruhe begeben, während Benedikt noch wachte und 'am Fenster stand, zum Allmächtigen betend, als er plötzlich. . . ein ausgegossenes Licht erblickte, das sich über die Finsternisse der Nacht ausbreitete. .. und’, wie er später selbst erzählte, 'die ganze Welt, gleichsam wie unter einem Sonnenstrahl versammelt, ihm vor Augen führte’.

(Gleichzeitig sah er, während er aufmerksam schaute,) die Seele des Bischofs Germanus von Capua in einer feurigen Kugel gen Himmel tragen. (Er rief den Servandus herbei und) schickte sogleich einen Boten, namens Theoprobus, nach Capua, welcher von dem Ableben des Bischofs in eben dieser Stunde erfuhr.' [1]

Gefährdungen oder andere erregende Erlebnisse eines Entfernten bilden nicht minder häufig den Inhalt des telepathischen Erkennens.

Die zeitgenössische Lebensbeschreibung der hl. Katharina v. Siena von Raimund von Capua, einem ihrer Beichtiger und nächsten Freunde, erzählt z.B., wie eines Tages Patres Thomas della Fonte und Georg Naddi, der eine ein Beichtiger der Heiligen, der andere ein Professor der Theologie, von Siena nach Montepulciano reisten, um ihn (Raimund) zu besuchen,

unterwegs aber, sechs Meilen von Montepulciano, während einer Rast in den Bergen von einer Schar von Wegelagerern überfallen und beraubt wurden, worauf die Strolche über die Rätlichkeit der Beseitigung ihrer Opfer berieten, was den Br. Thomas in seiner Angst veranlaßte, in seinem Innern zu beten:

0 Katharina, Magd Gottes, hilf uns in dieser Gefahr; worauf die Räuber angeblich sofort nicht nur das Leben, sondern sogar das Eigentum der Reisenden, mit Ausnahme einigen Geldes, für unantastbar erklärten.

Nach seiner Rückkehr nach Siena schrieb Thomas an Raimund, daß in dem Augenblick, in welchem er ihre Hilfe angerufen, die Heilige zu denen, die bei ihr waren, gesagt habe: Vater Thomas ruft mich, er ist in großer Gefahr, und sich alsbald ins Gebet begeben. Ihre Entfernung von dem Schauplatz der Ereignisse betrug 24 Meilen. [2]

S. Vincent Ferrer, der große Erweckungsprediger des Mittelalters, fiel während einer Predigt in Pampelunia in Ekstase und teilte, wieder zu sich kommend, den Anwesenden mit, Gott befehle ihm, seine Predigt zu unterbrechen, um einem schrecklichen Vergehen, das eben in der Stadt sich abspiele, entgegenzutreten. Was er denn auch tat. [3]

Nähme man, im Rahmen des populären Schemas, in diesen Fällen eine telepathische 'Beeinflussung' des Heiligen an, so würde man das Umgekehrte vorauszusetzen geneigt sein, so oft es der Heilige ist, der zu Lebzeiten, wenn auch in seiner Sterbestunde, an entferntem Orte gesehen wird.

Dabei wird man solche Gesichte unbedenklich als bloß zufällige Halluzinationen ansehen, so oft kein besonderer 'Sinn' der Erscheinung ersichtlich ist, wie etwa der Zweck der Todesangabe; es sei denn, es werde uns das

[1] xxxxxxx - Vita S. Benedicti, aus S. Gregorii Dialog. I. II c. XXXV (Migne, P. L. LXVI col. 197).
[2] Drane I 153f. (nach Legenda p. II c. IX). Vgl. FIetchers fromme Gattin, bei Wesley, Short account 158f. u. Seed 111; A. Lepitre, S. Antonyof Padua (Lond. 1902) 101; Labis 162f.; St. Martin, Corresp. betw. L.C. de S.-M. and Kirchberger ... (engl., Exeter 1863) 275 (Schwester Marg. du S. Sacr.); zwei bezeichnenderweise ekstatische Erfahrungen dieser Art s. Tir. Ekst. I 49 (Maria v. Mörl) und Calmet I 323f. (Herzogin Philippa v. Geldern als Nonne).
[3] Pradel 95f.


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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 349)

Element der Willkürlichkeit - des Erscheinenwollens - ausdrücklich berichtet. [1] Beispiele der letzteren Art sind etwa die Gesichte, die dem Abt Antonius die 'Seele' des hl. Einsiedlers Paulus, ein anderes Mal die des hl. Einsiedlers Ammonius, während dieser 5 Tagereisen entfernt in der Wildnis starb, zwischen Engelchören zum Himmel auffahrend zeigten. [2]

Überhaupt bilden Erscheinungen sterbender oder eben gestorbener Heiliger in geringerer oder größerer Entfernung vom Sterbebette ein feststehendes Klischee der Hagiographie. [3]

Indessen ist natürlich zu erwarten - die Tatsächlichkeit telepathischer Vorgänge vorausgesetzt -, daß gerade das Gebet, soweit es sozusagen einen Wunsch in Weißglut, das betende Hinaussenden eines Bedürfnisses bedeutet, auch telepathische Wirkungen auslösen werde.

Dies müßte um so leichter nachzuprüfen sein, je greifbarer der Inhalt des Gebetes, je mehr dieses also ein Bittgebet im naiveren Sinne ist und seine Erfüllung im Machtbereich eines andern Lebenden liegt, der dann die Rolle des telepathisch Beeinflußten zu spielen scheinen würde. Diese Greifbarkeit des Gebetsinhaltes ist ja aber bei Gläubigen eher die Regel als die Ausnahme.

Nun muß unstreitig von der Masse der Berichte über angebliche Gebetserhörungen sehr vieles als 'natürlich' deutbar von vornherein abgezogen werden, am meisten innerhalb jener völlig gebetbeherrschten Lebensläufe gewisser Leiter von großen Wohltätigkeits- oder geistlichen Unternehmungen, [4] die häufig den festen Willen vertraten, sichere Einkünfte jeder Art aufzugeben, keinerlei Schulden zu machen, nie über Bedarf oder Mangel mit Andern zu reden, vielmehr jeden Pfennig für ihre oft riesenhaften Bedürfnisse zu 'erbeten'. [5]

Die Behauptung dieser Gebetshelden ist es nun, Bedürfnis (also wohl auch Gebet) und Erfüllung durch freiwillige Spenden Fremder hätten nach Höhe und Zeitpunkt so oft genau übereingestimmt, daß an ein Wirken des bloßen Zufalls dabei nicht zu denken gewesen wäre. [6]

Aber diese Behauptung erscheint dem Vorurteilslosen durchaus anfechtbar angesichts der ungeheuren Zahl von Bittgebeten einerseits, von Zuwendungen anderseits [7] und des weitverbreiteten allgemeinen Wissens um die stetige Bedürftigkeit dieser populären Wohltäter. Man kann vielleicht geradezu sagen, daß das Bekanntwerden des Umstandes, daß nicht gebeten werde, dazu beigetragen haben müsse, solche Bitten unnötig zu

[1] Wie in einigen Berichten über S. Anton. v. Padua (bei Vesme II 136); vgl. S. Augustin, De cura pro mortuis c. 17.
[2] Perty, M. E. II 259.
[3] S. z.B. Borderland II 382f. (S. Teresa); Hügel I 217f.; Lopez 73 u. v. a. Vgl. die Fälle ÜW X 329; XIII 242f.; Gurney II 568.
[4] Wie z.B. A. Franckes, Georg Müllers, J. W. Hoffmanns, Ch. Cullis', Dr. Barnardos, W. Huntingtons (God the Guardian of the poor ..., Lond. 1836);
[5] Besonders heroisch durchgeführt von Torrey; vgl. auch Georg Müller, Autobiography 134; Patton 193 (üb. d. Missionarin Drake); Bacci I 110.
[6] Beispiele: Francke, bei Kanne II 238; Georg Müller, aaO. 237; vgl. H. Bushnell, Nature and the Supernatural, 4. Aufl. 477f. Die Behauptung steter genauester Übereinstimmung bei Patton 191f. (Drake). Ähnlich: Aus d. Leben J. W. Hoffmanns (Karlsruhe o. J.) 12; Borderland III 324 (üb. Barnardo).
[7] Bei Dr. Barnardo z.B. i. J. 1902 - 140000 Pfd. Strl. bei 80000 Unterschreibern.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 350)

machen, ein Zusammenhang, der gelegentlich von Einsendern selbst betont wird.

Trotz alledem erscheint es unleugbar, daß zahlreichen Gebetswirkungen gegenüber die Berufung auf 'telepathische' Vorgänge allerdings das Mindestmaß von übernormalen Voraussetzungen darstellt, das ihre Deutung erfordert (immer natürlich unter der Annahme ihrer tatsächlichen Glaubwürdigkeit).

Als ein Beispiel, das zwischen Auslegung durch unbewußte Erinnerung [1] (das Bedürfnis des Betenden hatte sich vielleicht herumgesprochen) oder durch Telepathie etwa die Mitte hält, sei folgender Bericht aus dem Leben Blumhardts, des ersten Inspektors des Basler Missionshauses, angeführt.

Dieser benötigte zu seinem Magisterexamen etwa 200 Gulden Sportelgelder. 'Eines Tages fragte ein alter Professor am Schlusse seiner Vorlesung die anwesenden Studenten, (ob ein Blumauer oder Einer ähnlichen Namens unter ihnen sei).'

Ein Blumauer fand sich nicht, aber Blumhardt meldete sich und erhielt von dem Professor auf dessen Zimmer 200 Gulden eingehändigt, 'die er, wie er unter lebhafter Gemütsbewegung ihm mitteilte, infolge eines Traumes in der vorhergehenden Nacht ihm zustellen sollte'. [2]

Auch Georg Müllers Leben enthält vereinzelte Fälle, in denen die Annahme telepathischer Wirkung nicht ungereimt zu erscheinen braucht. Er führt mehrere an, in denen die Spender von Gaben sich trotz verschiedener Abhaltungen und um den Preis von persönlicher Unbequemlichkeit zu augenblicklichem Geben gedrängt fühlten, wobei sich überdies zuweilen Müllers gleichzeitige Gebete gerade auf diese Geber bezogen hatten.

In einem dieser Fälle fühlte eine 'Schwester', welche den Verkauf gewisser Gegenstände für Müllers Rechnung übernommen hatte, trotz augenblicklicher Unpäßlichkeit sich gezwungen, den Erlös sofort abzuliefern, während gleichzeitig Müller - in großer Geldnot - gebetet hatte, daß diese Schwester, 'falls sie die Sachen verkauft hätte, das Geld (einige 30 Mark) jetzt bringen möge’. [3]  

Als ein eindrucksstärkeres Beispiel dieser Gattung dürfte der folgende Bericht aus Gurneys Werk über die telepathischen Tatsachen erscheinen. 'Als ich in Penketh lebte, vor etwa 40 Jahren, saß ich eines Abends bei meinem Buch, und eine Stimme kam zu mir und sagte: Schick ein Laib Brot nach James Gaudys Hause.

Ich las aber weiter und die Stimme kam wieder zu mir: Schick ein Laib Brot nach James Gaudys Hause, . .. (und so) ein drittes Mal mit größerem Nachdruck; ... und diesmal war sie von einem fast unwiderstehlichen Antrieb aufzustehn begleitet, (dem ich gehorchte) ... (James Gaudys Frau) sagte (nachher aus), sie habe die Kinder zu Bett bringen wollen, und sie hätten angefangen nach Brot zu schreien, während sie ihnen doch nichts zu geben hatte, denn ihr Mann wäre vier oder fünf Tage ohne Arbeit gewesen.

Sie begab sich darauf ins Gebet, um Gott zu bitten, er möchte ihnen irgend etwas (zu essen) schicken, und bald danach kam ein Junge an die Tür mit (dem) Laib, (das ich geschickt hatte).' Die zeitliche Übereinstimmung zwischen Gebet und Stimme soll eine genaue gewesen sein. [4]

[1] Durch Kryptomnesie (unbewußte Erinnerung) deutbare Fälle z.B. Ripon 46. 85ff. Profane Analogien z.B. Pr I 363; JSPR IV 142.
[2] Ref. in PS XXXIII 372. Vgl. H. Stillings Wanderschaft 164ff.; GichteI, Leben 125 f. 168; G. H. Schubert, Altes u. Neues I 219.
[3] Georg Müller. aaO. 171; vgl. 166. 301f.
[4] Gurney II 123 (Nr. 287). Ähnlich Kanne I 129f. (Th. Hownham); Hillmers Christl. Ztschr. f. Christen II (1809) 101f.; Patton 188f. 199. 208f. Borderland IV 172 (Telepathy and Prayer); Splittgerber, Schlaf  I 258; Fechner, Zend-Avesta, I. Aufl. III 207f.; Ripon 98ff.; Splittgerber, Leben, 2. Aufl.  136f.; Austin 143ff.; Hastings 158ff. 175f. 185f. 224ff. 235ff. u. ö.; OR 1907 Oct. 233.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 351)

Das telepathisch wirksame Gebet greift nun aber auch in jenes Gebiet ein, unter dessen Gesichtswinkel wir das übernormale Erfahren vor allem betrachten: es spielt eine bedeutsame Rolle bei der Förderung erwecklicher Vorgänge, es ergänzt somit gewissermaßen nach der aktiven Seite hin, was nach der passiven hin die 'Unterscheidung der Geister' darstellte.

Ich denke dabei nicht an Berichte - sie sind nicht selten -, wonach das Gebet der versammelten Gemeinde einen abwesenden Widerspenstigen oder Spötter gewissermaßen 'zwingt', die Versammlung aufzusuchen, wo er dann dem Einfluß der Andern erliegt; [1] die telepathische Wirkung, falls erwiesen, würde sich hier offenbar auf eine der Bekehrung äußerlich vorausgehende Handlung beziehen.

Näher liegen dem fraglichen Typ die nicht seltenen Fälle, in denen der Anschein besteht, daß durch fortgesetzte Gebete eine wirkliche Änderung der Gesinnung, wenn auch nicht eine Erweckung im engeren Sinne, in einem Abwesenden bewirkt, etwa Ärger und Feindschaft in die freiwillige Bitte um Vergebung übergeführt wurden. [2]

Und obwohl in solchen Fällen die Wirkung oder Mitwirkung des Gebets oder sonstiger telepathischer Einflüsse natürlich nie einwandfrei festzustellen ist, eben weil andere normale Einflüsse sich schwerlich ausschließen lassen, so ist doch auch kein triftiger Grund vorhanden, solcher Deutung Schwierigkeiten zu bereiten, wo sie sich ungezwungen nahelegt - natürlich unter der Voraussetzung der Tatsächlichkeit von Telepathie.

Übrigens fehlen auch Berichte aus dem Munde von 'Empfängern' solcher geistlich-moralischen Fürbitte nicht, die wenigstens die Empfindung einer Beeinflussung, wenn auch nicht ihren Erfolg, ausdrücklich behaupten. Evan Roberts soll häufig ausgesprochen haben, daß Entfernte zur Zeit für ihn beteten.

Er pflegte dann eine Weile gleichsam gespannt zu lauschen, als könnte er diese Gebete hören, und dann 'wieder zu sich zu kommen und mit uns zu reden'. [3] Phillips, der dieses berichtet, behauptet auch, daß er diese Aussagen des jungen Heiligen bei gelegentlicher Nachprüfung bestätigt gefunden habe. -

Als ein Beispiel indes, das strenger unter den hier fraglichen Begriff zu fallen scheint, möchte ich einen Bericht anführen, den Patton aus erster Hand mitteilt.

Der Einsender legt dar, daß sein Vater, ein Mann von 60 Jahren und nahe zu 1000 km von ihm entfernt lebend, eine zwar moralisch hoch stehende Persönlichkeit gewesen, für das Wesen der Wiedergeburt aber durchaus kein Verständnis gehabt habe. Während eines Gebets trat er dem Berichterstatter vor die Seele.

[1] S. z.B. Dubois 225f.; Fursac 40.
[2] S. z.B. Patton 203f. (I. Hand); Ripon 120ff.;  GichteI, Leben 181. Vgl. hierzu die Regula S. Benedicti c. 28 und die buddh. Parallele: Mahâvagga VI, 36,4; Tevijja-Sutta 76ff.; auch Yogasutra II, 35 (Beckh II 29).
[3] Phillips 88. Vgl. übrigens den Bericht Mörikes, bei Fr. Notter, E. M. (Stuttg. 1875) 20.


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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 352)

'Ich rang um ihn (im Gebet), bis ich ihn schließlich Christus übergab und völligen Frieden fühlte. Am nächsten Tage... versuchte ich wieder, für meinen Vater zu beten, wußte aber zu meiner großen Überraschung nichts vorzubringen.

Ich konnte kein Gebet zustande bringen, ich empfand gleichsam einen Verweis, der mich tief demütigte, dafür daß ich den Herrn zu narren wagte, nachdem er meine Bitte bereits erhört hatte. Von dieser Zeit an erwartete ich einen Brief, der die Bekehrung meines Vaters anzeigen würde.'

Ein solcher kam in der Tat, und ein weiterer Briefwechsel stellte fest, 'daß er sich am selben Abend bekehrt hatte, an dem ich für ihn betete'. [1]

An diesen modernen Fall mag hier noch ein ähnliches Beispiel aus fernerer Vergangenheit angeschlossen werden, das übrigens mit Rücksicht auf die Zeit, aus der es stammt, recht gut beglaubigt genannt werden darf.

Das Leben der Heiligen von Siena, dem ich es entnehme, wurde eben unter den Augen einer kleinen Welt gelebt, und ihr Ruhm war schon zu ihren Lebzeiten groß genug, um die zahlreichen fähigen Berichterstatter, die sie fast ständig umgaben, zur schnellen und sorgfältigen Aufzeichnung jeder Einzelheit ihrer Taten anzutreiben.

Unter den vielen Bekehrungen nun, welche S. Katharinas feurige Persönlichkeit bewirkte, sind nicht wenige, in denen die rein gedankliche Beeinflussung dem Anschein nach eine Rolle gespielt haben könnte. [2] Die bemerkenswerteste unter diesen dürfte folgende sein, die ich etwas ausführlicher, wenn auch mit starken Kürzungen der ursprünglichen Berichte, wiedergeben will. -

Zur Zeit der Anfänge von Katharinas öffentlichem Wirken lebte in Siena ein junger Mann aus gutem Hause, Andrea di Naddino de' Bellanti, berüchtigt als Trinker, Flucher, Spieler und gewalttätiger Verspötter der religiösen Dinge.

Im September 1370 tödlich erkrankt, wies er jede Andeutung einer Umkehr mit Wut von sich, so daß Katharinas Beichtiger, P. Thomas della Fonte, der sich selber drei Tage lang völlig vergeblich um den Kranken bemüht hatte, auf dem Heimwege bei Katharina vorsprach und sie durch ihre Umgebung ersuchen ließ (da er sie selbst in der gewohnten Abendekstase vorfand), um die Bekehrung des Andrea zu beten.

Die Heilige, als sie in der fünften Stunde der Nacht zu sich kam und den Auftrag vernahm, begab sich alsbald ins Gebet, in welchem sie bis Tagesanbruch verharrte, ohne indes zunächst eine andere 'Antwort' des Herrn zu erhalten, als die, daß gewisse (im Einzelnen aufgeführte) ruchlose Handlungen des Andrea seine Begnadigung ausschlössen, worauf die Heilige in noch dringendere und persönlichere Bitten ausbrach, die uns die alte Legende natürlich wörtlich mitteilt; bis Christus ihr, um solcher Tränen und Bitten willen, für die Seele des Elenden Gnade versprochen habe.

Es ist dabei natürlich dem Leser, der die orthodoxe Deutung ablehnt, überlassen zu entscheiden, ob er in der Dramatik dieser Antwort eine naive Ausschmückung der Erzähler oder ein Phantasieerzeugnis der fernwissenden Heiligen vermuten will. Jedenfalls habe sich in der Stube des Sterbenden folgender Vorgang abgespielt:

Nachdem er die ganze Nacht hindurch schlaflos geblieben, hatte er in der Dämmerung sein Weib, das bei ihm wachte, aufgefordert, nach einem Beichtiger zu schicken, und sie dabei gefragt, ob sie nicht in einer Ecke des Zimmers, in die er wies, Christus erblicke, der ihm befehle zu beichten, 'und neben ihm jene ManteIlata, die sie Caterina nennen'. Einen Tag nach vollendeter Beichte und Vergebung starb Andrea, den 15. Sept. 1370.

[1] Patton 324,f.; vgl. 344ff. 309ff.
[2] S. z.B. Drane I 66f. 130ff.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 353)

P. Thomas, der sich nach seiner ersten Messe zu Katharina begeben hatte, um zu erfragen, ob sie seinen Wunsch erfüllt habe, hörte von ihr die Einzelheiten der letzten Stunden des Andrea.

Darüber erstaunt, weil er wußte, daß sie 'nie des Andrea Haus betreten oder ihn je gesehen oder gesprochen', fragte er sie, ob sie den Mann beschreiben könne; worauf sie nicht nur dessen Äußeres, sondern auch die Größe des Zimmers, in dem er gestorben, und dessen Ausstattung, ja selbst die Farbe der Bettvorhänge beschrieb.

'Denn', sagte sie, 'unser Herr ließ sich herab, mir Gestalt und Gesicht des armen Mannes zu zeigen, den ich nie zuvor gesehen hatte’. [1] - Ohne die letzten Angaben des Berichtes könnte man immerhin bei der Annahme stehen bleiben,

daß das anhaltende Zureden des P. Thomas nicht ohne Wirkung geblieben sei, ihr Durchbruch aber - begreiflich beim Zustande des Sterbenden - sich mit einer halluzinatorischen Wahrnehmung des Heilandes und der frommen Frau verbunden habe, von der P. Thomas in seinen dreitägigen Ermahnungen gesprochen haben mochte.

Wie der Fall aber liegt, enthält er anscheinend nicht nur Gedankenübertragung in doppelter Richtung, sondern anscheinend auch die Tatsache des gegenständlichen Fernsehens, und dies wäre ein völlig neuer Typ übernormalen Erfahrens, wenn sich annehmen ließe, daß die erfahrenen Inhalte (besonders die Äußerlichkeiten des Zimmers) nicht dem Vorstellungsbestande der Ortsanwesenden entstammten, womit der Vorgang freilich auch in diesem Betracht auf den telepathischen Typ zurückschrumpfen würde.

Je geringer oder je zweifelhafter indessen in ähnlichen Fällen die Beteiligung eines normal Wissenden wird, dem die Übertragung des übernormal Erfahrenen zugeschrieben werden könnte, desto mehr nähern wir uns jenem Typ übersinnlicher (und doch nachprüfbarer) Erkenntnis, der mit dem volkstümlichen Ausdruck Hellsehen belegt werden kann.

Das Ausschlaggebende in einem reinen Fall von Hellsehen würde die nichtsinnliche Erlangung eines gegenständlichen Wissens sein, das zur Zeit der Erlangung überhaupt in keinem Bewußtsein (oder Gedächtnis) von Mensch oder Tier enthalten wäre. In den meisten Fällen beruht die Natürlichkeit der Einordnung eines Vorgangs als Fernsehen -

anstatt als Fernübertragung von Vorstellungen - darauf, daß der anscheinende Hellseher etwas sieht, was der etwa vorauszusetzende telepathische 'Agent', falls überhaupt, jedenfalls ganz anders wahrnimmt: denn wer einen entfernten Schauplatz oder Vorgang 'hellsieht', der sieht eben den angeblichen Agenten in dieser Umgebung,

als Gegenstand unter Gegenständen - wie Jesus den Nathanael unter dem Feigenbaum [2] -, nicht aber den Ort, wie er sich im Bewußtsein des Agenten spiegelt; der Hellseher scheint also telepathisch allenfalls zum Hellsehen angeregt, sein Sehen selbst aber kein 'telepathischer' Vorgang mehr zu sein.

[1] Das. 125ft. Die Zeugen, Bartolomeo v. Siena u. Thomas Caffarini (die später im 'Prozeß' der Heiligen aussagten) befanden sich beide z.Z. des Ereignisses in Siena, und Caffarini hatte, wie er sagt, 'den Andrea von der Wiege an gekannt'.
[2] Ev. Joh. 1,48; vgl. Mark. 11, 2ff. Ebenso bezügl. Gautama Buddhas: Maha-Parinibbana-Sutta I 27 (SBE XI); Apollon. v. Tyana: Perty, M. E. II 281.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 354)

In der Geschichte der Kamisarden finden sich mehrere Erlebnisse, die sich einer solchen Begriffsbestimmung des Hellsehens leidlich zu nähern scheinen. Das folgende berichtet Elie Marion von sich selber: Eines Tages sprach der 'Geist' durch ihn 'etwa diese Worte': 'Ich versichere dich, mein Kind, daß ein Mann in diesem Augenblicke [1] zu einem deiner Feinde gegangen ist, mit dem er über deine Auslieferung redet.

Der Wohnort dieses Menschen ist zu deiner Linken, und er wird morgen als einer der ersten zur Versammlung kommen. Ich werde ihn dir zu erkennen geben.' 'Augenblicks ließ mich der Geist diesen Menschen sehen, wie er mit dem Sieur Camp-redon, dem Unterdelegierten des Intendanten in Barre, auf- und ab- schritt, gleich als befände ich mich mit ihnen in der gleichen Stube.

Ich sah sie und hörte alles, was sie sprachen, deutlich und ohne Schwierigkeit. .. Ich sah sogar die Frau des Herrn C., welche ging und kam und sich ab und zu an der Unterhaltung beteiligte. . .' Marion gibt dann die Einzelheiten der Unterhaltung an, die seine Verhaftung und die Festsetzung des Verräterlohns (auf 10 Dukaten) betraf.

Seinem Freunde La Valette, der mit ihm verraten werden sollte, beschrieb er den Ungetreuen so genau, daß jener ihn zu erkennen vermochte.

Am nächsten Tage, während des Psalmensingens in der Versammlung, wurde er abermals vom Geiste ergriffen und beschuldigte mit lauter Stimme einen Anwesenden des Verrats, wiederholte die ganze Unterhaltung, die er 'angehört' hatte, und erblickte, wieder zu sich kommend, den falschen Bruder, den er nach seiner Vision erkannte und der seine Verfehlung eingestand.[2]

Die katholische Hagiologie trägt zu dieser Gruppe so viel bei, daß die Auswahl der Beispiele nicht leicht ist.

Mit Katharina v. Siena stellten ihre Beichtiger, Thomas della Fonte und Bartolomeo Dominico, einen bewußten Versuch an, indem sie ihr auftrugen, anzugeben, was sie um 2 und 3 Uhr in der Frühe des gleichen Tages getan hätten, worauf sie ihnen die Teilnehmer an einer Zusammenkunft in der Zelle des Subpriors und die Gegenstände ihrer Unterhaltung nannte.

Zu diesen Angaben wäre sie natürlich durch Gedankenübertragung instand gesetzt worden, es fällt aber auf, daß die - wenigstens subjektiv schlechthin verlässige - Frau am nächsten Tage dem Bartolomeo, welcher der Sache noch prüfend nachging, die folgende Versicherung gab:

'Wisse, mein Sohn, daß mein göttlicher Erlöser, nachdem er mir eine geistliche Familie gegeben hat, mir nichts, was diese angeht, zu wissen vorenthält.' Ob sie denn auch wisse, was er gestern abend, zu einer bestimmten Stunde, getan habe?

'Gewiß, erwiderte sie, ihr schriebt über die und die Sache. ... Ich sehe alles, was ihr tut, und wenn ihr gute Augen hättet (hier scheint eine Anspielung auf bildhaftes  Sehen gegeben), so würdet ihr mich erblicken, wie ich euch erblicke.' [3]

In manchen Fällen schaut der ekstatisch gewordene Heilige einem längeren Verlaufe von Ereignissen hellsehend zu, und die Berichte fügen auch dann gelegentlich bei (was wir uns merken wollen), daß der Seher geglaubt ' habe, am Ort des Geschehens anwesend zu sein.

[1] tout présentement.
[2] Misson 72f.; vgl. 79. 91. 109f.
[3] Drane I 151f. - Thom. della Fonte schrieb 15 Jahre hindurch laufende Notizen über seinen Verkehr mit der Heiligen nieder.


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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 355)

So wurde S. Teresa am 26. Juli 1570 'im Gebet' auf die hohe See geführt und war beim Tode von 40 Priestern und Novizen der Gesellschaft Jesu anwesend, die auf dem Wege nach Brasilien von Korsaren gemordet wurden, hörte die Stimmen und erkannte die ihres Verwandten Francisco Serez Godoi.

Diese Vision erzählte sie P. Balthasar Alvarez einen Monat ehe die Nachricht von dem Unglück in Spanien bekannt wurde. [1] - In ähnlicher Weise hatte S. Franz Xaver ein vollständiges Ferngesicht des Seezuges und einer Seeschlacht der Flotte von Sumatra gegen die malakkanischen Seeräuber.

Die Expedition war auf seine Veranlassung unternommen worden und der Heilige blieb während der ganzen Zeit (?) in Ekstase. Diese erreichte die höchste Klarheit während der in einer Entfernung von 200 portugiesischen Meilen gelieferten Schlacht selbst, so daß er, am Altar bewußtlos niedergesunken, ihr im Geiste beiwohnte und den Sieg verkünden konnte, der mit dem Verlust von nur drei Mann gewonnen wurde.

Er soll dabei mehrere Einzelheiten angegeben und den Tag bestimmt haben, an welchem der erste Siegesbote anlangen würde. [2]

Bekannt ist auch der Bericht über S. Alfonso Liguori, der am 21. Sept. 1774 in Ariengo nach der Messe in seinem Lehnsessel reglos und wie schlafend wurde und, als er am nächsten Tage zu sich kam, seiner Umgebung bekannt gab, daß er sich beim Papste aufgehalten habe, der soeben gestorben sei.

Clemens XIV. starb am 22. morgens um 7. Es bleibt allerdings zu bedenken, daß der Heilige die berühmte Prophezeiung gekannt haben mag, welche dem Papste Ganganelli, der die Gesellschaft Jesu aufhob, sein Ende an diesem Tage ansagte. [3]

Die vorstehenden Fälle anscheinenden Hellsehens enthielten mehrfach als typisches Element das Bewußtsein des Sehers, daß er sich in die Ferne fortbegeben habe, um am Orte des Geschauten anwesend zu sein. Dieser Hergang erweitert sich um ein Glied, wenn sich mit dem Bewußtsein einer solchen 'Exkursion' die Tatsache des Gesehenwerdens des Sehers am Orte seines Schauens verbindet. [4]

Eins der klassischen Beispiele für diesen Doppeltyp ist die Geschichte der ersten 'Begegnungen' zwischen M. Olier und der Mutter Agnes von Jesus, eine Geschichte, die im 18. Jahrhundert in ganz Frankreich ziemliche Berühmtheit genoß.

M. Olier, während einer geistlichen 'Retraite' in St. Lazare im Gebete liegend, sah, wie er selbst wörtlich berichtet, eine Frau von großer Majestät auf sich zukommen, die in der einen Hand ein Kruzifix, in der andern einen Rosenkranz hielt und von einem 'Schutzengel' gefolgt war, der ihr die Schleppe des Chormantels nachtrug, sowie ein Tuch, in welchem er die Tränen auffing, in die sie gebadet zu sein schien und die sie  mit den Worten 'Ich weine um dich' ihm gegenüber rechtfertigte.

Es ist wichtig  zu bemerken, daß Olier die Erscheinung, die sich wiederholte, das erstemal für die Mutter Gottes hielt, also jedenfalls nicht eine Lebende in ihr erkannte: hierin scheint eine Bestätigung der Tatsache zu liegen (die der Bericht übrigens als gewiß voraussetzt), daß Olier die Mutter Agnes, welche die Erscheinung dargestellt habe, zum mindesten ihrem Äußern nach nicht kannte. Erst bei der Wiederholung der

[1] Bei Joly 72. Ähnliches mehrfach von S. Bernardino berichtet.
[2] Bei Perty, M. E. II 261f. Vgl. Ribet II 176 (5. Angelo v. Acri).
[3] Bei Ribet II 200; s. das. über S. Pierre  Régalat, S. Brigitte v. Irland u. a.; vgl. Daumer I 146. 147 (S. Macarius; Lidwina v. Schiedam); Chasle 155; Hesek. II, I. 24; 8, 3f.
[4] Vgl. o. die Bekehrungsgesch. des Andrea di Naddino.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 356)

Erscheinung fiel ihm deren Kleidung auf, welche die einer Dominikanerin war, worauf er sie - wir erfahren nicht weshalb - für die Erscheinung einer Lebenden ansah und zu erforschen beschloß, in welchem Kloster sie sich aufhalte.

M. Olier stand damals im Begriff, eine Missionsreise nach Pébrac zu unternehmen: zwei Meilen von Pébrac entfernt, in Langeac, lebte die Mutter Agnes. Bei seiner Ankunft in Riom, 16 Meilen von Langeac, hörte Olier - zum erstenmal, wie uns zu verstehen gegeben wird - von der Heiligkeit der Agnes, 'einer Dominikanerin', reden.

Dies rief ihm seine Visionen ins Gedächtnis, und in Brioude (vier Meilen von Langeac) beschloß er sie aufzusuchen, traf sie nach mehreren vergeblichen Besuchen im Sprechzimmer des Klosters, dem sie als Priorin vorstand, bat sie, sich zu entschleiern, und erkannte in ihr das Original seiner Visionen.

Als er ihr sagte: Meine Mutter, ich habe Sie schon anderswo gesehen, erwiderte sie: 'Das ist wahr, Sie haben mich zweimal in Paris gesehen, wo ich Ihnen während ihrer Retraite in St. Lazare erschienen bin, weil ich von der allerheiligsten Jungfrau den Auftrag zu Ihrer Bekehrung empfangen hatte.’ - Die Entfernung von Langeac bis St. Lazare beträgt hundert Meilen. -

Die Kenntnis dieses Hergangs stützt sich vor allem auf M. Oliers eigene Erzählung, sodann auf die Aussagen von 24 Ohrenzeugen im 'Prozeß' der Mutter Agnes, darunter diejenige des Priesters Palade, welcher aussagte, daß zur Zeit ihrer Erscheinungen der Körper der Priorin leblos gewesen sei, so daß der herbeigerufene Klosterarzt, M. Romeuf, sie für tot hielt.

Dies bezeugte auch der gleichzeitig herzugerufene M. Terrisse, dessen Aussage von seinem Neffen mitgeteilt wurde. [1]

Deutlich auch wird der hier fragliche Typ verwirklicht in der Erzählung von der hl. Teresa, die in der Todesstunde einer Nonne in Segovia in Ekstase fiel und der Sterbenden in Medina deI Campo sichtbar und hörbar, mit Gesten und Worten Mut einflößte, während sie selbst diese Szene 'sah'. [2]

Was an den bekannten Bericht aus dem Leben des hl. Ambrosius in Mailand erinnert, der nach einer Ekstase am Altar den Tod seines Freundes, des Bischofs Martin von Tours meldete, dem er - was sich bestätigt habe - das Totenamt gehalten; vermuten wir vorsichtiger: an dessen Sterbebett er gleichzeitig gesehen worden. [3]

Die Berichte dieses Typs enthalten nichts, was uns zwänge (ihre Genauigkeit vorausgesetzt), in den gesehenen 'Phantomen' der Hellsehenden mehr zu erblicken als Halluzinationen, von denen man annehmen könnte, daß sie gleichzeitig mit dem Akte des Hellsehens durch den Hellseher telepathisch erzeugt seien.

Auch wenn das Phantom nicht nur gesehen, sondern auch gehört wird, ja sogar wenn es auf Fragen antwortet, liegt kein Zwang vor, über dieses Schema hinauszugehen.

So soll S. Josef von Copertino einem Versprechen gemäß am Sterbebette seines Freundes Piccino erschienen sein und der Schwester Teresa Fatali auf die Frage, wo er herkomme, geantwortet haben: 'Um die Seele des Piccino dem Herrn zu

[1] Aus Faillon, Vie de M. Olier I 93. bei Ribet II 197 f.; vgl. M. de Lantages, Vie de la Vén. mère Agnes (éd. M. Lucot) II 251; Bougaud, Hist. de Ste. Chantal I 97 (erste ekstatische 'Bekanntschaft' mit S. Franc. de Sales); die 'Begegnung' des S. Franc. Xaver mit einer (z.Z. kataleptischen) Japanerin in Historiae Soc. Jesu pars I .., auct. Nic. Orlandino ... (Antwerp. 1620) 225 (1. IX § 213-5); Emmerich I 371.
[2] In Borderland II 38.
[3] Aus Gregor. Turon. De gloria martyr. bei Daumer II 224. Vgl. auch Emmerich I 168f. II 136.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 357)

empfehlen’. [1] Auch wenn S. Antonio von Padua, während er (1226) in Limoges in der Nacht auf den Karfreitag in der Kirche St. Pierre du Gueyroix predigt, plötzlich verstummt, und zugleich im Chor der ziemlich entfernten Franziskanerkirche den Brüdern bei der Frühmesse erscheint, die Lektion von Anfang bis zu Ende singt, wie ihm als Custos oblag,

und sogleich wieder verschwindet und in seiner Predigt fortfährt - brauchen wir das telepathische Schema nicht zu verlassen, zumal wir nicht einmal mit Sicherheit erfahren, ob das Singen nur in Bewegungen der Lippen, oder auch in gehörten Tönen bestanden habe. [2]

Die berichteten Tatsachen halten sich aber nicht immer in diesen Grenzen. Vielmehr behaupten die Schilderungen des Phantoms mitunter Züge, die ihm eine gewisse Wirklichkeit im Raume zuzuschreiben scheinen.

Diese Merkmale der Objektivität sind freilich so grober Natur, daß sie alsbald den Verdacht legendarischer Erfindung erwecken. Indessen prüfen wir hier ja nicht die Ansprüche solcher Berichte auf Glaubwürdigkeit, sondern verzeichnen lediglich Ansprüche der Mystiker auf übernormales Erfahren.

Einen der berühmtesten hagiologischen Berichte dieses Typs enthält die Biographie jenes heldenhaftesten unter den ersten Jesuitenmissionaren, S. Franz Xaver. Während einer seiner vielen Seereisen war eine dem Schiffe angehängte Schaluppe durch den Seegang abgetrennt und von den Insassen des Hauptfahrzeuges bereits verloren gegeben worden,

indes der Heilige ihre Wiederauffindung binnen dreier Tage auf das bestimmteste voraussagte, das Wiederhissen des Segels auf seinem Schiffe verhinderte und sich brünstigen Gebeten für die Gefährdeten hingab:

während einiger Zeit habe er dann, ohne ein Wort zu reden, wie wenn er eingeschlafen wäre, sich auf das Steuer gelehnt. Als aber schließlich die Schaluppe wieder an das Schiff herangekommen war, sagten ihre Insassen aus, daß Franz Xaver immerzu unter ihnen gewesen sei und sie geführt habe, indem er selbst das Steuer bediente. [3]

Ich bin versucht, eine andere ziemlich bekannte Geschichte hier anzuschließen, obgleich das Phantom - seine Tatsächlichkeit vorausgesetzt - nicht mehr als Sichtbarkeit und Hörbarkeit (also Eigentümlichkeiten von Halluzinationen) besessen zu haben braucht, indessen müßte es diese Eigenschaften massenhaft und vor so Vielen gezeigt haben, daß der Eindruck der 'Objektivität' sich sehr natürlich aufdrängt.

Nebenbei gesagt, enthält der Bericht (was so viele hagiologische nicht enthalten) einige offenbare Versuche der Stützung seiner Glaubwürdigkeit, vielleicht weil die behaupteten Tatsachen selbst dem kirchlichen Glaubensvermögen jener Zeit schwer glaublich erschienen sind.

Die durch ein umfangreiches Marienleben [4] bekannte Maria von Agreda will nämlich über 500mal unter Zurücklassung ihres Körpers die 'Reise' von Spanien nach Neu-Mexico gemacht und dort an der Bekehrung der Indianer gearbeitet haben.

[1] Ribet II 190ff.
[2] Lepitre, aaO. 81 f.; vgl. Vacandard II 536; Imbert I 210. 236f. 290.
[3]) Aus Bouhours, Vie de S. Fr. X. (1682) 445ff. bei Ribet II 185ff.
[4] La Ciudad de Dios; 17. Jahrg.


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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 358)

Während ihr Leib in ekstatischer Betäubung lag, hatte sie das Bewußtsein, über Länder und Meere hinauszuziehen, Nacht und Tag, trübes und heiteres Wetter in den durcheilten Gegenden zu beobachten, nach ihrer 'Ankunft' die Leute sprechen zu hören und zu ihnen zu reden und, obschon sie ihre eigene Muttersprache gebrauchte, von ihnen verstanden zu werden, die Länder selbst mit allen ihren Eigentümlichkeiten und Einrichtungen kennen zu lernen usw.

Es sollen sogar Rosenkränze aus ihrer Zelle verschwunden sein, die sie in Amerika verteilt zu haben glaubte. Deutet man diese letzte Einzelheit ohne weiteres als legendarisches Einschiebsel, so wird man den Fall unbedenklich als einen von zusammenhängenden halluzinatorischen Träumen einordnen.

Weitergehende Ansprüche indessen begründet der Bericht durch folgende Behauptungen: Bei der Entdeckung Neu-Mexicos durch die Spanier, welche der Mehrzahl jener angeblichen 'Exkursionen' zeitlich nachfolgte, sollen 'bekanntlich' gewisse indianische Stämme zum großen Staunen der franziskanischen Missionare sofort um die Taufe gebeten und sich im Katechismus wohlbeschlagen gezeigt haben.

Sie gaben an, daß sie seit langem häufig von einer Frau besucht würden, die nach jedem Auftreten bei ihnen wieder verschwinde, und die sie unterrichtet und ihnen aufgetragen habe, die Missionare aufzusuchen, um die Taufe zu empfangen.

Da diese Frau nach der Beschreibung der Leute eine Nonne zu sein schien, zeigte man ihnen ein Bild der Luise de Carrion, einer Nonne, deren Kleidung sie als übereinstimmend mit derjenigen ihrer Lehrerin bezeichneten, während das Gesicht ein ihnen fremdes sei.

Auf gewisse begründete Vermutungen hin schickte darauf der Generalminister des betreffenden Ordens, P. Bernardino von Siena, den P. Alonso de Benavidas aus Neu-Mexiko nach Agreda, der zusammen mit dem Provinzial des Ordens, P. Sebastian Marcilla, und ihrem Beichtiger, Francisco Andrea de la Torre, die Maria verhörte, wobei sie, pflichtgemäß gehorchend, ihre Erfahrungen berichtete und die eigenen Zweifel an deren Wirklichkeit aussprach.

Der erstgenannte, aus Amerika eingetroffene Pater soll durch eingehendes Verhör festgestellt haben, daß sie über die Namen, Eigentümlichkeiten, Sitten, Gewerbe usw. jenes Landes so genau Bescheid gewußt habe, als wenn sie jahrelang dort gelebt hätte. Auch habe sie ausgesagt, daß sie dort den Benavidas nebst anderen Patres gesehen habe, und ihm den Tag, die Stunde und den Ort angegeben, wo dies geschehen, wer in seiner Gesellschaft gewesen und was den Einen von den Andern unterschieden habe. [1]

Die Fähigkeit der übernormalen Kenntniserlangung, die wir bisher nur die normalen räumlichen Grenzen überschreiten sahen, greift aber auch auf das Gebiet des Zeitlichen über: der Seher erfährt das Vergangene und das Künftige durch unmittelbare Einsicht und über alle Möglichkeit der Schlußfolgerung aus normal erfahrenen Tatsachen hinaus.

Ein mögliches Beispiel von Rückschau in der Zeit bietet ein Tagebuchbericht George Fox' über seinen ersten Besuch in der Kathedralstadt Lichfield. Als er die Stadt erblickte, 'kam das Wort des Herrn zu (ihm), daß (er) dorthin gehen müsse'. Nachdem er seine Begleiter in einem Hause untergebracht, begab er sich auf ein

[1] Nach der Biogr. von Jos. Ximenés Samaniego bei Ribet II 193. Gesehenwerden durch Viele auch: Ribet II 190ff. (5. Angelo v. Acri); bei S. Jos. v. Cupertinos S. Lionardo de Porto Maurizio u.a.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 359)

Feld, eine engl. Meile von der Stadt, wo ihm 'der Herr befahl, die Schuhe abzuziehen', was er trotz des Winters tat, 'denn das Wort des Herrn war wie Feuer in mir'. Als er somit barfuß die Stadt wieder betreten, 'kam das Wort des Herrn wieder zu (ihm) und sprach: Rufe: Wehe über die blutige Stadt Lichfield'.

Dies tat er denn auch auf dem menschenerfüllten Markt und an anderen Stellen der Stadt, und 'während ich so rufend durch die Straßen ging, schien mir ein Strom von Blut durch die Straßen zu fließen, und der Marktplatz erschien mir wie eine Blutlache.  

Danach überkam mich ein tiefes Nachsinnen, weshalb ich gesandt sein sollte, gegen diese Stadt auszurufen und sie die blutige Stadt zu nennen. ... (Erst) später erfuhr ich, daß z. Zt. des Kaisers Diocletian tausend Christen den Märtyrertod in Lichfield erlitten hatten.' [1]

Wenden wir uns dem sehr viel reichlicher ausgestatteten Kapitel der zeitlichen Vorschau oder Prophezeiung zu, so übergehe ich (aus Gründen, die später zur Sprache kommen werden) die häufigen Voransagen Heiliger betreffs eigener körperlicher und seelischer Leiden sowie des eigenen Todes. [2]

Ein weniger fragwürdiges Interesse, wie sich zeigen wird, beanspruchen dagegen Voraussagungen, die sich auf körperliche Erfahrungen und das Sterben Anderer beziehen.

So behauptet S. Teresa, daß sie den Tod ihres Freundes S. Peter von Alcantara vorausgewußt und ihm davon Mitteilung gemacht habe. [3] Auch S. Philipp Neri hat Krankheiten, Genesungen und Todesfälle angekündigt. [4]

Von Ann Lee erzählt Peter Dodge das Folgende: 'Einmal begab ich mich nach Watervliet (dem Wohnsitz der merkwürdigen Frau), in Gesellschaft eines jungen Weibes, der Tochter von Jonathan Wood, namens Rhoda, deren Bruder Jonathan kurz zuvor gestorben war.

Als wir im Begriff waren heimzukehren, gab Mutter (Lee) ihr den Auftrag, heimzukehren und sich auf die andere Welt vorzubereiten: denn, sagte sie, so gewiß dein Bruder Jonathan tot ist, wirst auch du bald sterben. Wir kehrten heim und. . . Rhoda erkrankte und starb innerhalb weniger Wochen.' [5]

Daß die Worte der Lee eine Vorbereitung auf einen besonders baldigen Tod gefordert hätten und nicht Todesbereitschaft im allgemeinen, können wir allerdings nur daraus schließen, daß diese Worte von denen, an die sie sich richteten, so aufgefaßt wurden.

Übrigens wird zuweilen die Jugend und völlige Gesundheit derer, an die eine solche Todesansage gerichtet war, ausdrücklich hervorgehoben. [6] Besonders bedeutsam müßten aus naheliegenden Gründen die Fälle erscheinen, in denen der vorausgesagte Tod ein plötzlich von außen veranlaßter ist, also vom Standpunkt des Bedürfnisses nach 'natürlicher' Erklärung als ein 'zufälliger' zu gelten hat.

So habe Vianney, der Curé von Ars, einem jungen Manne, der kurz darauf erschossen wurde, gesagt, er solle sich nicht, wie er beabsichtigte, auf seine Hochzeit, sondern auf den Tod vorbereiten. [7]

[1] Bei James, Varieties 8.
[2] S. z.B. Görres I 398f. (Rosa v. Lima); Hildegard 28. 100; Preger I 60 (Mar. v. Oegnies); Imbert I 198. 290; Lechner 229; Martyr. Polykarp. c. 5 (Weinel 174).
[3] S. Teresa I 247 (c. 27).
[4] Bacci I 362ff. 371 ff.
[5] Wells 123.
[6] S. z.B. Labis, Vie de S. Léonard (Tournai 1868) 295 f.; Labis (Marie des Anges) 161.
[7] Vianney 142. (Hatte der Rat doch nur allgemein-erbaulichen Sinn?) Vgl. Altchristliches bei H. Achelis, aaO. II 20ff.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 360)

Aus den Reihen der Kamisarden werden ähnliche Vorfälle in großer Zahl gemeldet. Wir begegnen selbst der (natürlich unbewiesenen) Behauptung, alle Gefallenen und Hingerichteten seien vorher 'benachrichtigt' worden. Häufig sei vor der Schlacht Einem die inspirierte Mitteilung geworden:

Fürchte nichts, mein Kind, ich werde dich führen, ich werde dir beistehen, worauf der Betreffende sich tollkühn, wie eisengepanzert ins Handgemenge gestürzt habe. [1] 'Als wir - so lautet eine Aussage Arnassans - nach der Niederbrennung des Dorfes Belveze auf dem Marsche waren,

wurde der Bruder Serre, der die Gabe besaß, vom Geiste ergriffen und gab an, daß ein Gewisser aus der Gruppe, der aus einem bestimmten Orte stamme, in Belvezé von Verbotenem genommen habe und daß Gott binnen zwei Tagen seine Tötung zulassen werde; er werde binnen zwei Tagen in einem Kampfe fallen.

In der Tat stießen wir zwei Tage danach auf den Feind, es kam zum Treffen und wir verloren einen einzigen von unsern Leuten, welcher aus dem vom Bruder Serre genannten Orte stammte.' - Ein andermal sagte der Geist dem Cavalier, 'daß wir einen Toten und zwei Verwundete haben würden, welches eintraf’. [2]

Ein Bruder des G. Bouguier, dem die Ansage wurde: 'mein Kind, sei gewarnt, daß du binnen kurzer Zeit verwundet werden wirst', erhielt 14 Tage später einen Schuß in den Schenkel, [3] und dem Arnassan wurde seine Gefangennahme von einem 'inspirierten' Mädchen eine Woche vorher 'auf den Tag' vorhergesagt. [4]

Das in einigen der obigen Beispiele auffallende 'automatistische' Auftreten der Ansage ist ein Umstand, dessen Bedeutsamkeit uns noch deutlicher werden wird, als dies schon bei geringem Nachdenken der Fall ist.

So lesen wir in Richard Weavers Leben von einer erregten Straßenszene (im Dez. 1857), während welcher der Evangelist mit einem Weibe aneinandergeriet, das auf seinen religiösen Zuspruch mit greulichen Schimpfworten antwortete.

'Ganz plötzlich und ehe er seine Worte überlegen konnte, fühlte er sich gezwungen zu sagen: Mrs. -, wir haben jetzt Dezember 1857, und so wahr ich ein Mann Gottes bin, glaub ich, daß ehe dieser Monat zu Ende ist, Sie tot und verdammt sein werden, falls Sie nicht Buße tun für Ihre Sünden und sich zu Gott bekehren.'

Die Frau, die auch hierauf mit Flüchen antwortete, sei 14 Tage später, noch immer fluchend, an irgendeinem plötzlichen Krankheitsanfall gestorben. [5]

Wenn der Tod so häufig Gegenstand einer Vorschau seitens des Jenseitigen ist, so dürfte dies der Wichtigkeit entsprechen, die ja dieser Lebensabschnitt in seinen Augen, weit mehr als in denen des Halb- oder Ungläubigen, besitzt; ebenso ist es begreiflich, daß sich seine prophetische Gabe mit den Zufälligkeiten und (in seinen Augen) Nichtigkeiten des Lebens nur ganz ausnahmsweise beschäftigt. [6]

Dagegen ist ein anderer Typ von Voransagen für seine ganze Gesinnung bezeichnend, die ja dem Leben die Aufgabe einer eindeutig zielstrebigen Entwicklung zuschreibt: ich meine die Gesichte

[1] Misson 119.
[2] Das. 28f.
[3] Das. 37.
[4] Das. 29f. Vgl. Fursac 153ff.
[5] some sudden seizure. - R. C. Morgan, The Life of R. W. 72. Ebenso 'automatisch' Radajew bei Grass 220. Gewisseste Ansage (nach Gebet) der Genesung eines dreimal für hoffnungslos erklärten Sterbenden: Maclean, Life of C. A. Toney 82.
[6] Vgl. übrigens noch Apgesch. 11, 28; 21, 11. über Zinzendorfs häufige Prophez. s. Howitt II 406f.


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Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 361)

und Ahnungen, die das ganze Wesen einer einzel-persönlichen Zukunft, vor allem ihre geistliche Bedeutsamkeit zu bestimmen suchen.

So habe S. Teresa von zwei kleinen Kindern unter achten, die ihr zugeführt wurden, prophezeit, das eine werde ein großer Heiliger, ein Wohltäter vieler Seelen und Verbesserer eines großen geistlichen Ordens werden, während dem andern (dem Berichterstatter selber) schwere Schicksalsschläge bevorständen.

Beide Vorhersagungen seien eingetroffen; das erstgenannte Kind wurde der spätere S. Juan Baptista de la Concepcion, Reformator der Trinitarier. [1]

Aber naturgemäß befassen sich diese - wenn ich so sagen soll - biographischen Vorgesichte in erster Linie mit dem frommen Seher selbst, indem sie ihn seine eigene künftige geistliche Entwicklung als Ganzes oder in wesentlichen Teilen schauen lassen; und diese sind für uns offenbar von besonderer Bedeutung, indem hier die übernormale Erkenntnis in engster Verbindung mit den erwecklichen Trieben selbst erscheint, mithin eine Verwandtschaft beider sich nahelegt.

Einer der besten religiösen Romane aller Zeiten hat dies Moment mit sicherem Gefühl in die Grundzüge seiner Darstellung verwoben: Piero Maironi, der Titelheld von Fogazzaros Il Santo, schöpft bekanntlich die Gewißheit seiner inneren Bestimmung, wie auch die bittersten Zweifel an ihr, z.T. aus einem Gesicht, in welchem er sich selbst in einer krönenden Schlußszene seines Lebensweges geschaut hat.

Ein hagiologisches Beispiel dieser Gattung bietet etwa ein Gesicht, in welchem am 3. Okt. 1396 der schwerkranke S. Vincent Ferrer den von S. Dominicus und S. Franciscus begleiteten Heiland erblickte, der ihn aufstehen hieß, das baldige Ende des herrschenden Schismas verhieß und ihm befahl, auf Predigt auszuziehen, wozu er ihn besonders auserlesen.

Er verhieß ihm Befestigung in der Gnade, Sieg über alle Verfolgungen, erfolgreiches Predigen in ganz Europa und frommen Tod in einem fernen Lande. Dann berührte er mit der Rechten des Heiligen Gesicht und sprach: Mein Vincent, stehe auf, und verschwand. Vincent 'fühlte sich geheilt und sein Herz mit unaussprechlichem Trost erfüllt'.

So die ersten Biographen. S. Vincent selbst erzählte die Vision 15 Jahre später in einem Brief an Benedict XIII. kürzer. Danach seien ihm die beiden Heiligen und Jesus im Schlaf erschienen und die Rede Jesu nur ein 'Verstehenlassen' gewesen, 'in Worten, die nur die Seele hörte'. Das Eintreffen der Ansagen ist bekannt. [2] -

,Ähnlich soll Vianney während einer Messe seine Seele von Licht und Glücksgefühl überströmt gefühlt und eine Offenbarung der Zukunft seiner Pfarre, der herzuströmenden Menschenmassen und der stattfindenden Heilungen und Bekehrungen empfangen haben. [3]

Der kleine Kreis der Shakergemeinde liefert uns eine ganze Reihe von Beispielen für diese prophetische Kenntnis der eigenen Bestimmung. Ann Lee selbst behauptete von ihrer englischen Lebenszeit:

'Ich wußte durch göttliche Offenbarung, daß Gott ein auserwähltes Volk in Amerika hatte, ich sah einige von ihnen im Gesicht; und als ich ihnen in Amerika begegnete, kannte ich sie.' [4] Und James

[1] Zit. in Borderland I 420f. Verwandtes bei Görres II 133f.; Tir. Ekst.II 133; J. Terrien, Hist. du R. P. de Clorivière (Par. 1892) 110. 114; Rolland, Hist. de S. François de Paule ... (Par. [1874]) 42.
[2] Pradel 32f.
[3] Vianney 58.
[4] Evans, Shakers 138. Vgl. ihre Prophez. eines großen 'Werkes Gottes in beträchtl. Entfernung im Südwesten': Wells 123.


Kap XXXVI. Übernormales und nachprüfbares Erkennen bei Mystikern.              (S. 362)

Whittaker, einer ihrer hauptsächlichsten Jünger, behauptete von der Zeit seiner geistlichen Anfänge, da seine 'Seele erweckt wurde und er fand, daß er ein Kind des Zornes sei':

'Zu dieser Zeit sah ich in einem Gesicht meine eigene Seele mit Mutters (d.i. Ann Lees) in Amerika, und ich hörte alle Unterredungen, die zwischen uns stattfanden, und (sah) die Männer, die uns in Albany ins Gefängnis warfen; und doch habe ich (später) während der ganzen Zeit meiner Gefangenschaft nicht ein einziges Mal mich meiner Vision erinnert;

aber sobald wir freigelassen wurden, kam mir alles lebhaft ins Gedächtnis.' [1] - Eine andere Shakerin, Lucy Wight, verfiel im Alter von 19 Jahren während eines 'Nervenfiebers' in eine Art von Trans und wurde darin 'in der Geisterwelt' -

wir würden sagen: in einem Gesicht außerhalb der Wirklichkeit - von einem Manne in ein Haus geführt, in welchem viele Menschen versammelt waren, deren 'Reinheit' sie lebhaft und für sich selbst beschämend empfand und unter denen ein Mann umherging, der sich 'unter der Einwirkung des Geistes Gottes' befand, also vermutlich 'in der Kraft' redete.

Es ist nun zunächst bezeichnend, daß Lucy Wight durch dies Gesicht sich innerlich 'erweckt' fühlte und eine jahrelange Suche nach einem Ausweg aus ihren Sünden begann.

Die Erfüllung ihres Gesichtes fand sie aber erst vier Jahre später, als sie zu den Shakern kam und bei ihnen das Haus ihrer Vision, die anwesenden Leute, und in dem 'Ältesten' John Hocknell den Mann 'unter der Einwirkung des Geistes' zu erkennen glaubte, so daß sie nach ihrer Heimkehr die Sache ihrem Vater so darstellte, der sich der früheren Erzählung ihrer Vision noch erinnerte, ein Umstand, der die Bedeutsamkeit beweist, die das Gesicht von vornherein für das Gefühl der Seherin gehabt haben muß.

'Alle Szenen jener einzigartigen Vision, sagte sie, wurden für mich an diesem Tage in überraschender Weise verwirklicht.' [2]

[1] Evans, aaO. 161
[2] Wells 65ff. Vgl. Hildegard 44; Guyon, Vie II 17; Baxter, Nrarative 38ff. 89. Zahlreiche mittelalt. Berichte bei Zoepf 170ff.  Vgl. o. S. 335f.

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