Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 325)

Indessen ist die 'Reihe', in die wir die Erfahrungen unmittelbarer mystischer Erkenntnis zu ordnen unternahmen, mit den besprochenen Erfahrungen der Wahrheit dogmatischer Tatsachen noch nicht 


XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 326)

abgeschlossen. Die Fälle, von denen mir zunächst zu berichten bleibt, unterscheiden sich von den bisherigen vor allem durch größere Allgemeinheit, Abstraktheit und metaphysische Dunkelheit des angeblichen Erkenntnisinhalts, die häufig, ja meist, bis zur 'Unaussprechlichkeit' geht; daneben auch durch entsprechend stärkere Betonung des abnormen Bewußtseinszustandes, in welchem sie auftreten.

Im Zusammenhang damit ist hier auch die 'erweckliche' Natur der Erlebnisse (die wir auf die Übersetzbarkeit von Gnadenerfahrungen in dogmatische Symbole zurückführten) weit weniger betont: es handelt sich mehr um reine Einsichtserlebnisse an beliebiger Stelle des geistlichen Entwicklungsweges, oder gar außerhalb desselben.

Die Forderung ekstatischer Bewußtseinslage als Vorbedingung dieser mystischen Einsichtserlebnisse aber folgt beinahe selbstverständlich aus ihrer Abgelegenheit von allem diskursiven, in angebbare Vorstellungen und Begriffe auseinanderlegbaren Denken, wie es dem zeitlichen Wachen eigen ist.

Weigel vergleicht daher diese Schauungen des 'inneren Auges' dem 'augenblicklichen' Sehen äußerer Dinge mit dem körperlichen Auge, ohne damit im mindesten auf Gesichte anzuspielen. [1] - Beispiele für diese Erfahrung des anscheinend begrifflosen Belehrtseins in der Ekstase ließen sich der religiösen Biographie in fast beliebiger Zahl entnehmen.

Von S. Thomas Aquinas wird berichtet, daß er zu einer Zeit, da er mit dem dritten Teil seiner Summa beschäftigt war, während der Messe in Neapel 'von einer wunderbaren Verzückung ergriffen ward, die seinen ganzen Leib erschütterte'.

Nach Beendigung der Messe kehrte er nicht, wie seine Gewohnheit war, ans Schreibpult zur Arbeit zurück, sondern überließ sich der Kontemplation und erwiderte dem Freunde, der ihn zum Schreiben ermahnte: 'Ich kann nicht, Reginald, denn alles, was ich bisher geschrieben habe, erscheint mir wie wertloser Plunder. .. verglichen mit dem, was mir offenbart worden ist.' [2]

Dasselbe Gefühl umfassenden, aber unaussprechlichen Verstehens, gleichsam 'in einer andern Gegend' der Geistigkeit, äußert sich in einer Szene aus dem Leben der hl. Katharina von Siena, die von Br. Raymund aufbewahrt worden ist.

'Eines Tages', schreibt er, 'sah ich sie in einer Entzückung von Sinnen geraten und hörte sie halblaut vor sich hinsprechen. . .: Vidi arcana Dei - Ich habe Gottes Geheimnisse geschaut, . .. Worte, die sie unaufhörlich wiederholte. Wollte ich versuchen, sagte sie, als ich in sie drang, deutlicher zu reden, dir zu erklären, was ich sah, ich würde mich eitler Worte schuldig machen, . ..

ich würde Gott lästern und entehren durch meine Rede. Der Abstand zwischen dem, was mein Geist schaute, da er in Gott verzückt war, und dem, was ich dir beschreiben könnte, ist so weit, daß ich dich zu betrügen meinte, wollte ich von jenen Dingen reden... Das Einzige, was ich sagen kann, ist dies: daß ich unaussprechliche Dinge sah.' [3]

Dieser seltsame Gegensatz von angeblicher Überreichlichkeit und doch Unaussprechlichkeit des Verstehens hat schon früher den psychologischen

[1] Bei Arnold II 594a; vgl. Molinos 48.
[2] Thomas Aquinas II 918f.
[3] Drane II 43f.; vgl. Thorold 139ff.


XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 327)

Beobachter veranlaßt, derartige Erlebnisse der Mystiker mit offenbar ähnlichen profanen Erfahrungen zu vergleichen, wie sie bei veränderter Bewußtseinslage nicht selten vorkommen. Namentlich in narkotischen Zuständen sind sie häufig bemerkt und eingehend beschrieben worden.

Die folgende Selbstbeobachtung während einer Zahnoperation unter Lachgas beschreibt ein Student der Universität Oxford. [1] Auf eine Phase sehr verallgemeinerten Bewußtseins, wie sie uns später noch beschäftigen wird, folgte zunächst angeblich völlige Bewußtlosigkeit.

'Das nächste', fährt der Beobachter fort, 'was mir zum Bewußtsein kam - mein Gott! wie soll ich es berichten! Ich wußte alles!  Ein gewaltiges Hereinströmen einleuchtender und schlechthin befriedigender Lösungen aller denkbaren Probleme überwältigte mein ganzes Sein, und eine allumfassende Ineinsverwebung bisher widerstreitender und scheinbar unterschiedener Ansichten der Wahrheit ergriff mit Gewalt Besitz von meiner Seele.

Das Seltsame dabei war, ... daß ich die Hegelsche Philosophie selbst mit den andern philosophischen Schulen in einer Art höherer Synthese versöhnt zu haben schien...' Nach dem Erwachen rief er dem Zahnarzt zu, er habe 'ein Stück Metaphysik entdeckt'. 'Kaum aber hatte ich diese Worte gesprochen, so schienen sie mich auch schon zu höhnen.

Die geschaute Wahrheit hatte sich verflüchtigt, wie ein vergessener Traum, und mich mit halbgeformten Sätzen auf den Lippen und einem aschgrauen Gefühl der Wonne im Herzen zurückgelassen.'

Während sich hier das Bewußtsein der tiefen Einsicht mit der völligen Unfähigkeit zu näheren Angaben verknüpft, weiß der nächste Berichterstatter wenigstens gewisse Bilder anzugeben, in denen sich sein Begreifen verkörperte oder an die es sich anrankte, ohne freilich die Empfindung ihrer gewaltigen Sinnerfülltheit irgendwie näher bestimmen zu können.

'Und jetzt', so beschreibt Ludlow die Erfahrung eines seiner Hanfräusche, 'enthüllten sich mir plötzlich die Prinzipien des Seins, deren Anblick die prophetische Stimme mir verkündigt hatte. .. Ehern, denn sie waren unerbittlich, gerade wie das Ideal einer geraden Linie, denn sie waren unabänderlich, wie ungeheure Schienenstränge erstreckten sie sich von dem Mittelpunkt aus, in welchem ich stand.

Aber sie waren mir mehr als ihre bloßen stofflichen Namen (so!), denn sie verkörperten eine Unendlichkeit erhabener Wahrheit. Was diese Wahrheit sei, bemühte ich mich meinem Begleiter auseinanderzusetzen, aber vergeblich, denn die menschliche Sprache ermangelte noch der Zeichen, sie zu charakterisieren. ...

Noch tagelang danach entsann ich mich der Enthüllung. Ich selber wußte, was sie offenbarte, doch konnte ich es nicht sagen, und jetzt ist all ihre Bedeutung meinem Geiste entschwunden und hat nur die leere Schale und Hülse der Symbole zurückgelassen.'

Als diese Symbole aber weiß er nur jene von einem Mittelpunkt ausgehenden, in der Ferne sich verlierenden Schienenstränge anzugeben: während er diesen entlang sich bewegte, stürmten jene 'schlechthin ungeahnten Wahrheiten' auf ihn ein, die 'alle strittigen Fragen lösten: die Quelle von Leid und Lust, die Tätigkeit des menschlichen Willens und Gedächtnisses, jede verwickelte Tatsache stand vor mir in offenbarender Helligkeit.' [2]

[1] Wenn ich nicht irre, der spätere Prof. F.C.S. Schiller; in PR V (1898) 195f.
[2] Ludlow 137f.; vgl. auch 139ff. 146ff.


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XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 328)

Die Unbestimmtheit des Verständnisgefühls hatte hier immerhin das Bewußtsein zugelassen, daß gewisse philosophische Sonderprobleme beteiligt gewesen seien, wie es sich überhaupt in solchen Fällen häufig um metaphysische Fragen zu handeln scheint.

Etwas deutlicher tritt diese nähere Umgrenzung der Probleme in einer Erfahrung des bekannten Psychologen William James zutage, der diesen Tatsachen überhaupt starkes Interesse entgegenbrachte.

Auch bei ihm bestand 'der Grundton dieser Erfahrungen in dem tieferregenden Bewußtsein durchdringender metaphysischer Erleuchtung. Wahrheiten von blendender Überzeugungskraft und Tiefe gehen dem Geiste auf.

Er sieht alle logischen Beziehungen des Seins mit einer anscheinenden Feinheit und Schnelligkeit, mit der sich seine Leistungen bei normalem Bewußtsein nicht vergleichen lassen: bloß wenn die Ernüchterung eintritt, schwindet das Gefühl der Einsicht und man starrt enttäuscht auf einige wenige zusammenhanglose Worte und Sätze.'

James war unter der Wirkung des Lachgases von der Wahrheit der Hegelschen 'Synthesen' überzeugt und damit von der Falschheit seiner bisher gehegten 'tiefsten Überzeugungen'.

Jede Idee oder Vorstellung, die ihm aufstieg, wurde von der gleichen 'logischen Zange' ergriffen und als Verdeutlichung der gleichen Wahrheit benutzt; 'und diese Wahrheit war, daß jeder Gegensatz... in einer höheren Einheit verschwindet, in der er beruht; daß alle sog. Widersprüche nur Unterschiede sind, daß alle Unterschiede nur Unterschiede des Grades sind,

daß alle Grade einer gemeinsamen Gattung angehören, daß ununterbrochene Kontinuität zum Wesen der Dinge gehört und daß wir buchstäblich in der Mitte eines Unendlichen sind, dessen Dasein zu erfassen das Äußerste ist, was wir erreichen können... Es ist unmöglich, von dem sturzbachartigen Hereinströmen der den Geist durchflutenden Identifikationen von Gegensätzen eine Vorstellung zu geben...

Gott und Teufel, Gut und Böse, Leben und Tod, Ich und Du, Nüchtern und Trunken, Materie und Form, Schwarz und Weiß, Quantität und Qualität. .. und fünfzig andere Gegensätze ziehen dahin (auf jenen während des Rausches diktierten und beschriebenen Blättern) ...

Der Geist sah, wie jeder Ausdruck zu seinem Gegensatz gehörte durch einen messerscharfen Moment des Überganges, den er bewirkte und der in seiner Ewigkeit das nunc stans des Lebens war. ..

Und schließlich, als allmählich bestimmte Vorstellungen sich einstellten, bewegte sich der Geist in der bloßen Form des Erkennens von Gleichheit in Identität [so!], indem er ein und dasselbe Wort zu sich selbst in Gegensatz brachte, nur (das eine Mal) verschieden betont oder seines Anfangsbuchstabens beraubt, z.B. what's mistake but a kind of take? . ..

Sober, drunk, - unk, astonishment astonishment:. . emotion - motion!!! ... Reconciliation - econciliation! . .. By George, nothing but othingl That sounds like nonsense, but it is pure onsense! Thought deeper than speech -- usw.[1]

Zuweilen scheinen sich noch deutlicher gewisse metaphysische Sätze von höchster Allgemeinheit aus diesem seltsamen Chaos des Erlebens halbwegs herauszukristallisieren, wie z.B. die Immaterialität des wahrhaft

[1] Ich muß natürlich unübersetzt lassen. W. James, The will to believe (N. Y. 1904) 294ff. Beachte 297f. über die mögliche Psychologie des Hegelianismus.


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Seienden, die Geistigkeit der Welt, die Dynamizität des Geschehens und was dergleichen halbe Unfaßlichkeiten mehr sein mögen.

'Ich glaubte', schreibt ein Namenloser, der die narkotischen Weihen empfangen hatte, 'den Schleier zu heben, der die Schöpfung bedeckt, und rastlose Energie bei der Ausführung des göttlichen Willens zu sehen.' [1]

Und ein ähnlicher dynamischer Pantheismus spricht aus einer von Cahagnets Versuchspersonen, die neben der Willensfreiheit auch die Allgegenwart Gottes zu verstehen glaubt - 'selbst hier drin, habe ich gesagt, indem ich auf einen Tisch schlug'. Ja L. Lecocq begriff, 'daß Alles in Allem und überall ist'. [2] -

Ein Anderer vermeint 'einen schlechthin bündigen Beweis der Geisterwelt' erlangt zu haben. 'Ich sah ferner, daß Geist das Wesen des Stoffes, und daß, was wir Materie nennen, ein bloßer Schatten sei. So stark war diese Überzeugung, daß ich tagelang nach meiner Erfahrung mich nicht enthalten konnte, in Lachen über den Wahn auszubrechen, daß die Dinge, die den fleischlichen Augen sichtbar sind, die wahren Dinge seien.' [3] -

Nicht unähnlich äußerte sich bekanntlich Davy in dem ausführlichen Bericht über seine Versuche mit Lachgas. Nachdem er zu sich gekommen, schritt er im Zimmer auf und nieder, von stolzen, erhabenen Gefühlen bestürmt und ohne acht zu geben auf das, was man ihm sagte.

'Ich versuchte, jene (neuartigen) Vorstellungen des Rausches in die Erinnerung zurückzurufen: sie waren schwach und unbestimmt; eine Folge von Worten indessen bot sich dar, und mit stärkster Überzeugung und prophetischem Tone rief ich Dr. Kinglake zu: Es gibt nichts, als Gedanken. Die Welt besteht aus Wahrnehmungen, Vorstellungen, Lust- und Unlustempfindungen.' [4]

Die augenscheinliche psychologische Verwandtschaft dieser profanen narkotischen Offenbarungen mit den abstrakteren Erkenntnisekstasen der religiösen Mystik ist von allen wissenschaftlichen Beurteilern anerkannt worden und hat natürlich zur gleichmäßigen Ablehnung jeder wahren Erkenntnishaftigkeit in diesen wie in jenen geführt.

Schon das klinische Bild des anästhetischen Rausches - dem Zahnarzt insonderheit wohlvertraut - läßt ja neben körperlichen auch seelische Störungen tiefgreifender Art erkennen.

Es zeigt eine Folge und ein Ineinandergreifen von Erregungs- und Lähmungserscheinungen: der Sinne, des Gefäßsystems, der Bewegungen, der Atmung, geistige Übererregung bei äußerster Suggestibilität, ungehemmte Reizbarkeit, z.B. des geschlechtlichen Gebietes, automatenhafte Bewegungen, die zahllos wiederholt, Worte, die immer wieder ausgesprochen werden; bei zunehmender Lähmung der Sinne und Bewegungen, schließlich Krämpfe und den Stillstand von Herz und Lunge. [5]

Die physiologische Deutung der narkotischen Wirkung schwankt zwischen verschiedenen - natürlich noch durchaus hypothetischen – Voraussetzungen,

[1] Borderland (Ztschr.) I 258.
[2] Cahagnet, Heil. 142.
[3] Borderland, I 258.
[4] Davy 488f. Vgl. Ludlow 179-81; H. F. Brown, J. A. Symonds, a biography (Lond. 1895) II 78; C. A. Ewald, Ein Ätherathmer, in Berl. klin. Wochenschr. XII (1875) 133ff.; A.-M. Fielde, in Therap. Gaz. 16. Juli 1888 (ref. in RS XVI (1888) 221f.).
[5] S. Dr. Amory und Dr. D. Buxton bei J. F. W. Silk, Man. of Nitr. Oxide Anaesth. (Lond. 1888); J. Crichton-Browne, On dreamy mental states (Lond. 1895) 23; Davy 458. 460. 464. 491; Dr. Dunbar in Pr XIX 73; Cahagnet, Heil. 361f.


XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 330)

die indessen einander nicht ausschließen, vielmehr einander ergänzen könnten. Bald nimmt man chemische Wirkungen des Giftes auf die Nervensubstanz an, [1] bald schreibt man die Wirkung der teilweisen Erstickung zu, die durch die Atmung von Gas (anstatt von Luft) gesetzt wird, [2] was die Erinnerung auf die ekstatischen Erlebnisse Ertrinkender lenkt.

Luchsinger wiederum sucht die Grundlage der seelischen Rauscherscheinungen in einer Veränderung der Leitungsfähigkeit der Nerven, und zwar – neben Wirkungen auf die Hirnzellen - auffallenderweise in vorübergehender Lähmung der Assoziationsbahnen. [3] Wie dem auch sei: daß eine tiefe Schädigung des normalen Verhaltens des Hirns bewirkt wird, muß außer Frage stehen.

Eben darum ist die Ähnlichkeit lehrreich, die zwischen der Wirkung dieser künstlich gesetzten Schädigungen und denen einer aus Entartung folgenden Beeinträchtigung des Hirns besteht. Den mystischen durchaus ähnliche 'Einsichtserlebnisse' von Epileptikern würden hier ein passendes Beispiel sein, vorausgesetzt, daß wir dieses Übel als ein rein physiologisches ansehen dürfen.

Ein begabter Kranker dieser Art z.B. berichtete, daß seine Anfälle immer mit Schwindel und dem stets gleichen 'eigenartigen Gedanken' einsetzten, den er für sehr wichtig hielt und von dem er glaubte, daß er seinen ganzen Fall erklären würde, den er aber niemals näher bezeichnen konnte. Er vergaß ihn jedesmal, wenn der Anfall vorüber war. [4]

Bietet uns so der Epileptiker eine Nachahmung der fraglichen mystischen Erfahrungen dar, so ist ja anderseits der Mystiker für den naturalistischen Psychologen selbst nur ein organisch Entarteter, ein Entgleister des Zentralnervensystems, und zwar nicht erst in der erhöhten Abnormalität der Ekstase, sondern erweislich schon in seinem 'Normalzustande', der dem mystischen Einsichtsakt verwandte Verfälschungen des Erkenntnislebens darbieten soll.

Nach der Schilderung Nordaus ist der 'Mystiker' von Haus aus angespannter Aufmerksamkeit unfähig, das assoziative Mitklingen von Vorstellungen, die Träumerei überwuchert bei ihm stets eine zielbewußte Hauptbewegung der Gedanken und dieser Mangel an einheitlicher Zucht läßt ein beständiges Hereinspielen des Verschiedenartigsten und Entferntesten zu.

Daher jener 'Geisteszustand, in welchem man unbekannte und unerklärliche Beziehungen zwischen den Erscheinungen wahrzunehmen oder zu ahnen glaubt, in den Dingen einen Hinweis auf Geheimnisse erkennt und sie als Sinnbilder betrachtet, durch welche eine dunkle Gewalt allerlei Wunderbares zu enthüllen oder doch anzudeuten sucht, das man sich, meist vergebens, zu erraten bemüht. ..

Dieser Geisteszustand ist stets mit starken Gemütserregungen verbunden, die das Bewußtsein als eine Folge seiner Ahnungen auffaßt, obgleich umgekehrt jene Emotionen das Vorbestehende, die

[1] Dunbar deutet lösende Einwirkungen auf das Fett der Nervengewebe an: JSPR XI 265.
[2] Silk, aaO. 25-28, vereinigt beide Meinungen.
[3] So betr. Chloroform, Äther u. Kohlenstoffdioxyd (nach Dunbar Pr XIX 75). Vgl. H. Spencer, Princ. of Psychol., 3. Aufl. 631ff. (Reizung - Erregung - Entladung - Lähmung).
[4] Crichton-Browne, aaO. 10.11.


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XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 331)

Ahnungen aber von ihnen veranlaßt sind und auch ihre besondere Richtung und Farbe von ihnen erhalten'. [1]

Die Ähnlichkeit dieses Bildes mit der angedeuteten Psychologie des ekstatischen Begreifens ist augenscheinlich, und man versteht, welcherlei Früchte der Psychologe von der ekstatischen Zerrüttung einer Seele erwarten muß, deren waches Erkennen er schon in solcher Weise gefälscht sein läßt.

Den Parallelerscheinungen auf dem Gebiete der physischen Entartung gesellen sich andere aus dem Bereich jener normalen Entartung des Denklebens, der wir alle regelmäßig im Schlaf und Traum unterworfen sind. Nach verbreiteter Auffassung setzt auch dieser vor allem die synthetische Höhenlage des Zentralnervensystems herab:

führt tiefe Hemmungen übergeordneter Instanzen herbei und entfesselt das ungeordnete Spiel der 'niederen’, rein assoziativen Vorstellungsabläufe. Es ist daher ein kritisch wichtiger Befund, daß - wie bekannt - auch der Schlaftraum nicht selten dem mystischen Begreifen durchaus ähnliche Erfahrungen mit sich führt; wie ja einer der klassischen Mystiker den Eintritt bedeutender Einsichten während des Morgenschlafes kurz vor dem Erwachen geradezu als etwas Gewöhnliches bezeichnet. [2]

In schmerzlicher Nachbarschaft hierzu finden wir die bekannte Anekdote von dem Mittagschläfer, der das Welträtsel gelöst zu haben meint und, um die Lösung nicht zu vergessen, während vorübergehenden Erwachens etwas von 'alles durchdringendem Terpentingeruch' auf einen Zettel kritzelt. [3]  

Diesen Verdächtigungen der fraglichen Offenbarungen auf Grund des objektiven Befundes reihen sich andere an, die sich auf inhaltliche Gesichtspunkte berufen. Verdächtig könnte ja schon erscheinen, daß die angeblich gewonnenen Erkenntnisse nicht nur nicht ausgesprochen, sondern häufig auch zugestandenermaßen nicht einmal erinnert werden können:

was den Gedanken nahelegt, daß tatsächlich nichts zu erinnern, weil gar kein Erkennen vor sich gegangen sei. [4] In andern Fällen, wo tatsächlich einige andeutende Erinnerungen erhalten scheinen, fällt auf, daß die Offenbarung auch der Narkose gelegentlich durch äußere Einwirkungen inhaltlich angeregt erscheint, wie viele Träume des normalen Schlafes, die sog. Reizträume. [5]

Ein Beispiel bietet etwa jener ,Äthertraum 'einer begabten Dame', den James ohne ein Wort der Deutung als Fall von 'narkotischer Offenbarung' anführt. [6]

[1] M. Nordau, Die Degeneration 86. 76 (umgestellt); vgl. 93ff. 105ff. Vgl. auch Janet, Obs. I 294. 588 über die psychasth. obsession de la signification.
[2] Tauler in e. Pfingstpredigt.
[3] Andere, besser verbürgte Beispiele: E. Renan, Carnets de jeunesse (Par. 1906) 196; AmieI, Grains de miI 166f.; Frau J. M. in PS XXXIV 312. Ähnlich bei Sterbenden: Daumer, Reich 298f.; Perty, M. E. I 491 (nach Abel, Unsterblichkeit).
[4] Nichts Einzelnes erinnert: W. H. Coffin in Borderland I 258; vgl. Cahagnet, Heil. 141; J.A. Symonds, aaO. und B. P. Blood bei James, Varieties 390 Anm.; Gr. Kayserling, Reisetagebuch e. Philos. I 371.
[5] Wundt III 653f.
[6] James, Varieties 392f; Anm.


XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 332)

Ein großes Wesen - ich fasse den ausführlichen Selbstbericht der Träumerin kurz zusammen - durchsaust den Himmel auf einer Art von Blitz, der aus Seelen besteht, deren eine die Erzählerin ist und die alle nur zum Bewußtsein kommen, damit sich jenes Wesen fortbewege.

'Ich vermeinte, jenes Wesen wetze, schleife und quäle sein eigenes Leben aus meinen Schmerzen empor.' Dann wendet Es, gerade als Es bei ihr angelangt ist, indem und dadurch, daß Es sie verwundet, und zwar mehr, als sie je im Leben verwundet worden war. Und in diesem Augenblick des heftigsten Schmerzes - sah sie.

'Ich verstand einen Augenblick hindurch Dinge, die ich jetzt vergessen habe, Dinge, die man nicht erinnern könnte, ohne den Verstand zu verlieren.' Sie vermeint, Gott in diesem Augenblick wunderbar gedient zu haben als das Mittel der Offenbarung von irgend etwas an irgend jemand, im genauen Verhältnis zu ihrer Fähigkeit zu leiden.

Auf ihr Erstaunen, daß sie nichts von Gottes Liebe wahrgenommen, hört sie gerade noch die Antwort: Erkenntnis und Liebe sind Eins, und das Maß ist Leiden. Nachträglich nun (bezeichnenderweise) fallen ihr zahlreiche Formulierungen dessen ein, was sie in jenem Augenblick 'gesehen' und 'verstanden' zu haben meint: die ewige Notwendigkeit des Leidens und sein ewig stellvertretender Charakter, . . .

die Passivität des Genies, und wie es wesentlich Mittel sei, bewegt, nicht bewegend, gezwungen zu tun, was es tut; daß der leidende Seher oder Genius immer mehr zahle, als seine Zeitgenossen durch ihn gewinnen, u.a.m.

Der großartige und philosophische Charakter der Bilder wie der nachträglichen Auslegungen springt in die Augen. Aber man meint dem Angelpunkt des Falles erst auf die Spur zu kommen, wenn man erfährt, daß diese derart ergiebige Narkose auf dem – Operationstisch stattfand.

Es scheint mithin der Sinneseindruck des chirurgischen Eingriffs auf ungewöhnlich fruchtbaren Boden gefallen zu sein: die 'hochbegabte Frau', vermutet man, war mit Leiden wohlvertraut, hatte über diese rätselvolle Zutat des Lebens gedacht und gelesen, und besaß einen Reichtum an Begriffen und Bildern aus den Theodizeen der Jahrhunderte; dies bezeugt ihre traumhafte Verarbeitung nicht minder, als die reiche nachträgliche Auslegung. [1]

Dies führt uns auf ein anderes Kriterium anscheinend subjektiven Ursprungs (wie es ähnlich schon an anderer Stelle benutzt wurde): den inneren Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Offenbarungen, soweit er angebbar ist, und dem überhaupt charakteristischen Vorstellungsbesitz der Subjekte.

Schon die angeführten Beispiele lassen erkennen, daß der philosophischen Richtung der Träume philosophische Interessen und Vorbildung des Träumers entsprechen; von Ärzten hören wir, daß sie in der Narkose sich mit medizinischen Phantasien beschäftigen, [2]

und daß schriftstellerische Schulung und dichterische Befähigung des narkotischen Träumers auf seine entwickelten Gesichte von entscheidendem Einflusse sein müßten, bemerkte schon der erste, der solchen Träumen durch glanzvolle Schilderung zu literarischer Berühmtheit verhalf. [3]

[1] Vgl. den ähnlichen Fall bei Jastrow 241f.
[2] Beispiele bei Jastrow 245ff. und Ewald, aaO.134. Theol. Analogien s. Cahagnet, Heil. 161-64 und Palmer 65f. (ma'rifat = metaphys. Studium vor wejd = Ekstase).
[3] Th. de Quincey, Confessions of an English opium-eater.


XXXIV.  Mystisches Erkennen: 4. Unaussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 333)

Bedenkt man ferner, daß die Offenbarungen der Narkose oder die ähnlichen der Ekstase, soweit sie sich inhaltlich nachprüfen lassen, nichts weniger als Einstimmigkeit untereinander zu besitzen scheinen und daß ihre Autorität selbst für den Träumer mitunter nur eine sehr beschränkte ist -

wie z.B. Symonds sich nicht darüber klar ist, ob er in seinen ekstatischen Augenblicken sich in Gottes Händen befunden, oder nur das Spielzeug einer 'abnormalen Erregung des Gehirns' gewesen [1] -, so scheint der letzte Grund zu entfallen, an der durchgängigen Gültigkeit einer subjektivistischen Deutung zu zweifeln.

Die Hauptgedanken dieser Deutung lassen sich nunmehr etwa folgendermaßen zusammenfassen: Der seelische Zustand, in welchen das mystische Erfassen scheinbar neuer Wahrheiten fällt, charakterisiert sich weit mehr durch ein äußerst rasches assoziatives Aufeinanderfolgen der Vorstellungen, als durch irgend nennenswerte apperzeptive Vorgänge.

'Meine Vorstellungen’, schreibt z.B. Dr. Roget, 'folgten einander mit außerordentlicher Geschwindigkeit, Gedanken schossen wie ein reißender Strom durch mein Bewußtsein'. [2] Die apperzipierenden Vorstellungsmassen, vermittelst deren wir gemeinhin neue Inhalte uns zu eigen machen, sind teils gehemmt, teils aufs tiefste zerrüttet.

Damit sind die gesunden Widerstände geschwunden, die Handhaben des Widerspruchs, die Voraussetzungen der Kritik. Jede fetzenhafte Verknüpfung von Vorstellungen, vorzugsweise auf Gebieten, die im Wachen der Hauptherd der Denkanspannung und des Zweifels waren, verläuft jetzt ungehindert und mühelos.

Diese Mühelosigkeit löst jenes Gefühl aus, das bei normaler Bewußtseinslage erst dann auftritt, wenn alle logischen Denkhemmnisse beseitigt, d.h. die inneren Zusammenhänge aufgedeckt sind und damit das Durchlaufen der ganzen Gedankenkette leicht und frei geworden ist: das Gefühl des 'Verstehens'.

Mehr noch: jenes wohlbekannte Apperzeptions- oder Evidenzgefühl – wie die übliche Auffassung der Logiker und Psychologen es formuliert [3] – mag sogar an der Steigerung teilnehmen, welche das Fühlen überhaupt in ekstatischen und traumhaften Zuständen so leicht erfährt.

Das Ergebnis ist ein für die logische Zurechnungsfähigkeit geradezu verderbliches: Disorganisation der Vorgänge an sich, und völlige Hinwegtäuschung über diese Disorganisation durch Gefühle, wie sie sonst die Vollendung ihrer Organisation begleiten. Die mystische Einsicht wäre danach das natürliche Erzeugnis einer durch Ekstase, Narkose oder Schlaf gesetzten vorübergehenden Psychasthenie.

Janets Psychasthenische Marcella hat sehr bezeichnenderweise, wenn sie unter ihrer sog. Wolke, d.h. in einer Art kataleptoider Ekstase sich befindet, 'nie einen Zweifel oder die mindesten Bedenken selbst bezüglich der verrücktesten Gedanken'. [4]

[1] Brown, aaO. 80.
[2] Davy 510f.
[3] Vgl. die heute meist vertretenen emotionalen Theorien der Evidenz. Selbst Sigwart spricht vom Gefühl der Denknötigung.
[4] Vgl. zu dem Obigen Bernard Leroy, Interprét. psychol. des 'visions inteIl.' chez les myst. chrét. in RHR LV (1907) 1ff., bes. 18ff.; Leuba in AJRP VII 352f.; Jastrow 503.

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