Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 313)

Dies Ergebnis vermindert von vornherein die Hoffnungen, mit denen wir pflichtgemäß nun auch noch jene dritte Gattung der mystischen Erkenntnisgewinnung in näheren Augenschein nehmen.

Wir entsinnen uns, daß diese Offenbarungen - soweit sich erkennen läßt, ohne deutliche Mitwirkung von sinnlichen Vorstellungen - eine unmittelbare, gleichsam begriffliche Gewißheit über Wirklichkeit jenseitiger Art geben. In ersterer Hinsicht unterscheiden sie sich von den Gesichten, in letzterer von den automatistisch auftretenden Offenbarungen.

Mystiker haben einmütig von jeher - ganz abgesehen von allem, was sie über Visionen und wörtliche Inspirationen zu berichten wußten - eine Fähigkeit des Begreifens jenseits von Verstand und Vernunft behauptet. 'Illumination', 'Kontemplation' war ein nie übergangener Bestandteil des mystischen Weges.

Über dem xxxx noch die yyyy [1] über der ratio die intelligentia simplex oder visio intellectualis, über dem appetitus rationalis die synderesis, [2] die epopteia, und jene haben zu schweigen, wenn diese reden sollen: zzzzzz [3]

'Der Glaube', sagt unter neueren Mystikern z.B. die Bourignon, 'ist ein eigenes Licht, das der Vernunft nicht benötigt. Er ist das hellste Licht, ob er gleich nicht durch die Vernunft schließt. [4] - Dies 'Licht der Gnade' kann der 'innige' (mystische) Mensch mit Leichtigkeit vom 'Licht der Sinne und Vernunft' unterscheiden, die ihm vergleichsweise 'wie Finsternisse' erscheinen. [5]

Es belehrt ihn 'in einem Augenblick' über alles, was er nach Gottes Willen wissen soll, 'mit so großer Gewißheit, daß es unmöglich wäre, die Seele anders glauben zu machen'. [6] - Bekannt ist die Angabe des Ignatius von Loyola in seinem Testament, [7] daß 'auf seinem Wege (zu einer Kirche nahe Manresa) die Augen seines Geistes geöffnet wurden, so daß er (die) geistlichen Dinge verstand und begriff. ..

mit solcher Klarheit, daß für ihn alle diese Dinge (die er doch zum größten Teil vorher begriffsmäßig gewußt haben muß) neu gemacht', d.h. in völlig neuer Weise klar wurden, sodaß er bekannte, 'alle Erleuchtung, die er von Gott im Verlauf seines ganzen Lebens empfangen, zusammengefaßt in einen Haufen, würde ihm weniger erscheinen, als das, was ihm in diesem einen Augenblick gegeben ward'.

Von dieser eigentümlichen Behauptung habe ich schon eine etwas ausführlichere Probe gegeben, als es sich um eine vorläufige Übersicht über die erwecklichen Erfahrungen handelte. Der Leser entsinnt sich des Oxforder Graduierten, dem an einem bestimmten Tage der christliche Heilsplan aufging. [8] Die Tatsachen sind reichhaltiger, als diese eine Probe vermuten läßt, und wir werden sie ihrer anspruchsvollen Unfaßlichkeit wegen

[1] Philo v. Alexandria.
[2] Gerson.
[3] Proclus. Vgl. auch Müller 345. 347 (islamisch).
[4] Bourignon, Leben 226.
[5] Bernières-Louvigni 137f.
[6] S. Cater. Gen. Vita 81b (A. S. Boll.), bei Hügel I 270f.
[7] ed. Lond. 1900 91 f., bei Hügel II 31 Anm. Vgl. den Gottesfreund bei Preger III 118.
[8] o. S. 28f.


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 314)

etwas genauer prüfen müssen. Hierbei wird es sich empfehlen, zu ihnen allmählich überzuleiten vermittelst einer Reihenbildung verwandter psychologischer Erscheinungen, die als leichter durchschaubare Vorstufen erscheinen möchten, in der Hoffnung, daraus Licht für die dunkleren Beispiele zu gewinnen.

Denn auf jenen Vorstufen finden wir eine deutlichere Angebbarkeit der Begriffe und eine Betonung der Umstände, die ihre Offenbarung als übernatürlich erscheinen lassen.

Besinnen wir uns zunächst, wie häufig ein solcher Anspruch auf außerordentliche, selbst auf 'übernatürliche' Einsicht auf Grund von falschen Maßstäben zustande kommen kann. Für übernatürlich mag unter Umständen erklärt werden, was von der Art, dem Inhalt, dem Gefühlsgehalt des eigenen üblichen Begreifens des Urteilenden, oder des üblichen Begreifens der Umgebung und der Zeit absticht.

So berichtet z.B. George Fox mit rührender Ergriffenheit, wie es ihm eines Tages aufgegangen sei, daß akademisches Studium in Oxford oder Cambridge nicht genüge, um einen Menschen zum Priester zu machen; und man muß wissen, was die beiden berühmten Namen dem damaligen Innerlichen bedeuten durften - an rohem Gelehrtendünkel und wohlbestallter Völlerei, an Pfründenjägerei und Unduldsamkeit -, um die Natürlichkeit solcher 'Erleuchtungen' in einem schwärmerisch-frommen Gemüte zu begreifen.

'Ein anderes Mal', erzählt derselbe Erweckte, 'zeigte mir der Herr deutlich, daß er nicht in Tempeln wohne, ... sondern in den Herzen der Menschen'; [1] für das heutige Bewußtsein selbst des religiösen Banausen ein Gemeinplatz, der fast bei beliebigem Aufschlagen der Schrift gefunden werden kann. [2]

Gleichwohl lassen sich ähnliche Überlegungen auch auf uns heutige, umfassender vergeistigte Menschen anwenden. Auch wir unterscheiden uns von uns selber in gewissen Augenblicken, in denen wir 'kaum uns selbst erkennen': weil die Tätigkeit unsres Geistes sich plötzlich krampfhaft erhöht, eine Erregung unsere Brust schwellt und Einsichten uns aufblitzen, die wir kaum zuvor geahnt, oder auch, um die wir lange vergeblich gerungen. [3]

So erzählt J. Edwards von einer mehr als 70jährigen Alten, die gelegentlich 'im Neuen Testament von Christi Leiden für den Sünder lesend, über das Gelesene in Staunen geriet, wie über etwas Wirkliches und höchst Wunderbares, ihr aber völlig Neues (was es natürlich nicht war), so daß sie im ersten Augenblick verwundert meinte, nie zuvor davon gehört zu haben, dann aber sogleich sich besann und bedachte, daß sie oft davon gehört und gelesen, es aber nie zuvor als etwas Wirkliches gesehen hatte.’ [4] -

Das Beispiel scheint nicht mehr anzudeuten, als daß ein theologisches Lehrgebäude, das bislang leidlich gedankenlos in bloßen 'Wortbegriffen' und unbestimmt besessen wurde, nun plötzlich, in einem Augenblick gesteigerter Apperzeption, erstmalig richtig 'kapiert', überblickt, in seinem möglichen

[1] Fox, Autobiography 4. 5.
[2] Vgl. Thorold 103 (Angela über gelegentl. 'Verstehen' und 'Ausgelegtwerden' des Vaterunsers).
[3] Vgl. die interess. Mitteilungen bei G. Frankland, Moments of Illumination. . . (Lond. 1904) 8.
[4] Edwards, Narrative 73.


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erschütternden Sinn empfunden wird, ohne eigentlich mit anscheinend übernatürlichen Organen 'gesehen', 'erlebt', 'gewußt' zu werden.

Im Leben des Gläubigen - und namentlich des Gläubigen unserer Zeit - sind es denn auch meist besondere Umstände und Verhältnisse, die ihm die 'Übernatürlichkeit' eines 'Verstehens' zu verbürgen scheinen, das er bei nüchterner oder gar wissenschaftlicher Betrachtung doch wohl in den natürlichen Zusammenhang seines eigenen Geisteslebens einordnen würde.

Solche wesentlichere und auch an sich merkwürdigere Verschiebungen des banalen Verständnisvorgangs liegen vor, wenn etwa das Gefühlsmaß des begreifenden, erlebenden Augenblicks über alles Normale hinaus sich steigert; wenn die Vorstellungsmassen, welche neu umgriffen werden, ins Ungewöhnliche anschwellen, wenn sich die Augenblicke zu ganzen Zeitstrecken dehnen, endlich, wenn sich etwa der ganze seelische Zustand des Erkennenden in bedeutsamer Weise von seiner gewöhnlichen Einstellung zu entfernen beginnt. -

Unter den Beispielen, die diese Erweiterungen erkennen lassen, veranschaulichen die zunächst gegebenen das Anschwellen des Gefühlsanteils am Erlebnis.

A.C. Torrey, der Führer einer der letzten großen Erweckungen in Amerika und England, erzählt von dem Bibellesen, mit dem er selbst nach ermüdender Arbeit seinen Tag zu beschließen pflegte: 'Gott entdeckt (mir dann) die Anschläge seiner Liebe, und während ich seine wunderbaren Verheißungen lese, vergißt mein Herz seine Müdigkeit und ich jauchze laut auf vor Freude.

Ich schreie nie in der Öffentlichkeit, ... aber wenn ich ganz allein mit mir und meinem Gott und meiner Bibel bin, so schreie ich - ich kann mich dessen nicht enthalten. Die süßeste, reinste, höchste, heiligste, erstaunlichste Freude, die ich kenne, erfahre ich, wenn ich im betenden Forschen über Sein Buch gebeugt bin und Gott mir neue Erkenntnisse schenkt.' [1]

Das Erleben von 'Licht' spielt häufig eine beträchtliche Rolle innerhalb des Gefühlsrausches, der das banale Verstehen zu einem übernatürlichen zu stempeln scheint.

So 'begreift' ein moderner Mystiker eines Tages die Wahrheit, 'daß orthodoxe Religion für die Kindheit des Menschengeschlechts unentbehrlich sei und daß Viele noch jetzt die Wahrheit in keiner anderen Form empfangen könnten, indem, wie eine gewöhnliche Puppe die Kräfte der Liebe und Mutterschaft im Kinde zur Entfaltung bringe, so auch diese äußerlichen Symbole der kirchlichen Religion in vielen Herzen die ersten zarten Knospen des geistlichen Lebens entwickelten'.

Diese heute oft gedachten Gedanken kommen ihm aber in einer Form, die sie ohne weiteres zu einer göttlichen Eingebung machen: 'Ein Gefühl der Schläfrigkeit (!) überschlich meine körperlichen Sinne. Dann schien ein heller Stern sich zu nähern, über mir zu glänzen und langsam herabzusinken, bis er auf meiner Stirne ruhte.

Er durchdrang mein ganzes Wesen... mit unbeschreiblichem Überschwang, er erleuchtete meinen Geist, so daß ich vollständiger den Sinn meiner selbst zu erfassen und den Nutzen

[1] W.T. Steadin Borderland. Vgl. Memoirs of . . . W. Tennent (Glasgow 1892) 47f.


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XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 316)

aller Erfahrungen zu sehen glaubte, durch die ich geführt worden war,' - vermutlich in erster Linie eben seine Wandlungen von orthodoxer Gläubigkeit zu freier Auffassung. [1]

Diese Lichterfülltheit des Erkenntnisaugenblickes, meist in Verbindung mit Gefühlsüberschwang, wird außerordentlich häufig betont. S. Hildegard besaß ein solches Licht - 'weit heller, als die Wolke, welche die Sonne trägt' - von ihrer Kindheit bis ins höchste Alter beständig, ein Licht 'nicht örtlicher Art', ohne äußere Gestalt, mit äußeren Sinnen nicht wahrzunehmen, aus welchem Licht ihr 'Schriften, Reden, Tugenden und etliche Werke der Menschen entgegenleuchteten.

Was ich in einer solchen Vision schaue oder lerne, das bleibt mir lange im Gedächtnis. Ich sehe, höre und weiß zugleich und lerne, was ich weiß, gleichsam im Nu. Was ich nicht schaue, das weiß ich auch nicht, weil ich gewissermaßen ganz unwissend und ungelehrt bin.’ [2]

Ähnlich berichtet Jakob Boehme von einer Zeit moralischen Kampfes um die Besiegung seiner fleischlichen Natur und die Läuterung durch den Geist Gottes, daß ein 'wunderbares Licht in seiner Seele aufgegangen sei.

Dies Licht war meiner unbändigen Natur ganz fremd, aber in ihm erkannte ich das wahre Wesen Gottes und der Menschen und ihr Verhältnis zueinander, was ich nie zuvor verstanden hätte und wonach ich nie gesucht haben würde'. [3]

Ähnliche Erfahrungen und Selbstbezeugungen müssen es gewesen sein, die den Teilnehmern der Erweckungsbewegung in Kentucky i. J. 1803 den Namen der New Lights, 'neuen Lichter' eintrugen. Sie selbst nannten dies innere Licht den 'Herrn' und bekannten sich als durch dasselbe belehrt und geführt.

'Durch dieses sahen sie die Dinge in ihren wahren Farben und fanden ein reiches Maß von Frieden und Trost und. .. eine Hoffnung ewigen Lebens. .. Alle, die das wahre Licht des Geistes in dem innern Menschen empfingen und ihm getreulich folgten; sahen von Auge zu Auge und verstanden die Dinge des Geistes in übereinstimmender Weise: ... sie sahen die Reinheit Gottes, die Verderbtheit des Menschen, die Notwendigkeit einer neuen Geburt und eines sündlosen Lebens.'

Alle Unterschiede der Konfession, des Geschlechts, selbst - was in Amerika viel bedeutet - der Rasse wurden vor diesem Lichte hinfällig. [4]

Der folgende anonyme Bericht aus der Feder eines jungen methodistischen Geistlichen läßt das massige Anschwellen des Inhalts der Offenbarungen und ihre Ausdehnung über längere Zeitstrecken erkennen.

Im Jahre 1894 hatte er aus nicht angegebenen Ursachen einen nervösen Zusammenbruch gehabt. (Der Schreiber war verheiratet.) Am Silvesterabend jenes Jahres empfand er einen unwiderstehlichen 'Einfluß', der ihn in eine 'Ekstase' versetzte, ein Zustand, in dem er angeblich 40 Tage und Nächte meist einsam verharrte, sehr wenig Nahrung zu sich nehmend und nur eine oder zwei Stunden täglich schlafend.

'An jenem Abend begannen mir in den schönsten, glücklichsten und kräftigsten Ausdrücken Reden zuzuströmen, in denen göttliches Erbarmen mit allen Einsamen und Verführten, Unterdrückten und Beladenen der Welt und göttlicher Zorn des Gerichtes gegen alle Verführer und Unterdrücker sich aussprach. .. Dies

[1] G. Chainey in der seit. Ztschr. Psyche I, I 4 (Lond. 1890).
[2] Hildegard 5f.
[3] Bei Bucke 151f. Vgl. S. Augustin, Confess.l. VII c. 10.
[4] M'Nemar 29. 30.


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 317)

hielt 3-4 Tage und Nächte an, worauf ich mit grenzenloser Zuversicht und Freude erfüllt ward... Immer wieder. .. klopfte mir das Herz unter der Einwirkung eines überwältigenden Gefühles, mein Leib war in Schweiß gebadet, und in 4 oder 5 Tagen magerte ich fast zum Skelett ab.'

Nach einer Pause von 2 oder 3 Tagen, während deren er reichlich aß und schlief und wieder zu Kräften kam, kehrte der ekstatische Zustand zurück. 'Tage und Nächte hindurch wurde mir der Sinn der heiligen Schriften in erstaunlicher Weise enthüllt...

Eine einfache und wunderschöne Auslegung der Bergpredigt, wie ich sie nie zuvor gelesen oder bedacht hatte, 'kam mir' in einer Nacht, dann folgte die Ausdeutung der Gleichnisreden, der Reden Ev. Joh. 14 -16 und vieler anderer Texte, einschließlich Teile der Offenbarung Johannis.

Dann sah ich die Epochen der Geschichte, die Wege Gottes in der Vorsehung, die fortschreitenden Stufen der sittlichen Erziehung des Menschengeschlechts und den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft, wie nie zuvor, und ich verließ diese ekstatische Verfassung am 9. Febr. 1895 mit der Gewißheit, daß ich von Gott erleuchtet und gesalbt sei, um die Grundsätze des geistlichen Lebens zu lehren und soziale und wirtschaftliche Reformen zu vertreten, aber ich war wieder im Zustande äußerster körperlicher Erschöpfung. ..

Mein Geist, von Natur kräftig, war noch lange Zeit hindurch angespannt tätig, alles Gelernte zu durchdenken. .. Erst nach Monaten trat der normale Ruhezustand in mir ein.' [1]

Die maniakalische Erregung, die hier das massenhafte und erhöht lebhafte 'Begreifen' von Sätzen zutage fördert, die dem Subjekt in 'kühlerer' Form natürlich längst vertraut waren oder doch wohl nahe genug lagen, wird von ihm selbst zwar übertreibend, aber nicht ohne Gründe als Ekstase bezeichnet.

Dieser auszeichnende Nebenumstand in schärferer Ausprägung ist natürlich sehr häufig die vornehmste Grundlage für die Einordnung des Erlebnisses als übernatürlicher göttlicher Erleuchtung. [2]

Merkwürdiger noch als die ekstatische Note und die lange Zeitdauer, ist an der Erfahrung des Anonymus die inhaltliche Massenhaftigkeit seines 'Erkennens', das nach den angeführten Worten den größeren Teil des christlichen Lehrgebäudes umfaßt haben muß.

Dies erinnert uns daran, wie oft von der Mystik der Anspruch erhoben worden ist, daß alles theologische Lehrgut auch unabhängig von jeder Überlieferung im Einzelnen unsinnlich-übersinnlich erschaut, gleichsam völlig ursprünglich und selbständig erfahren und 'begriffen' werden könne:

Dinge also, die der Voraussetzung nach jenseits der Grenzen möglichen Beobachtens und Erschließens liegen und darum von Anbeginn an der 'Offenbarung' vorbehalten geblieben waren.

Weigel behauptete, daß der Heilige Geist im Augenblick den Ungelehrtesten über alle Glaubensartikel belehren könne, weil die Quelle, aus der die Schrift geflossen sei, in jedem Menschen springe, wenn er nur in den stillen Sabbath der inneren Einkehr gelangen könne, in die Ruhe, welche die Ewigkeit ist und in der das göttliche Einsprechen vernommen und die Erleuchtung empfangen werde. [3] Und die kühne

[1] Austin 358ff. Vgl, auch o. S. 68.
[2] S. z.B. Görres II 243 (die Begine Blambeck).
[3] Arnold II 593.


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 318)

Behauptung wird von einem Chor von Gläubigen aufgenommen, die im Augenblick inneren Quellens, sehr häufig in der Geburtsstunde ihres inneren Lebens, in den Wehen der Bekehrung bestimmte Wahrheiten betreffend das Dasein Gottes, seine Eigenschaften, seine Tätigkeit, seine geschichtlichen Heilsabsichten, den Ursprung der Sünde und die Dinge des WeItendes erkannt, erfahren, gesehen zu haben vorgeben.

Durch solche 'Begnadigung' wollte Gichtel 'die ersten hellen Blicke in die großen Geheimnisse vom Fall der ersten Eltern, von der Wiederbringung unserer Herrlichkeit durch Christum und von der Wiedergeburt in ihm getan' haben. [1] -

S. Hildegard empfing, nach eigenem Bericht, im Alter von 42 Jahren und 7 Monaten in ihrem 'hell schimmernden feurigen Licht', das sich vom Himmel über ihr 'ganzes Gehirn, Herz und Brust' ergoß, die 'augenblickliche Erschließung des Sinnes' aller biblischen Schriften, [2]

die Anna Vetterin mit 30 Jahren unter den gleichen Begleitumständen einen augenblicklichen seltsamen Unterricht 'in allen geistlichen Sachen, auch sogar, daß, da sie vorhin keine Feder zu halten wußte, alsbald ihre Gesichte und Befehle von Gott an das Volk leserlich hat aufzeichnen können.

Wie denn der damalige Pfarrherr zu Onoldsbach auf der Kanzel diesen Punkt den Obern und der Gemeinde zu überlegen gab, ob es nicht ein Zeichen der geschehenen Erleuchtung, daß sie damals in einer Nacht schreiben lernte, welches sie vorher, wie allen bewußt, nicht konnte.' [3] -

Der bekehrte Jude Ratisbonne, von dem bereits die Rede war, behauptet, bei seinem Eintritt in jene Kirche, worin er seine Wandlung erlebte, vom Dogma der Erbsünde 'und andern' (nicht genannten) nichts gewußt, beim Hinausgehen aber 'klar gesehen' zu haben. [4]

Und wieviele Bekehrte glauben im Augenblick ihrer Wiedergeburt das gewisse, persönliche und unmittelbare, von aller vorherigen Belehrung unabhängige Wissen erlangt zu haben, daß Jesus Gottes Sohn, daß er zur Versöhnung der Welt den Sühnetod gestorben sei, daß er als Gottessohn regiere u. dgl. m.

'Z. glaubte nicht an die Göttlichkeit Christi, aber als die wunderbare Umwandlung (in ihm) vor sich ging, erschien ihm diese Göttlichkeit Jesu so gewiß und selbstverständlich wie die Bekehrung selbst'.

Und Leuba, der diesen Fall anführt, berichtet die endgültige Antwort eines Sektierers, dem er ausführlich die Unsittlichkeit und Unvernünftigkeit der orthodoxen Versöhnungslehre darzutun gesucht hatte: 'Das alles mag so erscheinen, und doch kann ich keinen Zweifel (an diesen Dingen) hegen, (denn) ich habe sie erfahren.’

Die Deutungsmittel, die der Subjektivismus für Erfahrungen dieser vorgeschrittenen Art bereit hält, sind mannigfaltig, auch abgesehen von psychanalytischen Gedankengängen. Schon dort, wo ein überstarkes begleitendes Gefühlserlebnis diese Ansprüche 'auf Übernatürlichkeit zu begründen’ scheint, treten mehrfache Deutungsmöglichkeiten ins Spiel.

Vorweg in Abzug zu bringen sind diejenigen Erfahrungen oder diejenigen Teilelemente von Erkenntnissen, bei denen das angebliche Erkennen lediglich eine Umschreibung eben des Gefühlserlebnisses in theologischen Begriffsausdrücken zu sein scheint. Der aufmerksame Leser wird eine teilweise Anwendbarkeit dieses Gedankens in mehreren der obigen Beispiele herausfinden.

[1] Kanne II 100. Ähnlich Axon 8 (A. Lee); Evans, Shakers 128.
[2] Hildegard 41.
[3] Arnold III 257a. Am erstaunlichsten die Bourignon: de Cort 7. 143. Vgl. auch Gal. I, 12; Carra de Vaux, Gazall (Par. 1902) 45.
[4] Ratisbonne 129.
[5] Leuba in AJP VII 347.


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XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 319)

Wenn etwa Boehme in dem 'wunderbaren Licht' in seiner Seele 'das wahre Wesen Gottes und des Menschen und ihr Verhältnis zueinander' erkennt, so könnte dies z.T. wohl darauf beruhen, daß er diese Art von seliger Lichtekstase eben als 'Gott' und als Eingetauchtsein des Menschen in Gott, also auch als Erleben seines 'Verhältnisses' zu Gott ansetzt.

Oder wenn - um neue Beispiele zu wählen – die Nonne Maria de S. Teresa 'am Tage S. Matthiae unter dem Morgengebet' in einer 'außerordentlichen Gnade' erkannt haben will, 'daß die göttliche Essenz in meiner Seele’ sei, wie ein Wesen, davon sie ganz durchflossen wäre, und wie die göttliche Herrlichkeit in dem Innersten unser selbst ihren Sitz habe und unserer Seele Grundwesen sei und sie belebe, -

so liegt der Gedanke mehr wie nahe, daß solche metaphysisch klingende Sätze nichts anderes seien, als eine ganz unmittelbare Übersetzung in banal-theologische Ausdrücke einer Erfahrung des mystischen Liebesrausches, wie denn die Fromme sie selbst ausdrücklich zurückführt auf eine 'göttliche Salbung, die ich ganz in mir ausgebreitet empfunden, daß auch meine Sinnen daran teilgenommen.' [1]

Eine augenscheinlich verwandte Erfahrung belehrte - vermittelst einer ähnlichen 'Übersetzung' - Anne-Madeleine Remuzat über die 'Erkenntnis, mit der Gott sich erkennt, und die Liebe, mit der er sich liebt', sowie über das 'Bündnis der Liebe und des Erbarmens', welches 'die drei Personen der anbetungswürdigen Dreieinigkeit' (!) mit ihr eingegangen seien. [2]

Ähnlich vermag Tolstoi nach einer Nacht des Gebetes um Verschmelzung mit dem Allwesen in sein Tagebuch einzutragen: 'Ich bat nicht um (Vergebung meiner Vergehungen), denn ich fühlte, daß wenn Er mir diesen seligen Augenblick gegeben, er mir auch verziehen hatte. .. Ich verband in einem Gefühl sowohl Bitte als auch Dankbarkeit.' [3]

Wir empfinden hier in der Tat etwas von jener natürlichen Eignung der theologischen Symbole als Ausdruck innern Erlebens, um deren Deutung sich die Psychanalyse so heiß bemüht.

Mehr als eine solche Übersetzung reiner Gefühlserlebnisse in Begriffe einer bereits vorhandenen Dogmatik ist offenbar gegeben, wenn solche Sätze oder Teile dieser Dogmatik angeblich selbständig-persönlich erkannt werden, deren unmittelbare Beziehbarkeit auf Gefühlserlebnisse nicht ohne weiteres einleuchtet.

Welche Vorsicht man freilich anwenden muß, ehe man diesen Fall als gegeben erachtet, darüber lassen gewisse Behauptungen mystischer Einsicht keinen Zweifel.

Kanne, dessen erweckliches Erlebnis früher erwähnt wurde, [4] sagt im Rückblick darauf: 'Jetzt erst verstand ich aus eigener lebendiger Erfahrung, was das neue Leben bedeutet; . ... ich weiß es nun so gewiß, daß mein Erlöser lebt, daß mir alle andern Beweise völlig überflüssig sind. ..

Daß dieser Erfahrungsbeweis (der christlichen Religion) nicht etwa ein bloßer Empfindungsbeweis ist, das mag der Unerfahrene. . . einstweilen aufs Wort glauben.' [5]  Das 'neue Leben' freilich erfuhr Kanne mächtig genug. Aber das 'Leben' des Erlösers?

Wenn er es eben in solchen inneren Mitteilungen suchte, so mochte er wohl auch behaupten, den 'Christus im Innern' erfahren zu haben. Aber das Leben des Erlösers, im Sinne eines metaphysischen Daseins jenseits der Grenzen von Erdenluft und Vergänglichkeit - wurde auch

[1] Maria de S. Ter. 13.
[2] Remuzat 324.
[3] Aylmer Maude, Life of Tolstoi I 63f.
[4] o. S. 228. 256.
[5] Kanne I 294.


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 320)

dies erfahren und erkannt, oder aber war auch diese 'Erkenntnis' nur die Übersetzung einer nicht erkenntnismäßigen Erfahrung? Wie doch offenbar bei dem Philosophen Lutoslawski der Fall war, der im Augenblick einer gleichgültigen Kommunion eine Erweckung erlebte und 'von da ab nie mehr zweifelte an der geheimnisvollen Umwandlung, die sich in der Hostie durch die priesterliche Weihehandlung vollzieht.' [1]

Hier scheint eine andere Seite des Hergangs sich so weit in den Vordergrund zu schieben, daß eine neue Deutungsart nahegelegt wird. Kanne hatte sich kurz vor seiner Erfahrung 'in ruhiger Erwartung, mit stiller und gelassener Sehnsucht und kurzen Seufzern mit Jesu' beschäftigt.

'Da kam er auf einmal mit einem vollen Becher aus der Lebensquelle usw.' Dies zeitliche Zusammentreffen des Rausches und der Beschäftigung mit Jesu wird also als persönliche Antwort gefaßt: im Rausch kommt Jesus selbst, also ist der Rausch der Erfahrungsbeweis dafür, daß er lebt und - weil er der geglaubte Erlöser ist - daß 'der Erlöser lebt'.

Die ekstatische Erfahrung des Gefühls ergießt sich in den bereits vorhandenen Begriff und verleiht ihm die Blutwärme der Wirklichkeit. [2] Diese Gefühlswärme ist nicht der einzige Ursprung der Wirklichkeitsannahme, aber sie ist einer der wichtigsten. Wir wissen, wie dem gefühlsarmen Psychastheniker die Wirklichkeit der Dinge sich verschleiert, bis er sie schließlich fast verliert, eben weil die Gefühle verblassen, in die er die Dinge der Außenwelt einhüllt.

Hier begegnet uns der umgekehrte Vorgang: daß eine ungewöhnlich starke Gefühlsdurchtränkung einem Begriff zur Geglaubtheit des Wirklichen verhilft, dessen Glaubwürdigkeit vor dem bloßen Verstande auf schwacher Grundlage ruhen würde. Prof. Leuba war es, der diesen Gedanken mit Nachdruck vertrat: daß die neue Spannung des Gefühlslebens das Ursprüngliche, die nunmehr 'erkannten' Dogmen aber das Abhängige seien.

Der Religiöse glaube von diesen eine übernatürliche Erkenntnis zu besitzen, aber mit Unrecht: denn er erwarb sie auf dem natürlichsten aller Wege: durch äußere Überlieferung; zu etwas Übernatürlichem wurden sie ihm erst, als das wunderbare Blut seines wiedergeborenen Fühlens und Wollens ihre starren Glieder zu durchströmen begann.

Der Zustand des Glückes, des Vertrauens, des Friedens, des Sicheinsfühlens mit dem Allgemeinen, in den der Bekehrte durch seine Wandlung versetzt wird, der faith-state, wie Leuba sagt, - der 'Glaube als Zustand' - durchglüht mit seinem Leben selbst die sinnlosesten Glaubenslehren, die dann durch Gründe so wenig erschüttert werden können, als sie ihnen ihr Dasein verdanken.

Ja es kann vorkommen, daß Gegengründe, die vordem vernichtende Kraft zu haben schienen, auch jetzt noch logisch zwingend, d.h. vernichtend erscheinen, ohne doch im geringsten das friedlichste Ruhen in der Gewißheit - der dogmatischen Gewißheit! - zu stören. [3]

[1] In CIP 711f. Vgl. damit S. Alph. Rodr. 75.
[2] Vgl. C. Bos, Psychologie de la Croyance (Par. 195 ) 54ff. u. sonst (bes. ch. III).
[3] Vgl. Leubain AJPV II 347 und CIP13.


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 321)

Eine solche Ansicht würde erwarten lassen, daß in Zeiten der Ermattung, der Gefühllosigkeit und Willenserlahmung auch der Glaube (als Fürwahrhalten gewisser Tatsachen) nachlassen, der Zweifel sich wieder einstellen werde.

Ein solches Zusammengehen von Gefühls- und Willensspannung und 'objektiver' Gläubigkeit ist ja aber tatsächlich eine der gewöhnlichsten Beobachtungen des religiösen Lebens. Wir wissen schon aus der Beschreibung der Dürrezustände, daß sie meist eine Abschwächung des Glaubens mit sich bringen. [1]

Die religiöse Biographie ist reich an Zeugnissen, nach denen ein und dasselbe Bibelwort (das wir wohl hier als Lehrausdruck fassen dürfen) je nach der Stimmung und Spannung des Gefühls den Charakter der Glaubwürdigkeit, Verständlichkeit und Wirklichkeit in äußerst wechselndem Maße an sich tragen kann.

Bunyan, bei dem Perioden der Dürre und Zweifelsucht lange Zeit hindurch ständig wiederkehrten, sagt im Hinblick auf sie bezeichnend genug: 'Zuweilen habe ich in einer Zeile der Bibel mehr gelesen, als ich jemals aussprechen kann, ein andermal war sie mir dürre, tot und ohne die geringste Erquickung.' [2]

Im Grunde bedeutet dies ja nur die verschärfte Form jener banalen Beobachtung, daß im unbekehrten Zustande genau die gleichen Lehrstücke oder Bibelstellen, die nach der Erweckung zu 'Erkenntnissen' werden, beliebig oft zum Bewußtsein kommen und selbst 'verstanden' werden können, ohne doch die unvergleichliche Eigenschaft des 'Geglaubtwerdens' zu erlangen.

Ein Richter in Rochester, den Finney als den 'liebenswertesten aller unbekehrten Menschen' bezeichnet, sagte sehr bezeichnend: Ich stimme der Wahrheit alles dessen zu, was Sie (der orthodoxe Evangelist!) sagen, aber mein Herz gibt keine Antwort darauf. [3]

Eine weitere Bestätigung der dargelegten Ansicht ist es, daß - wie schon Leuba selbst betont - Bekehrungen beobachtet werden, in denen ein lehrhaftes Element augenscheinlich völlig fehlt .

Die Bekehrung J.B. Goughs z. B. - eins von Leubas Beispielen - sei 'eigentlich die Bekehrung eines Atheisten, bei welcher weder Gott, noch Christus erwähnt wird’. [4] Im gleichen Sinne hat James auf Tolstois Bekehrung hingewiesen, [5] und ohne Frage ließen sich andere anführen. -

Die vorgetragenen Deutungen machen nun freilich zwei Voraussetzungen, deren Nichterfüllung sie in Frage stellen könnte: sie nehmen als zugestanden an, daß die dogmatischen Vorstellungen zur gefühlsmäßigen Durchströmung dem mystisch Erkennenden bereits zur Verfügung stehen, und daß sich diese Vorstellungen nicht nur zu solcher Durchströmung, sondern auch zur begrifflichen Auslegung des mystischen Erlebnisses mühelos hergeben.

Die erstere Voraussetzung wird man ohne weiteres für erfüllt halten dürfen. Läßt sich auch irgendein Mystiker denken, der so sehr außerhalb der religiösen Überlieferung stände, daß er in die Lage käme, die theologischen Symbole zur Auslegung seines Erlebens selber erst schaffen zu

[1] s.o. s. 149.
[2] Kanne I 182.
[3] Finney 303.
[4] Leuba in AJRP VII 343.
[5] James, Varieties 247. Eine völlig undogmatische 'Bekehrung' ist auch die von W.H.W. bei Bucke 263.


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XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 322)

müssen? Und selbst diese Neuschaffung nimmt, wie wir sahen, wenigstens die heutige Psychanalyse als möglich an.

Durchdenken wir nun aber auch die andere Voraussetzung: die der Brauchbarkeit der dogmatischen Begriffe für die Deutung des mystischen Erlebens, und ihrer Geneigtheit, im Schein der mystischen Glut die Farbe der Wirklichkeit anzunehmen, die Annahme also einer natürlichen Verwandtschaft zwischen geistlichem Liebesweg und theologischer Weltanschauung, -

so finden wir uns bald über die verhältnismäßige Oberflächlichkeit des Leubaschen Gedankens hinaus zu jenen Deutungen zurückgetrieben, die uns das natürliche Wachstum religiöser Symbole überhaupt und damit auch des Stoffes der visionären und automatistischen Offenbarung verständlich zu machen suchten.

Der Bestand an Symbolen ist ja hier wie dort der gleiche und es versteht sich ohne weiteres, daß jene Verteidigung auf dem Boden des Subjektivismus, die der visionären und automatistischen Offenbarung zugute kam, auch der hier fraglichen Verwendung religiöser Symbole innerhalb des Glaubensaufschwungs nicht versagt werden darf.

Die Sachlage ist eben nicht erschöpft mit der Behauptung, der 'Glaube als Zustand', die geistliche Erregung durchglühe wahllos die dogmatischen Vorstellungen, die der Gläubige soz. zufällig aus seiner Umgebung aufgenommen habe; und diese Vorstellungen ihrerseits sind nicht so äußerlich und oberflächlich entstanden, wie uns die Religions- und Dogmengeschichte glaubhaft machen will, nämlich auf Wegen der äußeren Wahrnehmung, der pseudowissenschaftlichen Theoriebildung und der ferneren willkürlichen Begriffsbearbeitung, -

sondern: diese Symbole sollen selbst ein natürliches Erzeugnis jener gleichen Kräfte sein, die sich auch in der Erhebung des Glaubenszustandes äußern, und dadurch wiederum soll es begreiflich werden, daß dieses Gebäude von Theorien über Weltentstehung, Weltleitung und göttliche Geschichtsführung noch auf einer späten Stufe zur natürlichen Begriffsbehausung so verfeinerter Binnenerlebnisse werden könne, wie derjenigen des geistlichen Weges innerer Entselbstung.

Damit wäre dann wiederum die Möglichkeit zugestanden, daß diese Symbolbegriffe unter Umständen auch noch im späten Einzelnen eine Urzeugung erfahren, daß also das Erleben des mystischen Glaubensaufschwungs und das Als-wahr-erkennen gewisser 'theologischer' Sätze unter Umständen wirklich ein einheitlicher Vorgang innerhalb eines abgesonderten Einzelnen sei.

Wie weit im einzelnen Fall der Anteil äußerlich übernommener Überlieferung einerseits, persönlicher Mythenschöpfung anderseits gehe, braucht dabei nicht einmal eine entscheidbare Frage zu sein. - Zwei Beispiele mögen dem Leser wenigstens die Problemlage allgemein verdeutlichen.

Ratisbonne besaß angeblich, wie wir hörten, vor dem Betreten der Kirche, in der er seine Bekehrung erlebte, keinerlei Kenntnis des Dogmas von der Erbsünde und anderer nicht genannter Dogmen. Beim Hinausgehen 'sah er klar'. 'Ich


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 323)

glaube, schreibt er, ich hatte keine Wissenschaft vom Buchstaben, aber ich erkannte gewissermaßen den Sinn und den Geist der Dogmen. Ich fühlte diese Dinge mehr, als ich sie sah, und ich fühlte sie durch die unaussprechlichen Wirkungen, welche sie in mir erzeugten.

Alles ging in meinem Innern vor sich, und diese Eindrücke, tausendmal schneller als der Gedanke, tausendmal tiefer als das Nachdenken, hatten meine Seele nicht bloß ergriffen, sondern sie gleichsam umgedreht und ihr eine andere Richtung gegeben, sie. .. in ein neues Leben gelenkt.' [1]

Was Ratisbonne unstreitig erlebt hatte, läßt sich unzweideutig als eine Umkippung des Gefühls- und Willenslebens erkennen. Seine Grundinstinkte sind verwandelt. Es ist nur ein Schritt zur Festlegung dieses Bewußtseins in dem Satze: seine 'alte' Natur sei von ihm abgefallen, eine 'neue' in ihm erstanden.

Damit 'sieht er klar' in dem Dogma von der Erbsünde, von dem 'alten Adam', der in uns sterben muß, dem Erbteil des Urvaters, und von der neuen Kreatur, die wir anziehen sollen. Es ist an sich höchst unwahrscheinlich, daß diese Begriffe dem religiös gebildeten Manne völlig fremd gewesen seien; waren sie es wirklich, so konnte die erste Berührung mit römischer Priesterschaft sie ihm vermitteln und ihn darin den Ausdruck seines Erlebens finden lassen.

Anderseits mochte ihn sein Erlebnis auf die Historisierung der Erfahrung von 'alt' und 'neu' in seinem Wesen auch selbständig hindrängen, ihn also zu einer Mythenbildung treiben, die er dann unschwer in kirchlichen Lehren wiedererkannte. Der unbewußte Weg seiner Phantasie wäre dabei etwa folgender gewesen: Was ich war, empfinde ich jetzt als sündig, ich war aber, wie mein Vater war, und dieser war, wie seine Väter.

Jetzt aber bin ich eine neue, eine ideale Art Mensch, frisch aus den Händen des Schöpfers. War der Urvater meines Geschlechts, als er frisch aus den Händen des Schöpfers kam, so wie ich jetzt bin, so muß er aus diesem idealen Zustande gefallen sein, um so zu werden, wie ich, als Erbe meiner Väter, vor meiner Wiedergeburt war: nämlich sündig.

Hatte Ratisbonne im ersten Augenblick diese Dinge 'mehr gefühlt als gesehen', so 'wußte' er sie nun nachträglich wohl 'aus eigener Erfahrung'. Er konnte dies, weil sie eben eine mythische Historisierung jener Erfahrung darstellten, wie auch die Mythen vom leidenden Gerechten, vom Sündenbock, vom einverleibten Gotte u.a.m. greifbare Hinausverlegungen innerer Erlebnisse darstellen: des Angstdruckes der Schuld und des Loskommens von ihr, des befreienden Abwälzens der Verantwortung, des Erblühens eines neuen Ichgefühls usw.

Das zweite Beispiel mag uns jene Lehre liefern, die der Mystik als eschatologischer Überspanntheit so vielen Spott eingetragen hat: die Erwartung eines nahen WeItendes, eines Gerichtes, der Wiederkunft Christi und was dergleichen mehr ist. Kaum eine Erweckung geht vorüber, kaum ein mystischer Charakter öffnet den Mund zur Lehre, ohne die Verheißung nahen Anbruchs einer solchen neuen Ordnung. [2]

Daß solche Ankündigungen nur in Köpfen entstehen können, die von historischer Kritik im heutigen Sinne nicht beschwert sind, versteht sich von selbst. Die Phantasie muß Ellenbogenraum haben, wo sie auftreten. Aber diesen vorausgesetzt, kann ich mir kaum ein natürlicheres Hervorspringen dogmatisch-mythischer Vorstellungen denken.

Der Grund liegt hier in der starken Spannung, die zwischen den Erweckten und ihrer Umwelt besteht. 'Es gibt gegenwärtig keine wahren Christen auf Erden', erklärt die Bourignon. [3] Im Gegensatz zur Welt

[1] Ratisbonne 129f. (vgl. 23ff.). Ähnlich A. v. Franckenberg, bei Arnold III 91f.
[2] Vgl. z.B. Jane Leade; Ann Lee; Jane Southcote Gichtel, E. Roberts.
[3] de Gort 23.


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 324)

empfinden sie selbst sich als die wahren Gläubigen, als Kinder Gottes und Bannerträger der Gerechtigkeit. Und in diesem Gegensatz zur Welt empfinden sie schon das Gericht über die Welt: eine andere Reaktion als Verdammung gegenüber der Welt wie ihrem eigenen früheren unerweckten Zustande ist ihnen ja selbstverständlich unmöglich.

Aus dieser heftigen inneren Reaktion aber ergibt sich die Erwartung und - was bei diesen hochgespannten Naturen dasselbe ist - die Gewißheit einer nahen äußeren Verwirklichung ihres Urteils. Der 'Geist' ist ihnen gekommen: also ist er im Kommen, ist unaufhaltsam im Begriff, in die Welt zu treten und diese, wie er sie nun einmal findet, unausbleiblich zu richten.

Die immerwährende Erneuerung jener eschatologischen Offenbarung, ihr 'Jetzt' ergibt sich also aus der steten und oft epidemischen Erneuerung jenseitiger Erwecktheit.

Wie aber die Wurzelverwandtschaft zwischen Erlebnis und Symbolbegriff die Durchwärmung des Begriffs durch das Erlebnis verständlich macht, so würde sie auch umgekehrt erklären, daß eben diese Symbolbegriffe fast regelmäßig das Erlebnis auslösen können.

Ich brauche nicht daran zu erinnern, daß meist der Erweckung eine lebhafte Beschäftigung mit den angeblichen Wirklichkeiten vorausgeht, die von jenen Symbolbegriffen bezeichnet werden. Der an sich Verzweifelnde wendet sich an den 'himmlischen Vater' oder den 'Heiland', stellt ihm seine Sache anheim, verläßt sich auf das bittere Leiden von Golgatha u. dgl. m.

Die Wirksamkeit dieser Vorstellungen rührt in manchen Fällen gewiß daher, daß sie während des vorhergegangenen 'angestrengten' religiösen Lebens bereits zu Kristallisationszentren von Gemütsneigungen geworden sind, die jetzt vor dem Durchbruch stehen.

Aber diese Wirksamkeit beruht außerdem sicherlich noch eben darauf, daß jene Symbole und Wirklichkeiten ihrem Ursprung nach psychologische Mythen der innern Erfahrung, also Ausdrucksmittel seelischer Gesetze darstellen. Das angeblich geschichtliche Drama der Welterlösung rekapituliert die inneren Erfahrungen der individuellen 'Erlösung'.

Darum kann sich der geistliche Mensch mit den Gestalten jenes Dramas in einen allerengsten Verkehr einlassen, der nie in Gefahr kommt, jeden symbolischen Sinn und damit jeden Nutzen für sein Heiligungswerk zu verlieren. Der Jesus-Verehrer richtet sich an einem Urtyp jenes Heiligkeitsstrebens empor, das von den Mächten der Welt zum Kreuz verdammt wird und aus der Grabesnacht der innersten Verlassenheit in der Erweckung seine Auferstehung feiert, um in den Himmel innerer Verklärung einzugehen.

Und der Madonnenverehrer, selbst wenn er in Banalitäten des angeblichen Erdenlebens der Maria sich ergeht, hält immer noch ein Symbol für die Kräfte mütterlicher Liebe in Händen, an das sein unwillkürliches Seelenleben ihn offenbar zu glauben zwingt, soll er seine höchstgewerteten Möglichkeiten des Daseins nicht preisgeben.

Der Psychologe bedarf also - um das mindeste zu sagen - nicht der geschichtlichen und metaphysischen Wirklichkeit alles dessen, was z.B. die bibelgegründete Theologie über den eigentlichen Hintergrund der


XXXIII. Mystisches Erkennen: 3. Aussprechbare Einsichten. Kritik.             (S. 325)

christlichen Erweckung behauptet; und wir brauchen uns daher nicht bei der viel umstrittenen Frage aufzuhalten, wieviel von jenen behaupteten Tatsachen der geschichtlichen Kritik standhalte.

Dürfte doch unter heutigen Sachkennern ohnehin darüber Einigkeit herrschen, daß gerade die für die Erweckung angeblich bedeutsamsten dieser Behauptungen nachweislich religiöser Mythus sind, [1] - womit, nach dem eben Gesagten, ihre Bedeutsamkeit freilich nur verschoben, aber nicht geleugnet wird.

Ja wo der Mystiker ganz über sich selbst zur Klarheit kommt, redet auch er dieser psychologischen Auflösung der geschichtlichen Symbole ganz unmißverständlich das Wort. Er selbst übersetzt dann die Lehre der Glaubensartikel in die Stationen seines inneren Weges.

Die Geburt des ‚Geistes' in der Seele ist ihm die wahre Fleischwerdung, die schmerzliche Hingabe des Eigenwillens und der sinnlichen Triebe - die wahre Passion und Grablegung, die dadurch bewirkte Vereinigung mit dem göttlichen Geiste im Innern - die wahre Auferstehung und Himmelfahrt.

Durch 'Gnade' wird der mystisch Erweckte, was Christus 'von Natur' war. [3] Dieser häufige mystische Anspruch ist wenigstens die halbe Aufstellung des Satzes, daß 'der Sohn Gottes' innerlich zu verstehen sei. [4] George Fox, einer Redeschlacht über das Heilandsopfer zuhörend, 'sieht', wie er selbst sagt, 'durch unmittelbare Offenbarung des unsichtbaren Geistes das 'Blut Christi' und ruft aus:

'Seht ihr nicht das Blut Christi? Erblickt es in euren Herzen, daß es eure Herzen und Gewissen besprenge und von toten Werken befreie, [5] daß ihr dem lebendigen Gotte dienet.' Und Schnoudi, einer der Wüstenväter, von seinem Bischof wegen angeblichen Mangels an Ehrfurcht mit Entziehung der Sakramente bedroht, erwidert kühn:

Ich sitze hier in Gesellschaft meines Herrn, was könnte mir Exkommunikation bedeuten. [6] - Der Mystiker versteht sich jedenfalls besser mit dem Psychologen, als mit dem Dogmatiker der Theologie.     

[1] Zur orientierenden Einführung in die weitschichtige Forschung auf diesem Gebiet könnten etwa dienen: A.Drews, Die Christusmythe; S. Lublinski, Die Entstehung des Christentums aus der antiken Kultur (beide Jena 1910); W.B. Smith, Der vorchristliche Jesus; J. M. Robertson, Pagan Christs ... (Lond. 1903); P. Carus, The Pleroma... (Chicago 1909).
[2] S. z.B. Jundt, Hist. du panthéisme pop. au moyen age 115 (Beginen, Turlupinen); Tauler; Eckehart. Vgl. Grass 199. 298. 342; Kingsford u. Maitland, The perfect way. ., 3. Aufl. (Lond. 1890) 212 f.
[3] Deutsche Theol. 24; vgl. 73.
[4] Mittelalterl. Sekt., bei Heinroth, Gesch. u. Kritik des Myst. aller bek. Völker u. Zeiten (Lpz. 1830) 34S.
[5] to sprinkle your hearts and consciences from dead works: Fox, Autobiography 10; vgl. 25.
[6] J. P. Hannay, The spirit and origin of christ. monasticism (Lond. 1903) 123; vgl. 115 (über Valens), und Grass 338.

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