Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap
XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 251)

Es ist nun gewiß bemerkenswert, daß die Schule, die wie keine andere von der sexualistischen Ursprungsdeutung alles geistigen Lebens ausging, in manchen ihrer Vertreter bald zu einem Begriff der Libido gedrängt worden ist, der dem hier aus bloßer Zergliederung der Erscheinungen gewonnenen sich an Weitherzigkeit durchaus vergleichen läßt.

Die Libido, ursprünglich im engen Sinn der geschlechtlichen Begierde gefaßt, hat sich den Psychanalytikern unter den Händen zum Begriff des 'in der ganzen Fülle des Trieb-


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und Willenslebens sich auswirkenden Lebensdranges oder Lebenswillens' erweitert [1] und ist sogar mit dem Schopenhauerschen metaphysischen 'Willen' identifiziert worden. [2] Mit einer so weitherzigen Auffassung der treibenden Kräfte haben wir keinen Streit mehr.

Sie wird uns aber nunmehr auch schon eine fruchtbarere Auffassung des religiösen Komplexes ermöglichen, nach dessen Inhalt wir ja noch immer suchen, und eine reichere Deutung der neurotischen Erscheinungen des krasseren religiösen Lebens, insonderheit der Hysterie der Heiligen.

Es soll dabei von vornherein nicht geleugnet werden, daß die im engeren Sinne sexualistische Deutung hysterischer Symptome auch innerhalb des jenseitigen Lebens sich anwenden lasse, wennschon die religiöse Biographik, so wie sie uns vorliegt, aus naheliegenden Gründen nur äußerst selten ins Einzelne gehende Ableitungen von Symptomen aus verdrängten Inhalten gestattet.

Der typischen, ohne persönliche Einzelanalyse durchschaubaren 'Konversionen' sind ja schließlich nur wenige, [3] und die Analyse am Lebenden ist uns in diesem Felde fast völlig verschlossen. Das wenige aber, was von Psychanalytikern auf hagiologischem Gebiete versucht worden ist, bewegt sich tatsächlich außerhalb aller eigentlichen Sonderanalyse.

Man sucht in den hysterischen Symptomen vornehmlich 'Suggestionswirkungen', ausgeübt durch irgendwelche heiligen Texte oder Bilder, auf Grund der allgemeinen Voraussetzung, daß sich der Heilige nach kanonischen Vorbildern zu modeln suche. [4]

Wenn Radajew vom 'Geiste Gottes' kreuzförmig auf den Rücken gelegt wird, [5] oder wenn Heilige von Schmerzen oder Versuchungen geplagt werden, die sie Andern durch ihr Gebet abzunehmen suchten, [6] so liegt ja auch die glatte Deutung durch Suggestion auf der Hand.

Anderseits begegnen wir vielleicht einem zufällig geglückten Bruchstück wirklicher Psychanalyse in der Behauptung gewisser Erwecker, daß das 'Bellen' [7] eine Züchtigung für Ungehorsam gewesen sei (der unterbewußte Mittelgedanke etwa: ich habe mich wie ein Hund benommen), oder in der gelegentlichen Angabe aus der Zeit der irdischen Erweckung, daß die heftigen Krampfanfälle gewöhnlich bei denen vorkamen, 'die zuvor unwissend oder offen unsittlich gewesen waren', [8] wobei freilich weder die eine noch die andere Angabe sich auf wirklich Erweckte zu beziehen braucht.

Bei solchen Schwierigkeiten der Einzeldeutung müßte dem Sexualisten um so mehr daran gelegen sein, den Ursprung der Heiligenhysterie wenigstens im ganzen auf die ihm geläufigen Wurzeln der Neurose zurückzuführen, nämlich auf eine Verhinderung der normalen Geschlechtsbetätigung

[1] So O. Pfister, Die psychanalytische Methode (1912) 142.
[2] S. bes. Jung in JPPF IV (1912) 172ff.; vgl. V (I) 321ff. Claparède schlug geradezu intérêt für Libido vor (das. V 337).
[3] Wie etwa Erbrechen beim Anhören 'unsittlicher Reden' (Görres I 336f.: seI. Oringa). Eine Liste typischer Trieb-Verkehrungen und -Verschiebungen bei Adler, in Fortschr. d. Medizin 1908 577ff.
[4] S. z.B. O. Pfisters Aufs. üb. Marg. Ebner in ZPA I (1911) 468ff.
[5] Grass 219.
[6] S. z.B. Pradel 92; Kanne II 71 f.
[7] Vgl. o. 177. auch Anm. I.
[8] Openly immoral - im Engl. meist im Sinne des Sexuell-Verwerflichen. Gibson 40.


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und Verdrängung sexueller Einzelwünsche. Und hier kann er sich natürlich auf die bekannte Tatsache berufen, daß der Religiöse so oft im Schatten der kirchlichen Forderung geschlechtlicher Enthaltsamkeit aufwächst. [1]

Dabei hätten wir zunächst davon abzusehen, daß die Enthaltsamkeit in zahllosen Fällen keine auferlegte, sondern natürlich ersehnte ist, [2] und daß sogar erzwungene Enthaltsamkeit von manchen Fachmännern weder als gesundheitsschädlich, [3] noch auch als eigentliche Ursache von Hysterie betrachtet wird. [4]

Wir wollen sie mindestens bei dazu 'veranlagten' Personen als hysteriesetzend ansehen. Und da können wir häufig genug mit dem Finger auf diejenigen äußeren Bedingungen sexueller Not hinweisen, die das voraussetzungsgemäß neurotisch veranlagte Individuum zur Ausbildung der inneren Liebeswelt und ihrer krankhaften Erscheinungen getrieben haben mögen.

Eine dem Analytiker geläufige Form dieser Not beruht auf der frühen Fixierung der Libido auf Blutsverwandte, die natürlich zu nachfolgender Verdrängung der geschlechtlichen Betätigung zwingt.

Es ist z.B. möglich, daß Pascals Name hier manchem einfallen wird. Von Natur 'schwächlich und zart', zeitweilig mit 'einer Art von Abgestorbenheit der Beine' behaftet, durch Krämpfe oder teilweise Lähmung des Schlundes verhindert, kalte Getränke anders als tropfenweise zu schlucken, zärtlich seine Schwester JacqueIine liebend und von ihr zärtlich geliebt, sonst aber, nach Ansicht der meisten Biographen, sein Leben lang frei von jeder starken Neigung - toujours beaucoup plus un amateur qu'un amant véritable [5] -, ist dies nicht das Bild einer Neurose nach dem Herzen unsrer Psychanalytiker?

In andern Fällen kann man die Verhinderung der Geschlechtsbetätigung darauf zurückführen, daß der erwünschte und angemessene Partner nicht gefunden oder erlangt, oder ein unangemessener von außen aufgedrängt wurde; (wie denn fast schon das populäre Urteil nervöse und hysterische Störungen auf 'unglückliche Liebe' oder zerrüttete Ehen zurückführt.) [6]

Von Mme. Guyon z.B. wissen wir, daß sie von ihren Eltern an einen alten und völlig wesensverschiedenen Mann verkauft war, mit dem der vertraute Umgang ihr Qual bereitete.

Das 'Unglück' führte sie zu Gott und ins Gebet. Auch S. Katharina von Genua war an einen unebenbürtigen, dazu wüst und in Untreue lebenden Mann verschachert, dem sie jahrelang in schweigendem Groll und weltlichen Zerstreuungen sich innerlich widersetzte, bis sie nach einer besonderen Steigerung dieser Leiden ihren Durchbruch erlebte und, 'von der Liebe Gottes durchdrungen', den Standpunkt: 'keine Welt mehr, keine Sünde mehr erreichte. [7]

Und Flournoy’s 'moderne Mystikerin' bekennt im Rückblick auf die große unglückliche Liebe ihrer Vergangenheit ausdrücklich: 'In meinem tiefsten Innern 

[1] Ein Beisp. früher Unterdrückung der Sinnlichkeit: Emmerich I 32..
[2] Vgl. o. Kap. XXII S. 202 ff. und weiter u.
[3] z.B. Loewenfeld, Sexualleben u. Nervenleiden, 3. Aufl. (1903); Verga, ref. in AZP XXVII 93ff.
[4] z.B. Binswanger 64. Krafft-Ebing (Üb. Neurosen... durch sex. Abstinenz, in Jahrb. f. Psychiatrie VIII) betont den Verzicht auf die ethischen Genüsse des Familienlebens.
[5] H. Petitot, Pascal (Par. 1911) 29. 45. 50.
[6] Eine interess. Beob. 'mediumistischer' Lösung e. unglücklichen Liebe - also von Umgehung 'krankhafter' Symptome durch Automatismen (natürl. im Namen des Geliebten) s. Podmore, Spir. II 312f.
[7] Die Darstellung (nicht die Deutung) bei Hügel 103-5.


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Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 254)

hat die Wunde noch lange geblutet; ... jetzt aber blicke ich auf dieses Leid aus großer Höhe herab und sage mir, daß es in mir dahin gewirkt hat, etwas sehr Großes herauszuarbeiten.

Der Liebe beraubt, in die ich das Beste meiner Seele gelegt hatte, habe ich begreifen gelernt, was es heißt, nach der ewigen und 'einzigen sich selber treuen Liebe dürsten.' [1]

In solchen und ähnlichen Fällen liegt es natürlich nahe, in der Ausbildung des theomanischen Romans mit allen seinen geschlechtlichen Analogien einen hysterischen Ersatz für das zu kurz gekommene Triebleben zu erblicken.

Es soll mit allem Nachdruck ausgesprochen werden: nichts hindert uns, einen freilich nur individual-psychologisch bestimmbaren Teil der Heiligenhysterie als Neurose vom psychanalytischen Typ zu deuten.

Aber wie viel von mystisch-religiösem Leben auch dem Erforscher profaner Psychosen auszuliefern sein mag: es bleibt ein bedeutsamer Rest, in welchem sich der Charakter des mystisch Liebenden von dem des sexuell Introvertierten unterscheidet und damit auf Komplexinhalte hindeutet, die von denen des letzteren durchaus verschieden sind.

Obgleich ich z.B., als das Bild des Erotomanischen umrissen wurde, unter den verfügbaren klinischen Schilderungen diejenigen auswählte, an denen eine Vergleichung am ehesten durchführbar erschien, so ist der Abstand von den besten mystischen Typen noch immer ein beträchtlicher.

Abgesehen von einer noch gründlicheren Ablehnung des Offengeschlechtlichen, als sie bei den Erotomanischen statthat, finden wir bei den typischen Vertretern der Gottesliebe meist keine Spur von den maßlosen Lächerlichkeiten, der geistigen Gestörtheit und Unzurechnungsfähigkeit, der Willensschwäche, der zudringlichen Albernheit so vieler Erotomanischer. [2]

Äußerst selten auch ist bei jenen der bei Erotomanischen beobachtbare Ausgang im sog. erotischen Fieber, das zum schnellen Verfall und Tode des Kranken führt. [3] Ich entsinne mich eigentlich nur eines namenlosen Franziskaners im Konvente Ara Coeli, eines gewissen Br. Antonio, von dem S. Philipp Neri häufig erzählte, er habe immerzu ausgerufen: Amore langueo, ich schmachte vor Liebe, bis er, wirklich langsam hingezehrt, vor Liebe gestorben sei. [4]

Aber nicht nur in diesen Einzelheiten unterscheiden sich die Gottliebenden in allen typischen Fällen von Profan-Erotomanischen, sondern vor allem durch die enge innerliche Verknüpfung ihres Liebeslebens mit den besonderen Zielstrebigkeiten der mystischen Charaktergestaltung, mit dem, was man als die religiösen 'Werte’ bezeichnen kann; und Wertstrebigkeit ist ja, wie oben ausgeführt, ein wesentliches Merkmal des höheren Liebeslebens.

'Ich erfreute mich, sagt Maria von S. Teresa, daß ich mich nach der Natur unfruchtbar gelassen um der Liebe dieses

[1] Flournoy, M. M. 34.
[2] Vgl. Bouchereau in H. Tukes Dict. 702; Laurent 138. 144f.; Esquirpl, Des mal. ment. II 79f. (Don Quijote!)
[3] S. z.B. H.Tuke, in JMS III 359; Esquirol, aaO. 40.
[4] Vgl. auch Rousselot 420 (Juan de Jesu-Maria).


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 255)

fruchtbaren Gottes willen, damit ich desto fruchtbarer sei nach der Gnade.' [1] Was diese religiösen Werte der 'Gnade' letzten Endes seien, ist uns im augenblicklichen Stadium der Untersuchung noch keineswegs klar.

Doch entsinnen wir uns, daß Gottesliebe immerhin nur ein Teil der mystischen Erfahrung ist, daß sie mit anderen typischen Erfahrungen aufs engste verbunden ist, von denen wir einstweilen nur die sog. 'Gegenwarts'-Erlebnisse und gewisse moralische Intuitionen der 'Heiligkeit Gottes' kennen lernten.

Das ganze Ineinander dieser z.T. erst zu beschreibenden Erfahrungen ist es, was das Wertungsleben des Mystikers bestimmt; in diesem ganzen Komplex von Wertungen ist aber auch der Gottgeliebte ihm ein zielbewußter Führer.

Wenn z.B. die Heilige von Genua in einer inneren Ansprache die Versicherung erhält, 'mit der Liebe (zu Gott) werde sie immer gerade, lauter, leicht, sorgfältig, bereitwillig, erleuchtet, ohne Irrtum und ohne Führung oder Vermittlung eines Geschöpfes wandeln',

wenn sie in der Beleidigung des Geliebten 'eine so furchtbare und unerträgliche Sache' findet, daß sie jede andere Buße erbittet, um nur von jener verschont zu bleiben; wenn sie 'die ärgste und unaussprechlichste Pein darin findet, auch nur die geringste Sache oder die mindeste Widersetzlichkeit als ein Hindernis zwischen sich und den Geliebten treten zu lassen, [2]

so liegt die Bedeutsamkeit solcher Erfahrung, die ja typisch für diejenige Zahlloser ist, eben darin, daß dieser glühend Geliebte die Verkörperung eines Ideals ist, dem sich der Fromme im Verlauf des mystischen Weges schrittweise nähert; und von diesem Ideal ist die möglichst umfassende und ichvergessene Liebe, die alle Persönlichkeitswerte der Innerlichkeit, der Loslösung aus Welt- und Sachverstrickung, der Reinheit von Sinnlichkeit und 'Leidenschaft' bei erhaltenem Feuer des Gefühls zu verwirklichen strebt, eben schließlich doch nur ein Teil, wie wir im Verlauf der Darstellung mehr und mehr begreifen werden.

Aber eben die Annäherung an dieses Ideal erreicht der Heilige nicht zuletzt in jener mehr sensualistischen Form des mystischen Liebeslebens, in der er den Geliebten nahe und in sich zu fühlen meint und die ihn so oft der Beurteilung nach rein sexualistischen Grundsätzen der Neurosenlehre ausgesetzt hat. Wir wissen schon aus Früherem, wie oft die erste Erweckung zum geistlichen Leben mit einem mystischen Wonnerausch zusammenfällt. [3]

Die Berufung des Heiligen von Assisi, eines der namhaftesten aller Kirchen, ging ganz wesentlich in der Form einer 'Durchgießung mit göttlicher Süßigkeit' vor sich, die ihn alsbald 'ins Reich der unsichtbaren Dinge hinriß und alle weltlichen Werte ihm entwertete'. [4] Und Bogatzki, in der Stille des Landlebens über dem

[1] Maria de S. Ter. 33f.
[2] Lechner 63. 109. 110.
[3] S.o.S. 27. 34. 228.
[4] Tanta ... fuit dulcedine divina perfusus, ut affari non valens penitus de loco moveri non posset: 2 Cel. p. I c. III (Romae 1880 10). Ganz ähnl. 3 soc. c. III (Romae 1880 9). P. Sabatier in seinem bekannten 'Leben' des Heil. (engl. Übs. 22f.) verschweigt dies seltsamerweise ganz. - Affectio spiritualis ipsum ad invisibilia raptans, cuius virtute terzena omnia nullius esse momenti, sed penitus frivola iudicavit: 2 Cel. aaO. Vgl. auch Rich. de St. Victor, De contempl. I. V c. 16, u. Scaramelli 364.


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Lesen von Scrivers 'Seelenschatz' (bei einer Predigt über die Freuden des heiligen Geistes) zum ersten Male 'plötzlich mit einer solchen überschwänglichen geistlichen Freude überschüttet, daß ich gleich auf meine Kniee hinfiel und mit Freudentränen den Herrn lobte und zu ihm betete', erhielt dadurch in seiner 'Seele ein rechtes Licht' und lernte 'den Unterschied einsehen, der da ist zwischen einem bloß moralischen, tugendhaften Leben und dem Gnadenwerke des heiligen Geistes oder solchen göttlichen Tugenden, die. .. aus dem Glauben und aus der Freude des heiligen Geistes gewirkt werden'. [1]

Ebenso verwahrt sich Kanne, der die 'unbeschreibliche Freude des himmelsüßen Hauches' bei seiner Erweckung erfuhr, ausdrücklich gegen dessen Auffassung als 'bloßen Empfindungsbeweises' der christlichen Religion; er habe mehr damit erlebt und verstanden 'aus eigener lebendiger Erfahrung', nämlich: was das 'neue' Leben und was der wiedergeborene Mensch sei, eine Liebe zu Christo, eine unerschütterliche Gewißheit und einen unvertilgbaren 'inneren Beweis', daß sein Erlöser lebe; und jedenfalls etwas, das 'höher als alle Vernunft' sei. [2]

Desgleichen bezeichnet jede neue Rauscherfahrung im Verlaufe des mystischen Weges eine Förderung in seinem Sinne: eine vermehrte Verjenseitigung nicht bloß, sondern auch Heiligung und Versenkung in Gott.

'0 Herr', betet Mechthild von Magdeburg (1212-77), minne mich gewaltig und minne mich oft und lang, je öfter du mich minnst, um so reiner werde ich, ... je länger du mich minnst, um so heiliger werde ich auf Erden'. - 'Kommt (das Feuer der Liebe Gottes) von oben herab, schreibt S. Teresa, so verzehrt es gleichsam den alten Menschen mit allen seinen Mängeln, mit aller seiner Trägheit und mit all seinem Elende. ..

Die Seele wird in eine ganz andere verwandelt mit weit andern Begierden und mit großer Stärke. Sie scheint nicht mehr die zu sein, die sie zuvor gewesen ist, sondern sie fängt mit neuer Reinheit an, den Weg des Herrn zu wandeIn... (Nach den großen Verzückungsgnaden) nahmen meine Übel und Fehler ein Ende.

Der Herr gab mir eine Stärke, mich davon loszureißen, und nun schadete es mir nichts mehr, wenn ich mich auch in Gelegenheiten und unter denen befand, die mich zuvor gewöhnlich verwirrten und zerstreuten. [3]

Und wie der mystische Rausch anscheinend oft die sittliche Verjenseitigung 'bewirkt', so tritt er in andern Fällen anscheinend im unmittelbaren Gefolge einer entscheidenden Wendung nach innen auf.

So z.B. bei Noyes, dem amerikanischen Perfektionisten. Nach einer für seine innere Stellungnahme entscheidenden Predigt in Anknüpfung an Römer 10, 7-10, empfängt er in der folgenden Nacht auf seinem Bette 'die Taufe, die er erwartete. Dreimal in rascher Folge ergoß sich ein gewaltiger Strom ewiger Liebe durch mein Herz, ... unaussprechliche Freude voll himmlischer Herrlichkeit erfüllte meine Seele; ... ich wußte, daß mein Herz rein sei. [4]

[1] K.H.v. Bogatzky, Lebenslauf von ihm selbst beschrieben 29f.
[2] Kanne I 294f. Ähnlich James, Varieties 190ff. (Bradley); Leuba, in AJRP VII 352 (U); Ratisbonne 126f.; Dyer 63.
[3] S. Teresa I 382. 377. 185; vgl. 151. 166; V 114. 126; Guyon, Vie I 79f.
[4] Noyes, Confessions 18; vgl. Phillips 434 ff. (nach völliger innerer Beugung), und o. S. 22 über Mme. Guyon.


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Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 257)

Man würde also nicht den ganzen Zusammenhang erschöpfen mit dem naheliegenden Einwande, daß das mystische Wonneerlebnis lediglich Symptom eines krankhaften Zustandes sei, welcher sich in der Introversion des geschlechtlichen und Liebeslebens ausspreche.

Ein Merkmal der Verinnerlichung und Verjenseitigung ist es unstreitig; aber es steht in organischer Wechselwirkung mit der Gesamtheit der Erscheinungen, welche die mystische Abkehr von der Welt, die Zukehr zur Welt des unterbewußten Lebens und die geistliche 'Wiedergeburt' andeuten und die in augenblicklich noch nicht völlig durchschaubarer Weise über die bloße Introversion der Sexualität offenbar hinaus gehen.

Aus der Einkehr in den 'Grund' (der Seele), in das ekstatische Leben der 'Gott'-Erfahrungen und -Intuitionen wächst jenes Wonneerlebnis hervor und 'bewirkt' seinerseits einen ruckhaften Fortschritt in jener Einkehr.

So verbinden es z.B. Zusammenhänge dieser Art mit dem Erlebnis der 'Gegenwart Gottes', einer der bemerkenswertesten Formen mystischer Erfahrung [1] und zugleich einer der am sichersten nicht sexual zu deutenden.

Aber auch die wahrnehmungsmäßig-dramatischen Ausgestaltungen des mystischen Liebeslebens, der in Automatismen oder Visionen sich verleiblichende Liebesroman der Gottesfreunde dient nicht bloß der verinnerlichten Erotik, sondern ebenso sehr der Förderung auf dem sittlich-praktischen Wege zum Ideal.

Die Religiösen führen hier einen Typ der Ausnutzung unterbewußter Bildungen fort, den ja auch die profane Psychologie der Spaltungen vielfach belegt. Wir wissen, daß es meist gesonderte Seiten des Charakters sind, die sich in den 'Führern', den gehörten und gesehenen 'Schutzgeistern', den zur Ständigkeit und Selbständigkeit erblühten Ich-Automatismen der Somnambulen und Medien verkörpern. [2]

Eine 28jährige 'Hysterische' Solliers entwickelte 'in dem Maße, als sie ihre Hysterie überwand' (denn die geordnete Ausbildung der 'zweiten' Persönlichkeit rettet ja häufig vor dem verhältnismäßigen Chaos des hysterischen Zustandes), zwei Stimmen': die eine rechts vom Nacken, ihren 'Instinkt',

die andere zur Linken, ihre 'Vernunft'; deren erste ihr 'stets das Nützlichste rief, ohne sie je zu täuschen, nach deren endlichem Schwinden sie nur die Augen zu schließen und 'in sich selbst – au fond d'elle-même - hinabzusteigen' brauchte, um zu einer 'durchdringenden' Beurteilung der Dinge zu gelangen und sich selbst gänzlich zu erfassen – de se connaître au fond. [3] -

Nicht selten eben sind es ausgesprochen 'sittliche' Teilstrebungen, die sich so verkörpern. Eines der ehemals namhaften Subjekte aus der guten alten Zeit der Somnambulen, der Knabe Richard Arz, hatte sein 'schwarzes Männchen', das ihn 'warnte' und beispielsweise zwang, etwas 'Unschickliches, das in (seiner) Nähe geschah', zu 'überhören'.

'Ich müßte', sagte Richard, 'alles Unpassende, wenn es durch Zufall in meine Hände käme, ohne weiteres überschlagen, ohne daß ich selbst wüßte warum.' Diese Aussagen, fügt der Beobachter hinzu,

[1] S. z.B. die Bekenntnisse bei Pratt 248. 258.
[2] Vgl. Flournoy, Des Indes 83f. 123 f. und o. 63 ff. 192.
[3] Sollier, Autosc. 88 ff. Ein noch weiter halluz. ausgebildeter Fall Pr X 196.


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wurden durch die Tatsachen bestätigt, auch außerhalb des magnetischen Schlafes. [1] Noch 'merkwürdiger' sind die Erfahrungen des von Prof. Perty geschilderten B., der von Kindheit an in visionärem Verkehr mit außerordentlichen Persönlichkeiten der Vergangenheit stand und dadurch einer sittlichen Erhebung und Läuterung teilhaftig zu werden meinte.

Jesus erschien ihm dreimal nacheinander, allerdings 'im Traume, wunderbar klar und deutlich, und erfüllte mich mit solcher Liebe und unaussprechlicher Sehnsucht nach ihm, daß jene drei Visionen den größten Eindruck für mein ganzes Leben machten.' 'Ich liebte die ganze Welt und hätte für Freunde, die mich öfters schnöde behandelten, den Tod leiden können.'

Eine ähnliche Rolle spielte bei ihm nachher u.a. die Gestalt Schillers, dessen 'unendlich seelenvolles Auge sein Innerstes durchdrang' und der ihm Ratschläge erteilte. 'Das Gefühl der Liebe zweier irdischen Wesen kann in keinen Vergleich gestellt werden mit jener hohen, immer nur wenige Sekunden währenden Begeisterung, die stets mit einem merkwürdig wirbelnden Gefühl nach oben, einem Zittern aller Fasern des Gehirnes schloß.'

'Nach diesen und anderen Visionen klassischer Persönlichkeiten (die ihn lange begleiteten), war sein ganzes Wesen gehoben, vieles Dunkle ihm klar geworden, er fühlte sich freier, reiner, edler.' [2] -

Auch die psychiatrische Beobachtung liefert uns Fälle von systematisierter Führung, gelegentlich sogar mit inhaltlichen Anklängen an das innere Leben der Mystiker; wie etwa bei jenem verheirateten Studenten der Medizin, Henri B .. ., einer etwas belasteten, 'medial' veranlagten Persönlichkeit:

Dieser hatte eine allmähliche Veränderung in sich gefühlt, ein unerlaubtes Liebesverhältnis angeknüpft, er fing an im Kopfe eine Stimme zu hören, anscheinend die seines Freundes Albert D ..., die er hervorrufen konnte, wenn sie nicht von selbst kam; danach eine zweite, anscheinend einem andern Freunde zugehörige:

beide berieten ihn in allen Lagen seines täglichen Lebens, wiederholten die Vorwürfe, die er sich zu machen hatte, mahnten ihn zur Sühne durch religiöse und okkulte Praktiken, zur Reinigung seiner Seele, zum Verlassen seines beschmutzten Leibes (tatsächlich glaubte er sich zuzeiten außerhalb seines Körpers zu befinden); allmählich traten zu den obigen Stimmen die seines verstorbenen Vaters, die des Heilandes, schließlich - sehr von ferne - die Gottes hinzu, deren Ermahnungen die gleichen waren.

Er faßte einen Haß gegen seinen Körper, entwickelte eine übertriebene Frömmigkeit, beichtete, wobei er eine Vision hatte. Bald sah er auch Geister, darunter den seines Vaters, Jesus Christus auf einer leuchtenden Wolke, usw. Gelegentlich verlangte er selbst nach einer Heilanstalt. [3]

Daß verwandte Leistungen auch dem automatischen Leben und seiner reifsten Ausgestaltung: dem halluzinatorischen Liebesroman bei Mystikern eigen sind, ist uns schon gelegentlich der Schilderung der religiösen Automatismen bekannt geworden, und sofern die dort gegebenen Beispiele ein deutliches Moment sittlicher und mystischer Führung aufweisen, würden sie auch in den gegenwärtigen Zusammenhang passen. [4] Sie ließen sich überdies leicht vermehren.

[1] Bei du Frei, Mag. 11 301. Vgl. die ins Gewissen redende Stimme bei Ludlow 208, und Prince 509ff. über 'Sally'.
[2] Perty, Blicke 59f. Vgl. Staudenmaier in ANPh IX Heft 4; andere Beisp. PS XXXII 89; XXXIV 673.
[3] AMP 1904 272-4. Vgl. den Fall bei Vallon und Marie in AN 1897 27f.
[4] Vgl. o. Kap. VIII S. 82 f. 85.88.91.93ff.


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 259)

Die schon mehrfach erwähnte Jungfrau Sophia, Jesu 'himmlisch Fleisch und Blut' oder des heiligen Geistes Leiblichkeit, 'die himmlische Jungfrau des inneren Menschen' - schenkt ihren Gläubigen zwar ein 'unbeschreibliches heiliges Umarmen, Küssen und Süßigkeit innerlich', [1]

aber gerade mystische Wollust darf man bei ihr nicht allein suchen; das tun die 'Buhler und keine ernste Werber'; wer ins Ehebett will, muß erst 'alle Proben der sieben Siegel durchstehen und Schulrecht tun', 'Finsterniss, Creutz, Leid' auf sich nehmen, um erst in der 'gäntzlichen Verleugnung, von aller Creatur verlassen', der Sophia zu begegnen und von ihr in den ersten Stand nach dem innern Menschen gebracht zu werden. Denn diese 'brennende Liebe ändert alles'. [2]

Es wäre freilich verfehlt zu glauben, daß alles, was an solcher automatischer Führung in sog. religiöser Biographik berichtet wird, von der Art dieser ideal mäßig-einheitlichen Zielstrebigkeit sei.

Im Gegenteil, diese Berichte liefern in Menge auch Beispiele 'psychiatrischer' Prägung, und selbst die typisch-mystische Erfahrung Vieler zeigt sich durchsetzt von Führungserlebnissen, deren verworrene Sinn- und Zwecklosigkeit vom Standpunkt mystIscher Ideale aus unüberbietbar erscheint. Die 'göttliche Führung' zeigt sich häufig, zumal auf frühen Stufen der Entwicklung, nicht nur beständig aussetzend, sondern auch unzuverlässig, widerspruchsvoll und gleichsam ratlos.

Radajew z.B., in vielem ein echter Schüler der Guyon’schen Vergottungslehren und ein beständiger und eindringlicher Lehrer der Enthaltsamkeit, soll doch zuweilen unmittelbar nach Reden über diese Tugend sich an ein Mädchen gewandt haben: Nicht ich, sondern der Heilige Geist befiehlt dir, mit mir zu gehen; worauf ihm diese blindlings zu Willen war.

Zu 13 Frauen und Mädchen soll er so in geschlechtlichen Beziehungen gestanden haben. Vor Gericht bedauerte er selbst die Nichtübereinstimmung solcher Taten mit dem geschriebenen Gesetz. 'Wir trauern darüber, daß unsre Taten verführerisch sind. Was sollen wir aber tun? Wir haben keinen eigenen Willen.

Die in mir wirkende Kraft gibt keine Ruhe Tag und Nacht, führt mich hierhin und dorthin, läßt mich weder essen, noch trinken, noch gehen, wie ich will.' Andere dürften nicht tun, was er und seinesgleichen auf Gottes unwiderstehlichen Befehl täten. Die abscheulichste Tat Gottes aber sei millionenmal besser, als die beste Reinheit der Menschen. [3]

Einige Quäker, dem 'innern Lichte' folgend, schlugen ihre Mutter tot, weil jenes ihnen befahl, das Original der Sünde zu töten, wofür sie ihre Mutter hielten. [4] Und ähnliche scheinbar ursachlose Morde Nächststehender kamen bei den Wiedertäufern mehrfach vor, immer mit der Entschuldigung: es war der Wille meines himmlischen Vaters. [5]

Auch aus Kreisen der Sufi kommen uns ähnliche Bekenntnisse. 'Miss nicht die Seele eines Menschen, die mit Gottes Lichte brennt, mit Sitte und Brauch

[1] GichteI, Theos. I 395. 529; II 1030; III 2153; v 3409; vgl. VI 1799. 1801.
[2] Das. III 2393; VI 1708; IV 2721; I 529.
[3] Grass 222ff_; ähnlich Jacoby in AAC XVIII (1903) 776; Davenport 122.
[4] Bei Ideler I 318.
[5] Kreyher I 79; anderes bei Corrodi III 185 f.


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Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 260)

anderer Leute! Redet er Sünde, so nenne ihn doch nicht einen Sünder! Mordet er, so ziehe du doch nicht dein Schwert! Denn seine Sünde geht über alle Tugenden.' [1]

Im Westen ist die Anklage des automatistischen Libertinismus (wenn ich so sagen soll) am schärfsten gegen jene Gemeinschaften erhoben worden, die man zusammenfassend als 'Brüder vom freien Geist' bezeichnen könnte und in deren Reihen wir Begharden und Beghinen, Lollarden, Adamiten, Picarden, Amalricaner, Turlupiner u.a. beisammen finden.

Aber die widerspruchsvolle Natur der Berichte, aus denen die entstellende und unterschiebende Wut von Pfaffen und Pfründnern gegenüber höherer Ursprünglichkeit und Echtheit sich deutlich heraushören läßt, erschwert eine Unterscheidung, in welchem Verhältnis sich hier mystisch Vergottete und wirklich Fromme etwa mit Anarchisten des Charakters und mißverstehenden oder berechnenden Mitläufern zusammengefunden haben mögen. [2]

Solchen Erscheinungen gegenüber gibt es nur zwei Auswege des Denkens. Entweder müssen wir zugeben, daß das mystische Ideal in praktischer Hinsicht nicht in dem Maße der Liebesethik verschrieben sei, wie die bisherige Darstellung annehmen läßt, daß ein gewisses Jenseits von Gut und Böse in seinen Tiefen verborgen schlummere. [3]

Oder wir müssen annehmen, daß diese Widersprüche das Merkmal einer noch unvollständigen Ausbildung des Ideals in dem Einzelnen sind, einer mangelhaften Vereinheitlichung der führenden Seelentiefe, die dem Ich, der 'Natur', dem 'alten Menschen' noch einen namhaften Spielraum belassen hat.

Dieses ist in der Tat die Deutung, die den Klassikern der Mystik selbst sich meist empfohlen hat. Tauler z.B., der bekanntlich heftig gegen die 'freien Geister' gestritten hat, meinte, sie 'stehen in ihrem natürlichen Licht und flattern herum und haben keinen Durchbruch getan durch das hochwürdige Leben unseres lieben Herren Jesu Christi, und haben ihre Natur nicht durchbrochen mit Übungen der Tugenden, und sind nicht gegangen durch den Weg der wahren Liebe'. [4]

Das Unterbewußtsein, das ja auch Quelle aller 'Führung' ist, stellt eben - wie wir im Laufe der Untersuchung mehr und mehr begreifen werden - tatsächlich eine Mannigfaltigkeit von sehr verschiedener Art und Herkunft dar. Wir sind schon einmal darauf gestoßen, daß gerade unsere Deutung der Heiligenhysterie ihm zum mindesten eine doppelte Rolle zuschreiben muß.

Teils keimt das mystische Ideal selbst in jenen Tiefen, und es ist uns bisher noch keineswegs gelungen, dieses Keimen restlos als Wirkung von Absenkern 'bewußter' Triebe zu begreifen. Anderseits wirken diese Ideale, nachdem sie schon ins Bewußtsein getreten, als Ursachen der Verdrängung ins Unterbewußte hinab, und es steht ohne weiteres zu erwarten, daß diese verdrängten, unter Druck gesetzten Inhalte sich rächen werden, indem sie als

[1] Edv. Lehmann, Die Mystik im Heid. und Christentum (Berl. u. Lpz. 1918) 31. Vgl. Ethé, Morgenl. Stud. 119 und o.S. 42.
[2] Vgl. z.B. A. Jundt, Hist. du panthéisme pop.  au moyen age ... 109; Preger III 134; Moll, Holländ. Kirchengesch. I! 423.
[3] Erst in einem späteren Teil des Werkes zu erörtern.
[4] Pred. 100b, bei Preger III 135; vgl. Pred. 118, das. 228.


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 261)

hysterische Symptome oder störende, idealfeindliche Triebhandlungen wieder an die Oberfläche treten. Ein doppelter Ursprung der Heiligenhysterie wäre danach anzunehmen: das Unterbewußtsein - nach jeder tiefer greifenden Theorie von beherrschender Bedeutung in aller Hysterie - wäre nicht nur das gediegene Fundament eines seltsam zerrissenen Oberbaues, sondern 'auch der Verbrecherkeller, in welchem die gefährlichsten Explosivstoffe gelagert sind.

Die Mystiker haben dies stets gewußt, und keiner hat allen 'Einsprachen' von dort her gleichen Wert zugeschrieben. Einige, meint z.B. GichteI, kommen vom spiritus mundi. 'Was mit Furcht, Schrecken, Pein, Drohungen ankommt, ist suspect und kommt aus dem Zorn, welches ich allezeit verfluchet und mich nur an die Liebe gehalten habe.' [1]

Bei halbwegs 'vergotteten' Naturen ist die einzige Entschuldigung für solche Einbrüche des Feindes, daß sie doch vergleichsweise weit mehr an der seelischen Oberfläche oder Außenseite verlaufen, ohne die innerste Natur noch zu berühren;

und es mag daher einigermaßen verständlich erscheinen, wenn z.B. Radajew es als Beweis für die Göttlichkeit selbst seiner bedenklichsten Taten ansah, daß er durch sie nicht von der 'Gnade' entblößt würde, daß sie weder Fühllosigkeit noch Verstockung noch Grausamkeit in seinem Herzen entstehen ließen, vielmehr Liebe zu Gott und Demut, Glauben und Sanftmut und Gebet, mit ungewöhnlicher Freude und Süßigkeit. [2]

Auf alle Fälle bleibt es das Ideal des Mystikers, durchgängig geführt sein zu können, ohne mit seinem innersten Ideal in Widerspruch zu geraten. Ja was den Vollendeten vom Anfänger oder Irregegangenen unterscheidet, ist eben die Einheitlichkeit und tiefpersönlich empfundene Vertrauenswürdigkeit des fremden Komplexes, womit 'der Herr einen jeden führt, wie er sieht, daß es ihm notwendig ist', [3] und zu diesem Behuf selbstbewußtem Meinen, Erwarten, Hoffen und Wünschen des Ich widerspricht und als eine selbst in praktischen Dingen eigene Wege wandelnde Macht dasteht. [4]

Daß die Leistungen dieses selbständigen und zielbewußten Führungskomplexes sich in erster Linie auf das geistliche Leben und Fortkommen des Geführten richten (wie in der Mehrzahl der obigen Beispiele), ist natürlich und uns bereits bekannt, nicht minder aber jene praktische Schlagfertigkeit des Automatismus auch in allen jenen Einzelfragen, die in den äußeren Bezirken des Heiligenlebens innerhalb der Welt entstehen. [5]

Hierauf beruht ja ganz besonders die befriedende Wirkung des vollen Geführtseins, indem - nach den Worten eines Kenners [6] - die göttliche Führung den Frommen wissen läßt, was er zu wissen braucht, und nicht wissen,

[1] GichteI, Theos. I 529; vgl. 424.
[2] Grass 223.
[3] S. Teresa IV 171 (Mor. VI c. 8). Bis zum täglichen, alles umfassenden Erlebnis bei E. Roberts (Bois 464).
[4] S. z.B. de Cort 186; S. Teresa I 232 (c. 26); Chasle 341; bei 'Somnambulen': z.B. du Prel, Ph. d. M. 428.
[5] VgI. o. 85. 92.
[6] S. ]ean III 9f. (Sub. I. III c. I).


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 262)

was ihm nicht zu wissen gut ist; sich erinnern an das, was zu erinnern ihm nottut, und vergessen, was er vergessen soIl, und so alle seine Werke mit dem Siegel der vollkommenen Vernünftigkeit und Angemessenheit versieht.

Von S. Katharina von Genua heißt es mit Bezug auf die Zeit ihrer schweren Arbeit als Vorsteherin des Spitales Pammatone: 'Sie verzichtete auf das Denken, wußte aber dennoch immer, was zu tun und zu handeln war. .. War eine Sache getan, so war das Andenken daran erloschen. ..

Ohne denken zu wollen, dachte sie doch immer das Richtige, . .. ohne ihr Gedächtnis anzustrengen, fiel ihr augenblicklich ein, wessen sie bedurfte.' [1] Und ähnlich berichtet Anne-Madeleine Remuzat in Marseilles über die letzte Zeit ihres Lebens, da sie der Wirtschaft ihres Klosters vorstand:

'Ich finde, daß jede Pflicht sich erfüllt. Der Geist Gottes unterrichtet mich betreffs aller meiner Pflichten und läßt mich sie erfüllen in einem Maß der Vollkommenheit, das jede Befürchtung überflüssig macht. .. Diese Erfahrung bewirkt, daß ich fast alles selbst besorge, oder, richtiger gesagt, von dem Beistand Gottes besorgen lasse, ohne irgend jemand sonst heranzuziehen.' [2]

Alles gelingt: das ist die freudige Entdeckung der Frau Guyon auf ihrer letzten Entwicklungsstufe. 'Ich wußte, ich verstand, ich konnte alles, und ich wußte nicht, wo ich diesen Geist und dieses Wissen hergenommen, diesen Verstand, diese Kraft, diese Leichtigkeit.' Denen, die sie beobachten, scheint sie un esprit prodigieux zu haben, aber sie selbst empfindet dies als Ruhen in Gottes Hand. [3]

Die vorstehenden Ausführungen bahnen nun schon eine weniger einseitige Auffassung der Heiligenhysterie an, als sie die rein sexualistische Theorie gestattet. Wir betrachten die Seele des Mystikers als den Kampfplatz mehrerer Triebkräfte, - wenn man so will:

mehrerer Formen der Libido (in erweiterter Fassung), mehrerer Richtungen des 'Lebensdrangs oder Lebenswillens', die wir indessen sehr weit entfernt sind, durchweg als Auswirkungen des Geschlechtstriebes anzusehen, und von denen der eigentlich mystische Trieb, der ausschlaggebende 'religiöse Komplex', noch durchaus seiner abschließenden Inhaltsbestimmung harrt.

Hiermit ist, wie ich bereits hervorhob, eine Beteiligung des verdrängten Geschlechtstriebes an der Zerklüftung der mystischen Seele keineswegs ausgeschlossen, sondern im Gegenteil nachdrücklich gefordert. Diese Seite unserer Erwägungen können wir jetzt mit etwa folgenden zusammenfassenden Gedanken zum Abschluß bringen:

Wie jede geistige Bestrebung, auch jede Art der höheren Liebe, so sind natürlich auch die 'religiösen' Strebungen in den Zusammenhang des einheitlichen Menschenwesens eingeordnet, worin jede Kraft auf jede andre sich stützt, jede EinsteIlung verwandte EinsteIlungen stärkt oder ausnützt, jede Erregung in allen organisatorisch 'benachbarten' oder 'befreundeten' Gebieten ihren Widerhall wachruft, oder selbst auf feindliche und störende überspringt. Nach dem schon oben umschriebenen Grundsatz der Spannungsökonomie

[1] Lechner 106f.
[2] Remuzat 361. 363. 365; vgl. Maria de S. Ter. 66; Chasle 327; Rogers 45. 51.
[3] Vie II 23; vgl. 240f.


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Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 263)

unterdrückt der Mystiker jede Verausgabung von Kraft auf äußerlich-sexualem Wege, um sie restlos verfügbar zu halten für das 'innere Werk', das ihm am Herzen liegt: 'der Ausbau einer neuartig gerichteten Ich-Kraft wird erlangt durch Befestigung der Enthaltsamkeit', sagt die Jahrtausende alte Yoga-Sutra des Patanjali. [1]

So benutzt im Grunde jede 'höhere' Leistung des Menschen jene Gewalt der Spannung, die nach ihrer äußerlichsten und (letzten Endes) unfruchtbarsten Form im Geschlechtsrausch erlebt wird, die aber auch in ihrer höchsten Verwertung immer noch den gleichen glühenden Dunstkreis unter sich fühlt und in der Ausbreitung über den ganzen Menschen tatsächlich immer in seelischer Nähe der geschlechtlichen Entladung bleibt.

Wir empfinden den Unterschied 'kühler' und 'glühender' Leistung in jedem einzelnen Falle sehr deutlich, wie auch den Unterschied kühler und glühender Verhältnisse zwischen Menschen, der vielfach mit dem Unterschiede geringerer oder größerer 'Nähe' des geschlechtlichen Ausbruchs zusammenfallen wird.

Auch das Verhältnis zu dem geglaubten und unter Umständen 'wahrgenommenen' göttlichen Freunde oder Geliebten, in welchem das ganze mystische Streben sich zusammenfaßt und verkörpert, - auch das Verhältnis zum Gotte wird und darf seine Glut und darum Arbeitsspannkraft zum Teil daher ziehen, daß es jede Erregungsfähigkeit des Organismus in seine Strömung hineinzureißen sucht.

In den meisten Fällen wird dann die Geschlechtlichkeit im engem Sinne verschwunden sein, sich soz. in gelöstem Zustande befinden, oder - ein anderes Bild zu gebrauchen - wie dunkle Strahlung, als Hitze spürbar, mitschwingen. Dies ist das typische und - wenn mich nicht alles trügt - für das mystische Gelingen auch günstigste Verhältnis.

In einem zweiten Verhältnis ist offen-geschlechtliche Tätigkeit erhalten, aber - wenn ich recht sehe - zum Vorteil weder des Geschlechtslebens noch des mystischen Aufschwungs: denn dieser büßt an Geschlossenheit und Nachhaltigkeit ein, jenes an eigentlicher, tieferer Lust. [2] -

Das dritte beobachtbare Verhältnis zur Geschlechtlichkeit unterscheidet sich von beiden bezeichneten insofern, als es sich unwillkürlich, ja gegen den Willen des Mystikers herstellt: es entsteht durch den eigenmächtigen Übergriff der Erregung auf geschlechtliche Bahnen.

Denn der 'Weg nach unten' bleibt auch beim Mystiker fast immer gangbar, und er steht um so weiter offen, je erregbarer und hemmungsfreier der Einzelne veranlagt ist. [3] Dies kann so weit gehen, daß gleichzeitig mit einer geistlichen Erhebung – wenn man so will: einer Erregung der 'höheren Zentren' - die niederen, sich selbst überlassen, aber miterregt durch jene 'höhere' Erregung, sich in ihren charakteristischen Leistungen ergehen, die jenen höheren ja

[1] K. II sl. 38.
[2] Vgl. z.B. O. Pfister, Die Frömmigkeit des Gr. L. v. Zinzendorf (Lpz. u. Wien 1910) 107.
[3] Vgl. die scharfsichtigen Ausführungen über die Wirkungen einer complexion délicate et tendre (faiblesse naturelle) und von Kontrastsuggestionen der Furcht vor solchen Rückschlägen bei S. ]ean III 257ff. (N. O. I, 4).


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 264)

mindestens 'haltungsverwandt' sind. [1] Aber nach dem oben Gesagten werden wir hierin einen Beweis für die 'geschlechtliche Natur' der mystischen Leistung nun endgültig nicht mehr zu sehen brauchen, so wenig als wir in der Derivation einer mißlungenen logischen Anspannung auf das Geschlechtsgebiet bei einem Psychastheniker [2] einen Beweis für die geschlechtliche Natur z.B. mathematischen Denkens finden können.

Das Geschlecht ist von Natur das gespannteste Teilgebiet und daher innerhalb eines einheitlichen Lebenszusammenhanges [3] dazu vorbestimmt, von jeder nicht fest umzäunten Erregung in Mitleidenschaft gezogen zu werden. [4]. Der Mystiker faßt diese Erscheinungen ganz richtig gleichsam als Randvorgänge, als Grenzstörungen auf, die nicht sonderlich zu beunruhigen brauchen.

Durch Askese hat er ihnen das Wasser abzugraben gesucht, meist ohne ihr wirkliches Absterben erreichen zu können. So empfiehlt er denn ihnen gegenüber in erster Linie Passivität, innere Nichtbeteiligung und Nichtbeachtung, d.h. Unterstützung der 'Äußerlichkeit' der Vorgänge. [5]

Im übrigen ist es nach mystischer Erfahrung der Zweck der Dürre, diese abwärtsführenden Kanäle auszudörren und damit die 'Gefährlichkeit' der religiösen Erhebungen in der Vergottung aufzuheben. S. Johann vom Kreuze behauptet, daß nach dem Durchschreiten der 'zweiten Nacht' jene 'nicht rein geistlichen Gnadenbezeigungen aufhören, die zuweilen bis zum Ausrenken der Glieder gehen' und die wir vielleicht als Analogien des Geschlechtsaktes auffassen dürfen; bei den vollkommenen Seelen, sagt der Heilige, die der 'Freiheit des Geistes genießen', treten diese nicht mehr ein. [6]

Wie aber hiermit die Geschlechtlichkeit in der Inhaltsbestimmung des religiösen Komplexes an eine untergeordnete Stelle verwiesen wird, so können wir nun auch nicht länger in ihr die einzige, und vielleicht nicht einmal die hauptsächliche - wenigstens in den besten Fällen nicht einmal hauptsächliche - Quelle der religiösen Hysterie erblicken, wie viel auch immer eine Individualpsychologie von Mystikern uns veranlassen mag ihr zuzurechnen.

Und hier sei denn abschließend darauf hingewiesen, daß tatsächlich Hemmungen des geschlechtlichen Sichauslebens, wie sie oben angedeutet wurden, keineswegs mit Regelmäßigkeit im Leben der Mystiker nachzuweisen sind, wie die ausschließliche Wirksamkeit solcher Hemmungen sich überhaupt niemals streng erweisen läßt, vielmehr immer mehr oder minder Voraussetzung bleiben muß. Das mystische Wachstum nimmt ja

[1] Vgl. Calmeil II 352: 'unanständige' Haltungen einiger der Schwärmer von St. Médard während ihrer 'erbaulichen Reden' und 'rührenden Gebete'. Vgl. o. 225 (Rodr.)
[2] Janet, Obs. I 561.
[3] Vgl. den treffenden Ausdruck 'Teile eines und desselben Ganzen' bei S. Jean III 258f.
[4] S. Beispiele bei v. Schrenck-Notzing, Die Suggestionstherapie bei krankh. Ersch. d. Geschlechtssinns (Stuttg. 1892) 166f.; Vaschide u. Vurpas in AAC XIX (1904) 370ff.; bei Gerüchen: Féré 438 (nach Mantegazza).
[5] Molinos: et etiamsi sequantur pollutiones et actus obsceni propriis manibus et etiam pejora, non opus est seipsum inquietare (bei Montmorand in RPh Oct. 1903 384 Anm. 2).
[6] S. Jean III 258 f. (N. O. I, 4); 330f. (11,1): agitations du corps.


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 265)

in der Regel durchaus nicht den Verlauf, daß ein dem Leben zudrängendes Wunschleben sich an gewissen Schranken bräche und dadurch in die innere Welt zurückgeworfen würde; vielmehr besteht fast stets von vornherein ein 'Zug' zu 'inneren' Zuständen, ein Drang und Instinkt der Abkehr von der Welt und ihren Freuden, denen man nur zeitweise oder gelegentlich erliegt, um immer wieder der beherrschenden Stimme zu folgen.

'Ich fühlte mich', sagt Marguerite-Marie Alacoque in ihrer Selbstbiographie, 'so heftig vom inneren Gebete angezogen, daß ich sehr unter meiner Unwissenheit litt, wie es zu betreiben sei, und der Unfähigkeit, dies zu erfahren. . . Mein erhabener Meister selbst lehrte mich dann, wie ich es seinem Wunsch gemäß ausüben sollte.'

Wieviel auch hagiologischer Übertreibung zugeschoben werden mag, die Tatsache bleibt wahrscheinlich, daß zahllose spätere Heilige schon in der frühesten Lebensperiode einen solchen außerordentlichen Hang zu inneren Zuständen, zum Gebet, zur Meditation und Kontemplation, zur Liebe idealer Gestalten u.ä. an den Tag legen.

Vianney soll schon mit 3 Jahren an den Andachtsübungen des Hauses teilgenommen haben. 'Die Muttergottes', sagte er später, 'habe ich geliebt, bevor ich sie gekannt habe; dies ist meine älteste Liebe'. Als Kind schon predigte er und pflegte Wohltätigkeit. [1] Magdalena von Pazzi soll mit 7 Jahren das innerliche Gebet geübt haben, 'ohne einigen Lehrmeister', und kasteite sich trotz Verbotes schon als Kind. [2]

Und die gleiche beispiellos frühe fromme Abkehr von der Welt in Selbstverleugnung und Freigebigkeit der Liebe und des Mitleids, in Askese und Ekstatik wird von zahllosen Andern berichtet.

Tritt dann die Möglichkeit wirklichen Geschlechtslebens an diese Inwendigen heran, erhalten sie einen Antrag, bieten die Eltern ihnen die Möglichkeit zur Ehe, so erfolgt augenblicklich die entschiedenste Ablehnung. Ein Widerstand beginnt, an dessen Kraft sich jede Lockung bricht. [3]

Die Emmerich z.B., die von Kindheit an nie eine Regung der Sinnlichkeit empfunden haben wollte, [4]  fürchtete zeitweilig sogar, ihre Abneigung gegen den Ehestand entspränge der Furcht vor seinen Beschwerden, und bat daher Gott um Wegnahme ihres Widerwillens; aber 'da wuchs mein Verlangen noch mehr, in das Kloster zu gehen'.

Ist also geschlechtliche Introversion ein typisches Merkmal der mystischen Seele, so wird diese Introversion jedenfalls in zahllosen Fällen nicht durch äußere Hemmnisse geschlechtlicher Betätigung angeregt, sondern wächst von innen aus der eigentümlichen Veranlagung des Individuums hervor.

Nun wird allerdings selbst die einseitigste neurologische Deutung hierin keinen stichhaltigen Einwand gegen ihre Grundsätze erblicken. Entweder wird sie die innere Ablehnung der Geschlechtsbetätigung auf äußere

[1] Vianney 3f. 8f.
[2] David 24. 58.
[3] S. z.B. Bougaud 85; Fox, Autob. 3, und sehr oft.
[4] Emmerich I 32; II 12; I 89.


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Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 266)

Hemmungen zurückführen, die in eine soz. vorbiographische Zeit fallen: Erregungen kindlicher Geschlechtswünsche durch die Eltern oder sonst wen, die der Verdrängung unterliegen und damit jede spätere Anheftung der Begierde an wirkliche Personen verhindern, indem für den früh entzogenen Gegenstand eben ideale Gebilde sich einschieben. [1]

Und dergleichen Annahmen sind natürlich durch Tatsachen nicht zu widerlegen, eben weil sie vor allem andern Annahmen zugunsten einer bestimmten Theorie sind, die freilich eben darum selbst erst des Beweises bedürfen.

Oder der Neurologe kann sich auch dieser Verpflichtung entziehen, indem er eine introvertierte Anlage als etwas von allem Anfang an Gegebenes voraussetzt. Wir müßten dann den Jenseitigen eine angeborene Verschrobenheit zuschreiben, die den Geschlechtstrieb schon in seiner Ausbildung den abnormen Weg nach innen nehmen ließe.

Der Jenseitige wäre eben ein geborener Hysterischer und dies Wort seinerseits gleichbedeutend mit einer 'nach innen gekehrten' Natur überhaupt, in welcher die Verdrängung gar nicht nachweisbar wäre, weil sie gleichsam wie ein 'automatisch tätiger Mechanismus' vor sich ginge, in Form 'eines anscheinend 'passiven Verschwindens oder Heruntergezogenwerdens der Eindrücke'. [2]

Freud, der 'jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle erregt, unbedenklich für eine Hysterika' hielt, auch ganz abgesehen von der Erzeugung körperlicher Symptome, bekennt nun freilich im Jahre 1895, daß er von der Aufklärung des Mechanismus dieser Affektverkehrung ('einer der bedeutsamsten, gleichzeitig einer der schwierigsten Aufgaben der Neurosenpsychologie') 'noch ein gut Stück Weges entfernt sei'. [3]

Fünfzehn Jahre später, in der 2. Auflage seiner 'Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie', führt er zwar die durch Erziehung aufgebauten seelischen Mächte des Ekels, des Schamgefühls, der moralischen und ästhetischen Vorstellungsmassen als die Hemmnisse auf, die dem Sexualtrieb 'in den Weg treten und gleich wie Dämme seine Richtung beengen'; fügt aber die bedeutsamen Worte hinzu:

'Man gewinnt beim Kulturkind den Eindruck, daß der Aufbau dieser Dämme ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich tut die Erziehung viel dazu. In Wirklichkeit ist (aber) diese Entwicklung eine organisch bedingte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mithilfe der Erziehung herstellen.'

Die Erziehung 'zieht nur das organisch Vorgezeichnete nach'. Über das Wie dieser organischen Bedingtheit erfahren wir aber auch hier im Grunde nichts. [4]

Dabei ist aber dieser Begriff organisch bedingter Entwicklung in einer von der Geschlechtlichkeit abführenden Richtung augenscheinlich ein

[1] Vianney 5 (muß die kleine Holzstatue der Muttergottes selbst nachts bei sich im Bette haben); vgl. der Emmerich 'Verlobung' mit d. . Jüngsken' (dem Jesuskinde) I 85.
[2] So Jung in JPPF V (I) 312.
[3] Freud, Kl. Schrift. z. Neurosenlehre, 2. Folge 22.
[4] aaO. 38. 39.


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 267)

äußerst bedeutungsvoller und problemreicher. Er würde auch von jener uns zum Problem gewordenen angeborenen Introversion Rechenschaft ablegen; denn was eine organische 'Entwicklung' nach innen deutete, möchte wohl auch eine entsprechende organische 'Anlage' aufklären.

Nur muß man sich darüber klar sein, daß dieser dringend aufklärungsbedürftige Begriff das Problem der religiösen Hysterie noch ungemindert enthält. Mit den Worten 'organische Anlage' oder 'Entwicklung' ist dies Problem etikettiert, seiner Lösung aber um keine Handbreit näher gebracht; genau so wenig wie durch den Begriff der Sublimierung.

Und am Ende ist diese Dunkelheit des Hauptbegriffes der Neurosenpsychologie kein zufälliges Schicksal. Entsteht sie etwa daraus, daß die letzten Fragen (in die auch unsere Erörterung immer deutlicher hineinführen wird) nicht selbst in Angriff genommen werden:

ich meine natürlich vor allem die Frage der psychophysischen Grundverhältnisse der Menschennatur auch in der Hysterie, des Zusammenhanges von Körper und Bewußtsein? Der Leser entsinnt sich der oben [1] angeführten Begriffsbestimmung der Hysterie durch Binswanger. Sie spielte mit dem Dualismus; aber sie schien nicht Ernst mit ihm zu machen.

Doch ließ sie immerhin fühlen, wie unausbleiblich die Lehre von der Hysterie mit ihrem Gemisch bald physiologischer, bald psychologischer Hilfskonstruktionen in die metaphysische Anthropologie hineingerät.

Soweit indessen sind wir noch nicht. Ich habe hier mit diesen Gedanken nur in vorläufiger Form den Weg frei machen wollen für den Hinweis, daß schon innerhalb einer banalen Psychologie der seelischen Gespaltenheit noch eine andere Deutung der religiösen Hysterie sich uns anbietet, als die sexualistische, so viel auch diese Deutung, gleich den vorher versuchten, zur ‚Gesamtlösung des Rätsels’ beitragen mag.

Der Unterschied jener Deutung von der sexualistischen wird hauptsächlich darauf beruhen, daß sie den Ursprung der Kraft, welche das seelische Gefüge auseinandersprengt, anstatt an die 'Peripherie' (nämlich in organische Spannungen), ins 'Zentrum', nämlich in soz. spontane seelische Neubildungen verlegt.

Ich glaube, daß der Verlauf der Untersuchung zunehmend die 'Berechtigung’ enthüllen wird, mit dem Gedanken einer spontanen, rein psychogenen Hysterie Ernst zu machen, so zweifelhaft seine Anregung hier auch noch erscheinen mag.

Bildlich gesprochen, wäre damit der Ursprung der hysterischen Zerklüftung statt an das 'untere', an das 'obere' Ende der Stufenreihe menschlicher Triebe verlegt; er bestände, anstatt in einem Schub oder Druck von jenem untern Ende des psychophysischen Kraftwerkes her, vielmehr gewissermaßen in einer Ansaugung von seinem obern Ende her. Wie weit dann diese Binnenbildungen und spontanen Innerlichkeiten bei ihrer Krankheitsetzung mit einer angeboren schadhaften

[1] s. 137.


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 268)

oder durch Lebenseinflüsse (wie Askese!) geschädigten Anlage des Einzelnen zu rechnen hätten, wäre eine Frage zweiter Hand. [1]

Es ist beachtenswert, daß die klinische Hysterieforschung selbst gelegentlich solchen Gesichtspunkten wenigstens nahegekommen ist.

Schon Briquet hatte andeutungsreich darauf verwiesen, daß 'die Hysterischen imstande seien, durch die Erregung der Anfälle ein Höchstmaß geistiger Kraft zu erreichen, wie sie in den Krämpfen ein Höchstmaß von Muskelkraft erzielen können'.

Deutlicher spricht Hirschlaff von Fällen, in denen die Hysterie dadurch zustandegekommen war, 'daß die Betreffenden nach zu hohen und an sich unerreichbaren Zielen, sei es materieller, intellektueller oder ethischer Vollkommenheit strebten,

in diesem Streben scheiterten und nunmehr - halb-willkürlich - hysterisch wurden, ohne daß eine besondere Entartung der Individuen als Disposition zugrunde lag' [2]; wer aber nährt ein höhergreifendes Trachten, wer reckt sich glühender schier übermenschlichen Zielen zu, als der Heilige?

In ähnlichem Sinne hatte sich schon Breuer, der frühere Mitarbeiter Freuds, geäußert: 'Im vollen Gegensatz zu Janets Ansicht meine ich, in sehr vielen Fällen liege der (hysterischen) Disaggregation eine psychische Überleistung zugrunde, die habituelle Koexistenz zweier heterogenen Vorstellungsreihen. ..

Sie geht in Spaltung über, wenn die beiden koexistierenden Vorstellungsreihen nicht mehr gleichartigen Inhalt haben.' [3] Dieser Ansicht entsprach bei ihm die Beobachtung, 'daß man unter den Hysterischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischesten Menschen finden kann, ... daß Hysterie schwerster Form mit der reichhaltigsten und originellsten Begabung vereinbar ist; ... [ja] daß die Hysterie auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewußte Lebensführung nicht ausschließt. [4]

Breuer weigerte sich deshalb sogar, die Hysterischen ohne weiteres als Degenerierte zu bezeichnen, was die Bedeutung dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen hieße, vielmehr unterschied er zwischen Disponierten und Degenerierten, 'sonst wird man sich zum Zugeständnis gezwungen sehen, daß die Menschheit einen guten Teil ihrer großen Errungenschaften den Anstrengungen degenerierter Individuen verdanke'. [5]

Ja innerhalb der Freudschen Schule selber sprach Dr. Otto Grosz von einem 'Typus bestimmter Neurosenentwicklung gerade bei den Individuen von unverlierbarer Eigenart, die von der frühesten Kindheit an für Suggestionen unzugänglich sind und nie von irgendeinem äußeren Einfluß in ihrem innersten Wesen verändert  werden.

Die ganze psychische Entwicklung dieser Naturen ist typisch bestimmt; da ihre Individualität von der Erziehung niemals zum Verschwinden gebracht und durch die fremden Elemente ersetzt werden kann, so bleiben alle überhaupt von außen her eingedrungenen Motive in stetem Kontrast mit den eigenen und deshalb auch für immer mit dem Charakter von psychischen Fremdkörpern bestehen und wirken als Erreger unlösbarer Konflikte.'[6]

Was allen diesen Ausführungen gemeinsam eignet, ist offenbar die Setzung des seelischen Zwiespalts durch einen primären Bestand an inneren Strebungen, sagen wir: Idealen, dem die Gesamtnatur des

[1] Erschöpfende Einflüsse spielen auch in der modernen Ätiologie der Hysterie eine Rolle.
[2] In ZH VIII 335.
[3] Breuer u. Freud 205.
[4] Das. 10. 88; vgl. 141. 211, und oben S. 176.
[5] Das. 89.
[6] Die Zukunft LXV 79 (Sperrungen von mir).


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 269)

EinzeInen sich nicht ohne weiteres anzupassen und einzufügen vermag. Unter diesen feindlichen Bestandstücken der Natur, die der Bekämpfung von innen her unterliegen, könnte dann im Falle des Mystikers immer noch der Geschlechtstrieb - als stärkster 'Anreiz zur Verweltlichung, Versinnlichung und Verichung - an erster Stelle stehen und nunmehr durch seine von 'oben' her geforderte Verdrängung seinerseits zu einer sekundären Quelle hysterischer Bildungen (nach psychanalytischen Grundsätzen) werden. [1]

Gleichwohl brauchen wir hiernach nicht in ihm die einzige Grundlage hysterischer Konflikte zu suchen.

Eine andere mindestens wird auch durch die Bekenntnisse der Mystischen immer wieder nahegelegt: sie ist eben dann gegeben, wenn einem bereits stark entwickelten Eigenleben des mystischen Komplexes (in einstweilen noch unterbewußter und also automatistischer Lagerung) das 'persönliche' Meinen und Wollen sich hindernd oder widersprechend in den Weg stellt, sich gewissermaßen auf persönliche Leistungen versteift, während das Anwachsen des Komplexes es bereits zur Entkräftung verurteilt.

Es ist z.B. ein typischer Vorgang des Heiligenlebens, daß Widerstand gegen 'göttliche' Befehle, d.h. gegen Eingebungen des Komplexes, zunächst zu verstärkter Wiederholung der führenden Anweisung, bei Fortsetzung des Widerstandes aber zu Krankheit und Leiden führt. [2]

So verfiel S. Hildegard in 'heftige Krankheit', als sie sich dem Befehl 'einer Stimme in ihr' zur Aufzeichnung ihrer Gesichte widersetzte, und als sie der inneren Weisung, einen Teil ihrer Nonnen aus dem überfüllten Kloster auswandern zu lassen, widerstand, wurde sie mit zeitweiliger 'Blindheit' geschlagen. [3]

Die seI. Coleta wurde vorübergehend stumm und blind, als sie dem 'Befehl' zu ihrer Reform der Clarissinnen nicht gleich entsprach. [4] Bei Rulman Merswin, dem 'Gottesfreunde aus dem Oberlande', trat in ähnlichem Falle schließlich Lähmung ein. -

Auch aus dem Leben der Mme. Guyon ließe sich eine Reihe ähnlicher Fälle anführen: Fühlt sie sich gedrungen zu schreiben und widersteht - vor 'Fülle' berstend, und doch ohne jede Vorstellung des Inhalts -, so wird sie krank, mit Stummheit geschlagen; spricht sie nicht aus, was in ihr liegt, so 'züchtigt sie der Herr mit äußerster Strenge', er verwundet sie 'bis auf den Tod' bei dem geringsten Widerstand gegen seine Eingebungen. [5] -

Ähnlich bekennt Jakob Boehme, daß seine 'Seele sich ängstet, als wäre sie vom Teufel gefangen. . . und als sollte der Leib zugrunde gehen', wenn er 'dem Bauche nachdenkt und sich entschließt, das Vorhaben des Niederschreibens zu unterlassen'. [6] -

Und wie der Widerstand des 'Bewußtseins' gegen eine unterbewußte Leistung, so kann auch bloßes Sichversteifen auf 'persönliches' Handeln überhaupt zu Leiden führen, nachdem einmal die seelische Entwicklung dem automatistischen Komplex die führende Rolle zugeschoben hat; denn im Grunde ist ja auch dies nichts anderes, als ein allgemeiner Widerstand gegen allgemeine Ziele der innern Entwicklung. Mme. Guyons scharfes Auge hat auch diesen

[1] Vgl. auch 0. S. 161 und u. K. LXXVIII.
[2] Vgl. auch 0. S. 159 f.
[3] Görres I 287f.; Hildegard 4; vgl. 46. 59. 97.
[4] Görres I 451.
[5] Vie II 118. 122f.; III 8.
[6] Boehmes Werke, hrsg. v. K. W. Schiebler, 2. Aufl., II 29. Vgl. Kingsford I 306.


Kap XXVII. Deutung der Heiligen-Hysterie.         (S. 270)

Vorgang an ihrem Innenleben aufgespürt. Sie fand sich 'seltsamen Leiden' preisgegeben, die sich zu 'Höllenqualen' steigerten, als sie auf ihre Worte übermäßig achtgeben, mit 'Sorgfalt' reden wollte, nachdem ein völlig zur Selbständigkeit gediehener Automatismus ihr bereits alle persönliche Verantwortlichkeit abgenommen hatte. [1]

Daß alle diese Leiden unter die Grundbegriffe einer echt psychologischen Neurosenlehre fallen, liegt auf der Hand. Im Zusammenhang mit früheren Ausführungen [2] eröffnen uns die obigen die Aussicht auf reiche Verwendungsmöglichkeiten solcher Begriffe im Gebiete mystischer Erfahrungen, abseits von rein sexualistischen Gesichtspunkten.

Wir begreifen z.B., daß jenes feste Zentrum inneren Friedens inmitten von Qualen, das den Mystiker durch die 'Dürre' zur Vergottung hinübergeleitete, [3] eben. jener 'spontan' erblühte Komplex sein muß, an welchem, wie an einem Felsen, die Wogen der 'Natur' sich brechen, um - gegebenenfalls - hysterische Symptome zu erzeugen.

Lassen wir es indessen, da individualpsychologische Forschung sich uns verbietet, bei diesen allgemeinen Andeutungen bewenden, mit denen wir einstweilen die Erwägung religiöser Hysterie verlassen, bis der Fortgang der Untersuchung uns mit reicherer Einsicht zu ihr zurückführt.

[1] Vie III 47. Vgl. Kingsford I 101; Maitland 53ff.
[2] Kap. VIII-XVI.
[3] S. o. S. 163ff.

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