Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXVIII. Der Komplex des Mystikers: 5. Sozialität!         (S. 270)

Erheben wir vielmehr für den Augenblick die Frage nach dem Inhalt des religiösen Komplexes dort von neuern, wo der letzte Versuch seiner Ergründung uns halten ließ. Die Ablehnung der Lehre von der Sublimierung in ihrer überspannten Form hatte uns zu einem Begriff geführt, der sowohl dem der Geschlechtlichkeit als dem des höheren Liebeslebens sich überordnen ließ.

Wir hatten ihm dort zunächst den Namen der Libido (im verallgemeinerten Sinn der Sezessionisten unter den Psychanalytikern) gelassen; wir könnten ihn auch bestimmen als das Schöpferische in Natur und Seele.

Von den Erscheinungsformen dieser Libido, die wir als mit dem Geschlechtstrieb 'haltungsverwandt' und entwicklungsgeschichtlich verkoppelt erkannten, trat für uns in den Mittelpunkt des Interesses die 'Liebe' als Summe derjenigen Triebe, die dem Wohl und der Entwicklung schutz- und gabebedürftiger Anderer dienen.

Man bezeichnet diese Triebe wohl auch als die sozialen, und die Versuchung liegt nahe, diesen Bodensatz der Retorte, in der wir die Sexualdeutung der Mystik destillierten, für den eigentlichen Inhalt des religiösen Komplexes zu erklären.

Nun ist ja in der Tat die Bekehrung - wenigstens die Art der Bekehrung, die in manchen Kirchen eine systematisch gepflegte, normale


Kap XXVIII. Der Komplex des Mystikers: 5. Sozialität!         (S. 271)

Entwicklungskrise jedes beliebigen Mitgliedes darstellt - als Eintritt eben der sozialen Instinktreife geschildert und mit der Geschlechtsreifung in Zusammenhang gebracht worden. [1] Bei näherem Zusehen zeigt sich nun freilich bald, daß diese Anschauung wiederum nur einen Bruchteil der Wahrheit enthält.

Zahllose Personen erreichen die Fülle nicht nur der ihnen zugänglichen, sondern der überhaupt normalen Entwicklung sozialer Instinkte, ohne irgend etwas in der Art einer 'Bekehrung' erlebt zu haben. Andere ebenso zahlreiche erleben eine Bekehrung, nachdem sie Jahre oder Jahrzehnte lang den normalen Entwicklungsgrad sozialer Triebe besessen haben. [2]

Zu diesen Abweichungen bezüglich des Verlaufs der Entwicklung treten solche des Inhalts von sozialer Reife einerseits, erwecktem Bewußtsein anderseits. Die Liebe des sozial Gereiften ist eine viel mehr wählerische, als die des tiefer Erweckten,

sie bevorzugt gewisse natürliche Verhältnisse, wie Blutsverwandtschaft, ständische und politische Einheiten, allenfalls Gesinnungs- und Interessengenossenschaft, und tritt vielfach nur in den Augenblicken besonderer Erregung in volle Wirksamkeit; sie vermengt sich ferner stets mit einem starken Egoismus außerhalb dieser natürlichen Verhältnisse.

Dagegen ermangelt sie nicht nur der leidenschaftlichen Ich-Hintansetzung des Erweckten jedem beliebigen Andern gegenüber, sondern auch der Bezogenheit der altruistischen Einstellung auf einen erfahrenen 'Gott der Liebe'.

Dies könnte nun wiederum die Versuchung begründen, die Erweckung wenigstens als eine Steigerung und Fortführung der Sozialreifung aufzufassen, denn solche Steigerung könnte ja freilich an jedem beliebigen Punkte der Lebenskurve eintreten.

Selbst die Psychanalyse scheint geneigt, diese Kontinuität von sozialer und religiöser Entwicklung anzunehmen. 'Die richtige (göttliche) Mystik', sagt Silberer, der religionspsychologische Vertreter der Schule, (im Unterschied zur dämonischen) ist gekennzeichnet durch eine Erweiterung... der Persönlichkeit, (d.h.) durch eine Erweiterung des Interessenkreises, der das sittlich bewertbare Verhalten bestimmt.' [3]

Ein Bruchteil der Wahrheit dürfte, wie gesagt, hiermit abermals zur Geltung gelangen, denn wie wir wissen, ist 'umfänglichere' Liebe in der Tat ein Unterscheidungsmerkmal des Erweckten gegenüber dem sozial Gereiften; und zwar hängt die größere 'Erweiterung' des ersteren eben mit der Introversion seines Liebeslebens zusammen, die sich in nichts so sehr ausdrückt, als in seiner Gottesliebe vor aller Wesenliebe, und seiner

[1] Starbuck 145ff. Die Zeitkurve der 'Bekehrungen' fällt übrigens mit der Pubertätskurve keineswegs zusammen, wohl aber mit derjenigen für den Eintritt der höheren intell. Fähigkeiten (das. 41. 36f.).
[2] Unter Bekehrungen in sehr hohem Alter finde ich einen Hundertjährigen (nach Cheever), einen 74jährigen (Gibson 86f.), einen 64jährigen (Leuba, in A]RP VII 380). Weitere Fälle von 60 und mehr: G. St. Hall, Adolescence II 289; Patton 325; 70 und mehr: Edwards, Narrative 26f.; 80jähr.: Phillips 258. 278; Dixon I 243; Palmer 55.
[3] Silberer 182.


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Wesenliebe als einer Folgewirkung seiner Gottesliebe. Gottesliebe aber erweitert, nach dem Zeugnis Gottliebender, nicht nur die gegenständliche, sondern auch die zeitliche Umfänglichkeit des Liebens.

'Je mehr ein Herz durch die Liebe zu Gott erhoben und gereinigt ist,' sagt Lacordaire, 'um so wahrer und dauernder wird seine Liebesglut sein.' [1] 'Nur die himmlische Liebe ist unzerstörbar, ohne Unruhe, Furcht und Eifersucht; ja sie will ihren Gegenstand Allen mitteilen und wächst dabei doch ständig, auch steigern sich ihre Wonnen durch Gewöhnung, anstatt abzunehmen.'

Wie ist dies zu verstehen? Zunächst schon durch alles, was Gottesliebe von beschränkter und vergänglicher Wesenliebe unterscheidet. Jene richtet sich auf einen viel abstrakteren Gegenstand als diese; dieser abstraktere Gegenstand aber entspricht der abstrakteren Leidenschaft, die wesentlich ein Glühen, eine gefühlsmäßige Einstellung an sich ist; und er wird wesentlich geliebt als die ideale Verkörperung dieser Einstellung selbst, als der 'Gott der Liebe', ein Ideal, dem man sich anähnlichen will, wie jedem Geliebten, und aus dem man Kraft schöpft zur Anähnlichung, wie aus jedem vergegenständlichten Eigenideal. - Legen wir diese andeutenden Sätze noch ein wenig auseinander.

Die Liebe zum Einzelnen entzündet sich, so sehr sie auch im Liebenden selbst die letzten Höhen der Vergeistigung und Wertsteigerung erklimmen mag, doch stets an hundert gewerteten Einzelzügen körperlicher und geistiger Schönheit. Aber je mehr auf den Einzelfall eingespannt, desto leichter stumpft sie auch gegen seine besonderen Anreize ab: ab assuetis non fit passio.

Je einzelpersönlicher überdies die Reize, desto vergänglicher fallen sie dem Flusse der Zeit zum Opfer, je individualisierter die Liebe, desto leichter stößt sie sich an Mängeln und Widersprüchen, die bei jedem Erdenwesen seinen Liebesreizen beigemengt sind. Gott, als der abstrakteste Gegenstand der Liebeswertung, hat keine Mängel, da er eben als ideale Auswahl aller Vollkommenheiten vom Glauben erschaffen und in der Höchsterregung der mystischen Erfahrung als solches Ideal erlebt wurde.

Seine Liebesreize sind keinem Wandel unterworfen, und der Abstumpfung nur so weit, als die abstrakte Glut, in der er sich spiegelt, überhaupt den Gesetzen aller seelischen Spannungen gehorcht.

Aber gerade dem Gesetz der Abstumpfung ist sie infolge ihrer Abstraktheit weniger unterworfen, als jede konkrete Leidenschaft; ist sie doch nicht durch einen Einzelgegenstand hervorgerufene vorübergehende Einzelhaltung - wie sie selbst den Härtesten zeitweilig weich macht, wenn eine Liebe ihn ergreift -,

sondern durch den Vorgang der Introversion erzeugte, dauernd natürliche Haltung: ein Dastehen mit offenen Liebesarmen der Seele, mit einem Blick, der über alle vergänglichen Gegenstände der Liebe hinweg in eine Ferne gerichtet ist.

Dieser Fernblick wird aber gleichsam beibehalten, wenn ein 'einzelner

[1] Greenwell, aaO. 219.


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Gegenstand' ins Gesichtsfeld des Liebenden tritt, so daß er diesen einzelnen Gegenstand immer nur gleichsam vom Lichte des göttlichen Horizontes umstrahlt erblickt, oder nur das an ihm in den Blickpunkt seiner Liebe rückt, was der Liebeseinstellung 'Gott' gegenüber entspricht, was also 'göttlich' an ihm ist oder von Gott mit Liebesaugen angeschaut werden könnte.

Das heißt dann: die Menschen 'in Gott' lieben, den göttlichen Liebesreiz in sie hinein verlegen; die Liebeshaltung, mit der man Gott liebt und die man als Gottes Eigenstes und als das Göttliche in sich und außer sich bewertet, in allen Menschen suchen oder zu wecken suchen.

Erst diesem Blick gegenüber schwinden die individuellen Liebesreize tatsächlich aus dem Gesichtsfelde. Jene Araberin, die, mit einem häßlichen Manne verheiratet, doch von ihm sagen konnte, 'in Gottes Augen ist er schön, und ich betracht' ihn mit dem Auge Gottes', [1] mußte selbst eine Gottesfreundin sein.

Sie ist ein lebendes Beispiel jenes Hinausgelangens über die Reize der Schönheit, als Entzünder selbst der geistigsten Schaffenslust und Werterzeugung, von der Plato in der berühmten Rede des 'Gastmahl' spricht, wo 'die Schönheit der Seele würdiger erscheint, als die Schönheit des Körpers', sodaß der Liebende die Schönheit der Seele auch im unschönen Leibe liebe.

Und so 'an die Ufer des großen Meeres der Schönheit gebracht', wird er schließlich 'jenes einzige Wissen, welches das Wissen des Schönen ist, erschauen. . . Er wird das Schöne schauen, das da ewig da ist und niemals wird und niemals vergeht, ... von dem alles Schöne nur der Schein ist...

Und glaubst du nicht, daß dieser Mensch dann, so er die wahre Tugend zeuget und nährt, wahrhaftig gottgeliebt und, wenn je ein Mensch, unsterblich sein wird?' [2]

Die Stimmung dieser Worte ist nicht ganz die gleiche, wie die der Zeugnisse, auf die wir im Früheren uns gestützt; aber die Schilderung zielt auf psychologische Vorgänge engverwandter Art:

erst wenn die Liebe, ohne an Heftigkeit einzubüßen, sich an das Abstrakte und Ideale geheftet hat, kann sie völlig allgemein sein; denn erst dann ist sie Lieben-an-sich und mit einem bestimmten Wertwillen geworden, ihr Einzelgegenstand gleichsam zufällig und auswechselbar, ihr Allgemeingegenstand dagegen ihr wesentlich.

Erst dann ist es, wie der spanische Mystiker sagt, 'unmöglich, daß die Liebe zu Gott in uns wachse, ohne daß gleichzeitig die Liebe zum Nächsten sich vermehre: indem beide die Äußerungen einer und derselben Geisteshaltung sind und gleichsam zwei Äste, die aus einem Stamme hervorgehen'. [3]


Fassen wir nun aber alle wirklichen Erscheinungsformen dieser Liebe des Erweckten näher ins Auge, so entsteht alsbald der Zweifel, ob ihre durchgängige Gleichsetzung mit einer Erweiterung der sozialen Triebe tatsächlich berechtigt sei. Es zeigt sich nämlich - wie ich leicht im einzelnen nachweisen könnte - in zahlreichen Fällen (deren Verhältnis zu anders

[1] Bei Daumer I 81.
[2] KassneIs Übers. 60ff.
[3] Bei Rousselot 438; ähnlich S. Jean III 1I3f. (Sub. III, 22).


Kap XXVIII. Der Komplex des Mystikers: 5. Sozialität!          (S. 274)

gearteten gar nicht leicht abzuschätzen ist) eine starke Verengerung und Verarmung der sozialen Umfänglichkeit des mystischen Fühlens und Wollens gegenüber dem Menschlich-normalen. Der mystisch Liebende enthüllt sich uns eben hierin als ein gründlich Jenseitiger.

Die Frage, ob und inwieweit diese Verarmung je eine notwendige sei, soll hier nicht zu beantworten versucht werden; die Frage also, ob - wie der Psychologe es ausdrückt - die Introversion des Liebestriebs stets durch eine nachfolgende Retroversion ergänzt werden könne, d. i. durch eine Rückwendung zur 'Welt', unter Beibehaltung des innerlich erstiegenen Standpunkts.

Hier beschäftigt uns nur die Tatsache, daß die Introversion, die mystische Verinnerlichung des Liebestriebs, häufig zunächst und häufig dauernd eine Einschränkung der äußeren Gegenständlichkeit der Liebe mit sich führt. An sich ist es freilich nicht ausgeschlossen, daß auch die romanhafte, selbst die halluzinatorische Ausgestaltung der mystischen Liebe als eine psychologische Veranstaltung im Dienste der Gefühlsverallgemeinerung wirke.

Artet aber das Verhältnis zum mystischen Geliebten allzusehr zur persönlich gefärbten Liebeständelei in kirchlichen Formen aus, oder nimmt die sinnlich-genießerische Ausnutzung des Verhältnisses überhand, so kann der Gottesroman den Mystiker ebensosehr zum weltvergessenen Monomanen machen, wie eine heftige menschliche Leidenschaft, anstatt das Herz für alle Geschöpfe zu weiten, den Liebenden zuweilen in lebensabgewandte Träume oder Genüsse einkapselt.

S. Teresa, in der 'heiligen Torheit' ihrer Begnadung, bittet ihren König und Bräutigam: Mache, daß ich mit niemandem mehr umgehen müsse, oder daß ich in dieser Welt für nichts mehr zu sorgen habe, oder nimm mich ganz von der Welt hinweg!

Siehe, deine Magd, 0 Herr, kann die große Plage, die ihr daraus entsteht, daß sie ohne dich sein muß, nicht länger erleiden.’ [1] Tatsächlich hörte sie in einer Vision eine Stimme, die ihr sagte: Ich will nicht mehr, daß du noch länger mit den Menschen umgehst, sondern nur noch mit den Engeln. [2]

Hier stehen wir augenscheinlich Arten des Erlebens gegenüber, die der früher erörterten pathologischen Deutung vor allem unterliegen; sie erinnern uns an die Gleichgültigkeit gegen Nahestehende, die man zuweilen an  Hysterischen festgestellt hat, [3] oder an den auch ins Psychopathische hinüberspielenden Begriff der 'Komplexbesessenheit', wonach die starke Betonung eines Komplexes 'eine partielle apperzeptive Verblödung mit einer Gemütsverödung für alle andern nicht zum Komplex passenden Reize' nach sich zieht. [4]

Die gewöhnlichere Form der Verarmung Gottliebender ist, allerdings mit der eigentlichen Begründung ihrer Liebesverallgemeinerung von selbst gegeben und mag hauptsächlich denen als eine Verarmung erscheinen,

[1] S. Teresa I 133f. (c. 16).
[2] Bei Murisier 14.
[3] S. z.B. Janet, État I 158f.  218.
[4] Jung, Dementia 55.


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die in der mystischen Wesenliebe eine weitere Ausgestaltung der sozialen Reifung erblicken wollen. Eben daraus nämlich, daß die Menschen nur mehr als Objekte oder Subjekte der Gottesliebe geliebt werden, entspringt, wie gezeigt, ein Ausfall des größten Teiles der Liebesreize, die auch für den 'gereift-sozial' Empfindenden bestimmend sind, und damit eine starke Beschränkung der Liebesobjekte selbst.

Der Instinkt der 'Umgestalteten', 'nichts zu denken, verstehen und lieben, als Gott', und die Andern nur 'in Gott', [1] läßt nicht nur (was selbstverständlich ist) die Beziehungen persönlicher Einzelleidenschaft verblassen, sondern auch die des BIutes, [2] der Ehe und der Freundschaft. Der alte Orient schickte Jeden über die Schwelle hinaus, dessen Stunde gekommen war, sich mit den unsichtbaren Dingen auseinanderzusetzen, nachdem er ihm zuvor gestattet, seine Pflicht zur Erhaltung der Art zu erfüllen.

Die westliche Jenseitigkeit verfuhr oft gründlicher. Man pries es als einen Sieg der Gnade über die Natur, wenn die hl. Elisabeth die eigenen Kinder aufgab, um fremde zu pflegen, [3] ja Gleichgültigkeit gegen nächste Blutsverwandtschaft ist ein Zug, den die Hagiologie stets beifällig erwähnt, weil sie ihn als Beweis für außerordentliche Gottesliebe ansieht.

Die gleiche natürliche Einschränkung erfährt aber die Fähigkeit, außerhalb des Familienkreises engere persönliche Beziehungen zu knüpfen. Denn jede persönliche Bevorzugung eines Menschen, jedes 'persönliche' Hängen an ihm zieht von der Liebe Gottes ab und ist eine Form der Selbstsucht, d.i. Selbstsuche: es geht mit dem Verlangen nach Gegenliebe zusammen, und dies Verlangen entsteht aus Selbstachtung und erzeugt Selbstgefälligkeit. [4]

Pascal gestattete daher schlechterdings Niemandem, daß er ihn avec attachement liebe, da Jedermanns Herz Gott allein gehören solle, [5] und Louvigni riet, auch dem besten Freunde vorüberzugehen, ohne ihn anzublicken; 'sonst könntest du erfahren müssen, daß der Geliebteste, von dem du dein Auge wandtest, dir sein Angesicht verdeckt habe'. [6] -

'Ich bin nie imstande gewesen,' konnte S. Teresa von sich selbst bekennen, 'mit irgend Jemand Freundschaft zu schließen oder. .. eine besondere Liebe für irgend Jemand zu empfinden, ausgenommen diejenigen, von denen ich überzeugt bin, daß sie Gott lieben und ihm zu dienen beflissen sind.' [7]

Wozu auch sollte Verkehr und Liebe auf Erden demjenigen dienen, dem jederzeit der Umgang mit dem höchsten und einzig würdigen Geliebten freisteht? Geselligkeit entzieht ihn diesem Umgang, und nur einsam ist er nicht allein.

Ihn kümmert weder Einsamkeit noch die große Welt: alles ist ihm gleichgültig. Diese glückseligen und erhabenen Seelen, die Gott lieben, finden Gefallen am Alleinsein und daran, von jedermann

[1] Nach Albert. Magn., De adhaer. Deo.
[2] S. schon Matth. 12, 50.
[3] Vgl. die charakterist. Ep. 322 des hl. Bernhard (Vacandard I 143); S. Jean III 76.
[4] Bernières-Louvigni 101.
[5] S. die den Pensées (Par. 1853) vorgedruckte Vie 28.
[6] aaO. 20.
[7] I 215 (c. 24). Vgl. Nordhoff 168f. 179 über die Shaker-Kolonien.


Kap XXVIII. Der Komplex des Mystikers: 5. Sozialität!          (S. 276)

vergessen und verlassen zu werden. [1] Es braucht nur erinnert zu werden, wie viele Gottliebende denn auch ihre Leidenschaft in die Einsamkeit geführt und zu Einsiedlern gemacht hat.

Der schon erwähnte Lopez geht nach sieben Jahren der Einsamkeit, da er ein neues Gewand benötigt, als Hauslehrer zu einem reichen Farmer, und nach zwei Monaten, da er genug dazu verdient hat, unter den flehenden Tränen der Hausgenossen, die an ihm hängen, wieder in seine Einsamkeit zurück. [2] -

Oder man betrachte das folgende innere Selbstbildnis einer jungen Frau, die sich als Jeanne-des-Rochers vom Hofe Ludwigs des XIV. in eine einsame Höhle zurückgezogen hatte. 'Ich esse', schreibt sie, 'einmal des Tages, ... ich ruhe vier Stunden, ... in Gottes Gegenwart einschlafend. Beim Erwachen bringe ich meinen ganzen Tag Gott dar, dann verrichte ich meine Gebete...

Ich begebe mich in die innere Betrachtung auf zwei Stunden, danach singe ich matines, darauf verharre ich in Schweigen bis Mittag; hierauf ergehe ich mich auf den Felsen in Bewunderung der Größe Gottes in seinen Werken, und wenn ich nicht ausgehe, rede ich zu meinem göttlichen Gemahl, wie zu einem nahen Freunde, worauf ich mich wieder auf zwei Stunden der inneren Betrachtung hingebe, die Abendgebete hersage und den Psalter; dann versetze ich mich in die Gegenwart Gottes und höre am Fuße meines Kruzifixes alles an, was es ihm gefällt mir mitzuteilen. ..

Ich bewahre ständiges Stillschweigen gegen alle Geschöpfe, .. mich auf Ja und Nein beschränkend.' [3] - Dies darf man in der Tat ein Leben mit Gott nennen!

Ich versage es mir hier, diese äußere Verarmung des Mystikers in sein Verhältnis zu den Sachgütern und Tätigkeiten des Lebens hinein zu verfolgen, oder zu den größeren sozialen Formbildungen, vor allem zum Staate, den er meist nur in engsten Grenzen nachzuahmen weiß: als kleine, engumfriedete Gemeinschaft Gleichgesinnter.

Auch des Mystikers Verhältnis zu den Künsten und Wissenschaften, die ja gleichfalls in gewissem Betracht als soziale Bildungen aufgefaßt werden dürfen, sowie die Probleme, die sich an all diese Schlagworte knüpfen, können erst im zweiten Teil dieses Werkes zur Sprache kommen.

[1] Guyon. Opusc. 259; Molinos 61.
[2] Lopez 19; vgl. Fr. Laurent. bei Reitz III 19. 101.
[3] Bei Leuret 327ff.

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