Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXII. Der Komplex des Mystikers: 4. GeschIechtIichkeit?         (S. 201)

Was aber ist dieses im Verhältnis zu beiden Geschlechtern gleicherweise Allgemeinere? Wir wissen schon, welche tatsächlich nächstgelegene Antwort von der Neurosenlehre hier bereitgehalten wird: es sei die Geschlechtlichkeit selber, als die ergiebigste Quelle sowohl der Neurose überhaupt als aller höheren geistigen Werte.

Der letztere Zusatz ist wichtig. Denn da in der jenseitigerweckten Art eine offene Geschlechtlichkeit zu sehen offenbar sinnlos wäre, so muß es sich hier um eine besonders verwandelte und verkappte Geschlechtlichkeit handeln. Diese Wandlung behauptet die Neurosenlehre vermittelst der Begriffe der Verdrängung und der Sublimierung im Rahmen der Introversion.

Auf diese Begriffe gestützt, nähern wir uns nunmehr der entscheidenden Fassung, in der das Problem der religiösen Hysterie sich darbietet, in Gestalt des Satzes: daß Religion eine Konversion der Geschlechtlichkeit sei. Machen wir uns klar, um die Berechtigung dieser Problemstellung sogleich zu empfinden, wie sehr sich die Art des Erweckten dadurch bestimmt,


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daß seine Art zu lieben und sein Verhältnis zur Geschlechtlichkeit in einer sonderbaren Weise verändert sind. Er liebt mit einer Stärke, die ihm früher undenkbar erschienen wäre, Wesen, die nicht von Fleisch und Blut sind; und er liebt die Wesen von Fleisch und Blut nicht mehr in der alten Weise persönlicher Beteiligtheit und (wo diese Liebe am stärksten ist) geschlechtlicher Betontheit, sondern in einer zugleich abstrakteren und spezifisch gesteigerten Art: er liebt, nach früher belegten Formeln, zuvörderst Gott und Göttliches, und die Menschen 'in Gott', um ihres Verhältnisses zu Gott willen, und eben darum nicht mehr als Geschlechtswesen.

Dabei ist, wie wir wissen, 'Gott lieben' für den Mystiker nicht das blasse und halbwegs eingebildete Gefühl, als welches das Weltkind es wohl abtun zu können meint, sondern ein Erlebnis von nicht geringerer Hitze und Leidenschaftlichkeit als dieses Weltkindes Liebe auf ihrem Höhepunkte.

'Ich empfinde,' sagt S. Katharina von Genua, die hier für viele das Wort führen mag, 'ich empfinde eine solche Liebe zu Gott, daß alle Liebe zum Nächsten mir im Vergleich zu jener zu Gott als eine Heuchelei erscheint'. [1] Oder Mme. Guyon: 'Ich liebte Gott mehr als der leidenschaftlichste Liebhaber seine Geliebte... Diese Liebe war so beständig und beschäftigte mich so unablässig und so mächtig, daß ich an nichts anderes zu denken vermochte.'

Diese Art zu lieben stellt sicherlich das Problem der Mystik in einer seiner wichtigsten und vielleicht auch faßlichsten Formen. Nach den Anschauungen der heutigen Neurosenlehre nun gibt es im Grunde keine andere Liebe als die Liebe der Geschlechter zueinander, und keine andere Quelle dieser Liebe als die physiologische Geschlechtsspannung, den Trieb zur Begattung; was an menschlichem Lieben hiervon verschieden zu sein scheint, stelle sich bei hinreichender Analyse als Umwandlung, Verkappung, Sublimierung der Geschlechtsspannung im engeren Sinne heraus.

Die 'Liebe Gottes' müßte demnach eine Verkappung der Sexualspannung, und eben diese Verkappung sowohl das Merkmal als auch - ihren Grundlagen nach - der Ursprung der Neurose sein, an welcher der Gottliebende augenscheinlich leidet. - Sehen wir näher zu: -

Unter den Tatsachen der Beobachtung, in denen das Verhältnis von Gottes- und Geschlechtsliebe sich uns darstellt, ist die auffälligste die, daß mit dem Eintritt in das höhere und heftigere Leben der Gottesliebe sich Keuschheit als ungewollter Zustand einstellt: ein Verlöschen der geschlechtlichen Begierde.

Angela di Foligno, die ja verheiratet gewesen, mehrfach geboren und - aus einigen ihrer Andeutungen zu schließen - ein lockerer Vogel gewesen, empfing auf der 'achten Stufe' ihres innern Weges 'in der Erkenntnis des Kreuzes, die ich damals hatte, ein solches Feuer der Liebe und Reue', daß sie ihr ganzes Selbst Gott darbot und, 'obgleich mit Zittern', ihm ewige

        [1] Lechner 104. 62. 202.


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Keuschheit gelobte und um die Kraft dazu flehte. [1] Brachte sie damit nur willkürlich neue asketische Opfer dem im Rausch erfahrenen Gotte, etwa wie die virgines subintroductae des frühen Christentums und manche heutige Sektierer einen Heldentriumph des Geistes darin suchen, bei erhaltener Kraft und Begehrlichkeit in Ehe, selbst mit Begehrenswerten, und dennoch unberührt zu leben? [2] JedenfaIIs 'trieb mich', sagt Angela, 'das vorerwähnte Feuer der Liebe an, also daß ich nicht anders konnte’.

Und jeder Zweifel über das völlig Unwillkürliche und Instinktive dieses neuen Dranges verschwindet im Angesichte deutlicherer Zeugnisse, die uns aus aIIen Zeiten und Gegenden kommen.

Swedenborg, der sich daheim und in Italien Mätressen gehalten hatte, spricht nach seiner Erweckung seine Verwunderung darüber aus, 'wie mein Geschmack an Frauen, der meine stärkste Leidenschaft gewesen, plötzlich versiegt war'. [3] -

Ratisbonne, der bekehrte Jude, dessen dramatische Erweckung bereits erwähnt wurde, findet danach, daß 'die Liebe zu meinem Gott jede andere Liebe verdrängt hatte, daß mir selbst meine Verlobte unter neuem Gesichtspunkt erschien. .. Ich wollte mich im Kloster der Trappisten vergraben, um mich nur mehr mit den ewigen Dingen zu beschäftigen'. [4]

Tatsächlich wurde er römischer Priester. - Radajew, der russische Sektierer, der unstreitig nur eigene Erfahrungen äußert, behauptet von dem, dessen Seele Gott in sich aufgenommen, neben allen andern Kennzeichen der Verjenseitigung (wie Nächstenliebe, Demut, Arglosigkeit, Gebetsfreude usw.) auch dieses, daß 'die Leidenschaften besänftigt seien, die fleischliche Begier vollständig verschwunden und verwelkt'. [5]

Eines der merkwürdigsten Beispiele für diesen Vorgang ist der schon früher erwähnte Obrist James Gardiner, der nach Doddridge’s Zeugnis zur Zeit seiner Bekehrung nicht nur in der Blüte des Lebens und in strotzender Gesundheit, sondern auch dem freien Geschlechtsgenuß in einem Maße ergeben war, daß (wie er zu sagen pflegte) die Allmacht selbst ihn nicht hätte bessern können, ohne seinen Körper zu zerstören und ihm einen andern zu geben, oder, wie er sich Mr. Spears gegenüber ausdrückte, daß er 'glaubte, nichts als eine Kugel durch den Kopf hätte ihn (von seiner Fleischeslust) heilen können'.

Gleichwohl nahmen, wie die Berichte über jeden Zweifel erheben, die wenigen Minuten seiner Erweckung (wieder nach seinen eigenen Worten) 'jede Neigung zu dieser Sünde und jede Begierde so völlig hinweg, als wäre ich ein Säugling geworden; auch ist die Versuchung bis auf diesen Tag nicht zurückgekehrt.'

Da das Datum dieser Selbstbezeugung nicht gegeben wird, so ist die Dauer dieser Begierdelosigkeit nicht zu ersehen; doch spricht Websters ganz ähnlich lautendes Zeugnis von einer 'langen Reihe von Jahren', und die übrige Biographie gestattet, von einer lebenslänglichen Wandlung des fraglichen Instinktes zu reden. [6]

[1] Thorold 95.
[2] Vgl. Ad. Jülicher, Die geistl. Ehen in d. alten Kirche, AR VII 373ff. Vgl. I. Kor. 7, 29. 36-38; Luk. 20, 35; Gal. 3, 28; Jak. 3, 17; Röm. 8, 13. Ähnl. bei den Therapeuten. Muhamedan.: Brosselard, Les Khouans 21; russ. Chlysten: Grass 15. 159. 164. 313ff.
[3] Bei Maudsley in JMS XV 181.
[4] Ratisbonne 130f.
[5] Grass 230.
[6] Doddridge 31f. Vgl. Eckehart bei Preger I 354; 'Hiel' bei Arnold III 26. Eine buddh. Parallele s. bei Beckh 133.


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Wie hier die Erweckung einem Leben der Ausschweifung ein Ende setzte, so treffen wir häufig auf die Beobachtung, daß die ersten Erfahrungen 'göttlicher Liebe' bei ehelich Lebenden den sofortigen Entschluß zur völligen Enthaltsamkeit herbeiführen.

'Ich kenne', schreibt Kanne, 'einen noch jetzt Lebenden, den ich nicht nennen darf, der, sowie die ersten himmlischen Lichtstrahlen ihn nach langem Wandel in der Finsternis des Unglaubens berührt hatten, sogleich des Ehebettes sich gänzlich enthalten mußte und mit Beistimmung seiner Frau sich seitdem wirklich enthielt.

Es dünkte ihn aller sinnliche Genuß dieser Art von seiner Seite wahre Versündigung und ein Greuel. [1] Und er führt die Erklärung 'vieler beweibter Männer' an, 'ohne Enthaltsamkeit vom Weibe könnten sie in Geist und Gebet nicht vor- und durchdringen und in der himmlischen Liebe nicht weiterkommen'. [2] - Oder um das gleiche von einer exotischen Stimme bezeugen zu lassen:

Ramakrishna, der brahmanische Heilige unserer Tage, der ja auch ehelich gelebt hatte, äußerte in der Zeit, da er dem Vaishnava-Ideal der Liebe zu Gott sich ergeben: 'Der höchste Punkt der Liebe ist erreicht, wenn die menschliche Seele ihren Gott lieben kann, wie ein Weib ihren Gatten liebt. Niemand (aber) kann diese Liebe verstehen. . ., bis er nicht vollkommen frei von aller fleischlichen Begierde ist.' [3]

Andere verheiratete Gottliebende haben sich dem ehelichen Verkehr zwar nicht entzogen, aber offenbar nur in dem Bewußtsein einer Pflicht, da er ihnen keinerlei Genuß mehr gab, sondern weit eher Leiden verursachte.

Mme. Guyon bekennt, Gott habe ihr eine so große Liebe zur Keuschheit gegeben und 'vom zweiten Jahr (ihrer) Ehe an so sehr ihr Herz von allen sinnlichen Freuden entfernt, daß die Ehe für sie in jeder Hinsicht ein sehr schweres Opfer gewesen sei. [4]

Einige Heilige wiederum haben das Bekenntnis abgelegt, daß ihnen während langer Zeitstrecken, wenn nicht geradezu zeitlebens, geschlechtliche Regungen fremd gewesen seien.

Von S. Teresa wird uns versichert, daß sie 'nie die Versuchungen des Fleisches erfahren' - nunquam tentationes carnis experta fuit illasque omnino ignoravit. [5] - Marguerite-Marie Alacoque will eine solche nur einmal in ihrem Leben gespürt haben, nämlich als sie angewiesen war, für den König Ludwig XIV. zu beten. [6] -

John Fletcher bezeugte von sich i.J. 1760: 'Nie in meinem ganzen Leben habe ich jene Versuchung (das Verlangen nach dem Weibe) gefühlt; nein, nicht im mindesten Maße.' Er gab aber später zu, daß er auch dies noch erfahren habe.

Es ist immer dasselbe: man hat entweder die geistliche Liebe oder die irdische; aber nicht beide zugleich. 'Sophia wird euch wohl von aller irdischen Lust abhalten und mit ihrer süßen Liebe euren feurigen Limbum dergestalt umarmen, daß ihr

[1] Kanne II 86 Anm. Vgl. Preger I 55 (Maria v. Oegnies); Arnold III 257a (Anna Vetterin); Tsakni 66f. (Filipow, Gründer der ross. 'Christusse', nach einem Vergottungsgesicht).
[2] Kanne 107. 115.
[3] Ramakrishna 50.
[4] Vie I 175f.; ebenso Chapot I 5. 52f. 55. 65f.; Lechner 39f.
[5] Vita AA. 55. Boll. § 1265. Vgl. das Zeugnis über Gertrod (I 89); über Agnès de Jesus bei de Lantages, Vie ..., éd. revue par Lucot, II 76; über die Bourignon (Les oeuvres de Mlle A. B. II 21); üb. Magd. v. Pazzi, Maria Bagnesia (Görres) u. a.
[6] Ebenso S. Franc. Xaver.


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auch den geringsten unkeuschen Gedanken in euch verfluchen und aller Frauenliebe wohl vergessen werdet.' [1] - Auch der Shakermutter Ann Lee war die klare 'Einsicht' geworden, 'daß das völlige Absterben des Zeugungs- oder Fortpflanzungslebens (auch in seinem unschuldigsten, unverdorbenen Zustande) der einleitende Schritt zur Anregung und Auferstehung des verborgenen geistlichen Lebens in der Seele sei, welches Leben seiner Natur und Dauer nach ewig ist.' Und sie selbst soll, nach dem Zeugnis Nahestehender, 'so frei von jeder fleischlichen Begierde gewesen sein, wie ein neugeborenes Kind.' [2]

Ein anders gewendeter Ausdruck derselben Gegensätzlichkeit, gleichsam die Gegenprobe des vorigen, liegt in der Tatsache, daß, wenn die fleischliche Liebe sich in dem Frommen zu regen beginnt, die Liebe zu Gott im gleichen Maße abnimmt; daß eine Hingabe an den sinnlichen Genuß aber den Himmel vollends schließt.

Gichtel erfuhr dies an sich selbst. Denn nachdem er wiederholten Nachstellungen auf Freierinfüßen ein taubes Ohr entgegengesetzt hatte, scheint schließlich auch sein Herz nicht völlig unbeteiligt geblieben zu sein, und sein Biograph berichtet, daß, sowie 'dieser Gedanke irgend zum Entschlusse werden wollte, er fühlte, daß die keusche Liebe Jesu sich ihm verbarg und der Himmel seinen feurigen Gebeten verschlossen ward'. [3]

Aus anderen, weit abgelegenen mystischen Kreisen stammt der verwandte Bericht des Joseph Main: 'Sooft ich irgendeiner Sünde nachgab, wurden diese lichten Schauungen himmlischer Dinge mir entzogen und meine Seele von Finsternis und Trübsal überwältigt.

Solange ich in Gerechtigkeit wandelte und die göttlichen Offenbarungen des Geistes Gottes erfuhr, fühlte ich kein Vertrauen auf das Fleisch und war vollständig frei von allen fleischlichen und unreinen Wünschen und Neigungen.' 'Endlich heiratete er und der Geist Gottes verließ ihn völlig.' [4]

Aber schließlich ist das ein Vorgang, den jedes Heiligenleben verdeutlicht. Ich erwähnte bereits jene regelmäßig anzutreffenden, bei Annäherung an die Geschlechtsreifung einsetzenden Zeiten der Abkühlung gegen das religiöse Ideal und des Wiedererwachens der Weltlust, also aller jener Wünsche und Sehnsüchte, die um den Geschlechtstrieb sich lagern.

Oft tritt dann auch irgendeine Person des andern Geschlechts in den engeren Gesichtskreis der Gefühle, etwa unter der Maske der geistlichen Mitstreiterschaft; wie jener Verwandte, der die junge Guyon ehelichen will, mit dem sie täglich das Offizium der Jungfrau hersagt, während sie das 'innere' Gebet aufgibt. Sie wird eitel, liest Tag und Nacht Romane, verliert den Schlaf - und was sonst noch den innerlich sich regenden Instinkt verrät. [5]

[1] Gichtel, Theos. IV 2574; vgl. II 662. Vgl. S. Bernhard, Ep. 42 (Vacandard I 204f.). Üb. Keuschheit als xxxxx s. I. Kor. 7, 17; Apgesch. 21, 9. Weiteres bei Weinel 145.
[2] Wells 22; vgl. 132 (Comstock Betts); 141. Andere ähnl. Zeugnisse s. Molinos 108; S. Jean III 262 (N. O. I. I c. 4); Dixon II 13 (Lucina Umphreville); M'Cully 129f. (Th. L. Harris u. seine Anhänger).
[3] Kanne II 83 f.; vgl. das. 62 f. und Gichtel, Leben 20. 22. 61. 122 f. 139. 304ff.; Lechner 40; Amold III 272.
[4] Wells 99. Ähnlich Nordhoff 28-47 (Barbara Landmann: Aufhören der Rede bei Heirat).
[5] Vie I 40. 44f. 122f. 125. Vgl. S. Teresa I 9ff. (c. 2); Bourignon, Leben 4. 13; Labis 7-9 (aet. 8-11); Bougaud 78ff. (aet. 17); Rogers 9 (aet. 4); Weber 8-10. 17f. Vgl. die Warnung vor 'geistl. Freundschaften': Molinos 68; S. Jean III 261f.


Kap XXII. Der Komplex des Mystikers: 4. GeschIechtIichkeit?         (S. 206)

Im allgemeinen sind also die mystisch Liebenden einig in der Feststellung eines - wenn ich so sagen soll - Schaukelverhältnisses zwischen geistlicher und sinnlicher Liebe: jeder Zuwachs der einen schwächt, jede Verminderung der einen begünstigt die andere. [1]

[1] Auf die eigentümliche Lehre (und Praxis) vieler Mystiker, wonach erst dem unsinnlich gewordenen Gottliebenden der wahre reine Geschlechtsverkehr möglich sei, gehe ich in einem 2. Teil dieses Werkes ein.

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