Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXIII. Religiosität und Geschlechtlichkeit.        (S. 206) 

Diese Tatsachen des Gegensatzes zwischen geistlicher und fleischlicher Liebe und des Ungeschlechtlichwerdens des Mystikers widersprechen nun keineswegs der Annahme der Neurosenlehre, daß das mystische Wesen auf der Grundlage der Geschlechtlichkeit sich aufbaue; sie sind dieser Lehre vielmehr als Bestätigung ihrer Grundvoraussetzung willkommen.

Der Neurosenlehre ist ja die Tatsache des versiegenden Geschlechtstriebes, ja der stärksten Abneigung gegen den offenen Geschlechtsgenuß durchaus banal, auch in Personen, bei denen diese Abwendung vom Natürlichsten durchaus kein religiöses Gewand trägt. Geschlechtliche Kälte und sexuelle Parhedonie sind überaus häufig bei klinischen Hysterischen.

Die Begriffe, mit denen die Neurosenlehre von diesen Verhältnissen Rechenschaft gibt, wurden bereits erwähnt: es sind - neben dem allgemeinen der sexuellen Veranlagung - die Begriffe der Verdrängung und der Sublimierung, zusammenfaßbar in dem Vorgang der Introversion.

Der wichtigste dieser Begriffe, derjenige der SubIimierung, bezeichnet die Annahme (deren Wichtigkeit, ihre Wahrheit vorausgesetzt, gar nicht zu überschätzen ist), daß sich die potentielle Energie des Geschlechtstriebes - die Libido, wie wir mit dem üblichen Ausdruck kurz sagen wollen - nicht nur in offen-geschlechtliche Handlungen umsetzen könne, sondern auch in seelische 'Äquivalente', [2] und daß sie, im Zusammenhange solcher Umsetzung, sich von der ursprünglichen, äußerlichen Leistung überhaupt ganz zurückziehen könne.

In ihrer weitesten Fassung sieht diese Theorie alles geistige Schaffen in Kunst, Moral, Religion, Politik und Wissenschaft als Umbildungen, Maskierungen, Verfeinerungen, Übersteigerungen des Geschlechtstriebes an. (Hierauf komme ich noch zurück.) In ihrer engsten Fassung sucht sie zum mindesten die moralischen Regungen, die unter dem Namen der Liebe im weitesten Sinne zusammengefaßt werden, auf den Drang der Geschlechter nach Vereinigung zurückzuführen.

Eltern-, Kindes-, Geschwisterliebe, Freundschaft, Nächsten- und Menschenliebe - alle diese sollen mittel- oder unmittelbar ihre Wurzeln in den Nährboden der Geschlechtlichkeit senden.

        [2] Der Ausdruck von Bloch.


Kap XXIII. Religiosität und Geschlechtlichkeit.         (S. 207) 

Die Begründung dieser Zusammenhänge in der letztgenannten engeren Fassung ist eine mannigfaltige. Man weist z.B. auf gewisse (im mathematischen Sinne) funktionale Abhängigkeiten des 'höheren' Gebietes vom 'niederen' hin.

Wird das eine eingedämmt - aus organischen Gründen, unter dem Zwange des Willens oder der Umstände -, so schwillt das andere an. 'Je keuscher einer lebt, desto mehr ist er der Liebe unterworfen.' Fehlt die natürliche Befriedigung, 'so verliebt man sich in alles,... man strömt seine Liebe über die ganze Umgebung aus, über die leblosen Gegenstände, über erdachte Wesen, mit denen die Dichter' (und warum nicht auch: die Asketen?) 'ihre Bücher anfüllen.' [1] -

Aber auch die starke Geschlechtlichkeit mancher bedeutender Erotiker, die Warmherzigkeit des vollsaftigen Menschen soll denselben Hinweis enthalten; die häufige Erzeugung selbstaufopfernder Zärtlichkeit durch geschlechtliches Verlangen nach einer bestimmten Person, die Erweckung alles 'Guten' in einem Menschen durch eine starke Leidenschaft.

Nicht minder aber die seelische Kälte des Ausschweifenden; die Unfähigkeit des Lüstlings zum 'idealen' Schwung der 'Liebe', zum 'Schwärmen' wie zum Schaffen, das 'moralische Irresein' mancher übermäßig sexuell Veranlagter. [2]  - Wiederum werden Personen beobachtet, denen neben jeder Erregbarkeit durch das andere Geschlecht auch jedes soziale Gefühl abgeht, die durch ihren Pessimismus, ihr Nörglertum, ihren finsteren Trotz, ihre reizbare Verschrobenheit, Starrheit und Trägheit die gänzliche Unfruchtbarkeit ihrer Natur auf allen Gebieten offenbaren; [3]

oder Menschen mit örtlicher Empfindungslosigkeit der Geschlechtsteile, denen mit dem Reizgefühl auch Liebe und Scham verloren gegangen sind: wie jene total-anästhetische Kranke Janets, deren vollständige Gleichgültigkeit gegen ihren Mann und ihre Kinder erst mit dem Schwinden der Anästhesie in ihr normales Gegenteil umschlug. [4]

Alle diese Tatsachen bewirken unstreitig eine unbestimmte Überzeugung von bestehenden Zusammenhängen irgendwelcher Art. Sie lassen aber auch in ihrer anscheinenden Widersprüchlichkeit empfinden, wie sehr die geahnte Lehre erst genauerer Fassung bedarf. -

Ehe wir aber dieser Frage nähertreten, soll zunächst die Anwendung aufgewiesen werden, die der Lehre von der Sublimierung der Geschlechtlichkeit auf dem Gebiete des religiösen Erlebens in seinen höheren Formen und in Sonderheit der religiösen Liebe von seiten der gangbaren Psychologie zuteil wird. -

Die Gründe, auf die sich diese Anwendung stützt, sind im allgemeinen die gleichen, die wir schon oben verwendet fanden. Hier wie dort glaubt man z.B. eine funktionale Abhängigkeit in 'umgekehrten' Verhältnissen zu beobachten. Unterdrückung des Triebes soll der Ausbildung des religiösen Fühlens zugute kommen, umgekehrt ein offenes Ausleben des Triebes die Idealbildung hindern.

'Junge Männer und Weiber’, sagt ein medizinischer Schriftsteller, ’die vollkommen gesund sind und nicht vor der Hochzeit religiöse Erfahrungen gemacht

[1] Maffei, bei Moreau 122.
[2] Indifferentismus der Monosexuellen: Hirschfeld in JSZ V (I) 94.
[3] S. z.B. Krafft-Ebing in APN VII 293f.
[4] Sollier I 459.


Kap XXIII. Religiosität und Geschlechtlichkeit.        (S. 208) 

haben, werden selten einen einzigen Gedanken an dieses Gefühl wenden, es sei denn gegen Ende des Lebens, wenn Begierde und geschlechtliche Betätigung im Abnehmen oder erloschen sind.' [1] Umgekehrt ist die Religiosität enttäuschter Jungfern viel verspottet worden. Wenn das Weib dem Manne nicht mehr gefalle’, meinte Voltaire, ’so kehre sie sich zu Gott. [2]

Die Religion habe daher stets ein offenkundiges Interesse an Enthaltsamkeit gehabt, augenscheinlich als an einem Förderungsmittel der ihr unentbehrlichen Spannungen der Idealbildung. 'Ich bin verliebt und weiß nicht in wen', dies Wort des sufischen Mystikers ferid ed-din Attar drückt diese gegenstandslose Liebesspannung des Religiösen deutlich aus. [3] 'Reinheit’, sagte die montanistische Prisca, ’wirkt Vereinigung (mit Gott)'.  [4]

Der Behauptung einer funktionalen Abhängigkeit entspricht die andere eines gelegentlichen Umschlagens der höheren Erregungsart in die niedere. Gerade die Religiösesten unter den Neurotischen sollen in 'Anfällen', die ihr Inneres ans Licht fördern, die schmutzigsten Reden führen.

Ich verweise auf einen von Workman beschriebenen jung verheirateten Erweckungsprediger, der in einem an Raserei grenzenden Zustande geschlechtlicher Erregung einer Anstalt übergeben werden mußte. [5] Ferner beschreibt uns die klinische Beobachtung Hysterische, die zu Beginn ihres Anfalls, mit gefalteten Händen und aufwärts gerichteten Augen in Betrachtung und Gebet versunken, das Bild von Heiligen darbieten, bis plötzlich das Gesicht in unverkennbare Verzerrungen und der Körper in die herausforderndsten Gesten und Haltungen übergeht. [6]

Auch die gegen so viele religiöse Gemeinschaften [7] erhobenen Vorwürfe, daß ihre erbaulichen oder erwecklichen Zusammenkünfte in geschlechtliche Ausschweifungen übergingen, -  sooft sie sich auch als boshafte Verleumdung oder entschuldbarer Irrtum erwiesen haben, können immerhin auf manche unbezweifelbare Tatsache hinweisen.

Einen andern Beweisgrund für die Verwandtschaft von Geschlechtlichkeit und Religiosität sucht man in dem zeitlichen Zusammentreffen geschlechtlicher Erregungszeiten - vorzugsweise freilich solcher, welche die offen-sexuelle Entladung umgehen - mit religiösem Sehnen und Erleben.

Die Pubertät gibt hier natürlich das klassische Beispiel ab: der verschwommene Idealismus, der gesteigerte Ernst, die religiösen Neigungen dieses Lebensabschnittes sind allbekannt. Daß dabei die Religiosität des werdenden Weibes so viel heftiger sei, entspringe ihrer größeren geschlechtlichen Unwissenheit, die sie an der körperlichen Entladung des Triebes hindere. [8]

[1] Weir 97. 
[2] Vgl. Scherr, Gesch. d.d. Frauen 412 . Ein Fall von Exaltation bei Liebesentsagung: Dr. H. Goekin APN LI 567. - Vgl. allg. noch Dr. Näcke in ZRP II 32f. und die Aufsätze von Th. Schröder in ZRP I 445ff. (bes. 453) und Sexualprobleme 1914 (März).
[3] Zit. Bei M. Buber, Ekstat. Konfess. 26.
[4] Tertullian, Deexh. cast. §11, bei Bonwetsch 57.
[5] AJI XXVI (1869) 33ff., bes. 38.40. 
[6] Wie z.B. die G . . . bei Boumeville et Regnard, Iconogr. de la Salpetrière I 70. Vgl. auch Richer 99. 103.
[7] Gnostische, manichäische, russische Sekten; die Amalrikaner des Mittelalters u. a. m. Üb. pietist. Kreise (angebl. 'wohlbezeugt') s. Scherr, aaO. 413; Wiedertäufer: Corrodi IV; ferner Wretholm 119; Tsakni 69f.; Stoll 503.
[8] S. z.B. Weir 96.97.


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Kap XXIII. Religiosität und Geschlechtlichkeit.        (S. 209) 

Die augenscheinliche Verknüpfung zahlreicher 'Bekehrungen', wie sie in gewissen christlichen Kirchen fast zum regelmäßigen Kursus des religiösen Lebens gehören, mit der Ausbildung der Geschlechtsreife fällt unter den gleichen Gesichtspunkt. Stanley Hall konnte die conversion unter die mehr oder weniger typischen Begleiterscheinungen der Adoleszenz einreihen.

Fast erscheint sie unter diesem Gesichtswinkel als eine späte und entwickelte Form der bei allen primitiven Völkern üblichen Pubertätsweihen. Mit dieser Pubertätsbekehrung kommt gewissermaßen das seelische Äquivalent jener physiologischen Reife zum Durchbruch, die den jungen Menschen zur Übernahme seiner Stellung im Gefüge der Gesellschaft befähigt:

mit der körperlichen Ehefähigkeit erwächst jenes psychophysische System, worin im Einzelnen die Interessen der Allgemeinheit verwurzelt sind: der Allgemein-, der Gattungsmensch, der socius (nach einem Ausdruck Baldwins) schiebt sich in das Einzelwesen hinein oder an seine Stelle. [1] -

Unter denselben Gesichtspunkt des zeitlichen Zusammentreffens gehört vielleicht auch die Beobachtung, daß bei Frauen die krankhafte Unterdrückung der Monatsblutung - denn die Periode ist ja eine Zeit der geschlechtlichen Hochspannung - geIegentlich auch eine Erregung religiösen Inhalts nach sich zieht.

Icard erwähnt z.B. eine Dame, bei der die Menstruation, die im Alter von 18 Jahren gering eingesetzt hatte, nach einem Jahre aufhörte und die seitdem periodisch in einen 'religiösen Enthusiasmus' verfiel, der sich, außer in andern psychischen Störungen, in religiösen Halluzinationen und dem Wunsch, in ein Kloster einzutreten, äußerte. [2]

Ebenso sucht sich dauernde geschlechtliche Übererregbarkeit augenscheinlich unter Umständen einen Ausweg ins Religiöse. Die jung verstorbene Margarete von Ypern († 1237) hatte alle Züge krankhafter Mannstollheit gezeigt, nach deren Aufhören sie selbst die Anwesenheit eines Knaben nicht ertragen konnte; dabei war sie aber 'mit Jesus verlobt'. [3] -

Umgekehrt soll dann die Zeit der geschlechtlichen Rückbildung das Absterben der religiös-idealen Spannkraft mit sich bringen, falls nicht der Ausweg in milde Ersatzformen der Religiosität gefunden wird - wie die sprichwörtliche Bigotterie der alternden Kokotte. [4]

Andere Stützen findet die Geschlechtsdeutung der Religion in der sich aufdrängenden Beobachtung von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen irdischem Lieben und religiösem Leben. Der Beginn des ersteren, der Vorgang des Sichverliebens, erinnert zuweilen auffallend an das dramatische Einsetzen des letzteren, die Bekehrung.

[1] Vgl. hierzu Starbuck 251ff. 44ff. 199ff.
[2] Bei Gannuschkin, AMP 1901 II 359. Ein pathol. sehr viel krasserer Fall dieser Art bei Maeder in JPPF I 133f.
[3] Bei O. Pfister 194. Eingebild. Geschlechtsverkehr mit dem Heiland bei einer altersschwachen Nonne: Vallon et Marie in AN 1897 184f.
[4] Vgl. B. Lewis bei H. Ellis, Geschlechtstrieb u. Schamgefühl (d. Übers., Lpz. 1900) 333.


Kap XXIII. Religiosität und Geschlechtlichkeit.        (S. 210) 

So teilt Aletrius den Bericht eines Mannes mit, der während eines gemeinsamen Ganges mit einer langjährigen Bekannten, die er indessen nie zu ehelichen gedacht hatte, sich plötzlich seiner Liebe bewußt wird. Die Betreffende bat ihn um Zusendung von Zeitungen. 'Da hatte ich plötzlich ein besonderes Gefühl. Es war gerade bei einer Laterne, die zweite von der Ecke bei der Gracht.

Ich sah plötzlich das Laternenlicht hoch aufflammen und wieder schwächer werden bis zu einem kleinen Flämmchen. Alles um mich herum war dunkel. Dann wurde das Licht wieder heller. Ich hatte in meiner Kehle ein Gefühl, wie wenn ich ersticken und... weinen sollte... Ich fühlte plötzlich, daß ich sie liebte.' [1]

Aber auch Verliebtheit als dauernder Zustand hat ohne weiteres an der Oberfläche wahrnehmbare Ähnlichkeiten mit dem religiösen Leben als Zustand. Krafft-Ebing faßte diese Ähnlichkeiten dahin zusammen, daß sowohl im religiösen wie im Geschlechtsinstinkt, Abhängigkeits- oder Unterwerfungs- sowie Liebesgefühle die Hauptrolle spielen;

Liebende und Gläubige erstreben gleicherweise ein unendliches Glück und ihre Selbstverewigung - auf Erden oder im Himmel; beide haben das gleiche Bedürfnis zu opfern, ja sich selbst zum Opfer zu bringen; in beiden kann der beherrschende Instinkt entarten zur Grausamkeit oder zum krankhaften Drang nach Leiden und Selbstdemütigung. [2] -

Liebende selbst sind es, die diese Ähnlichkeiten zuweilen empfinden und äußern.

Novalis wollte für seine Braut Religion, nicht Liebe empfinden, [3] und einer der frühesten Zettel aus der Zeit von Lenaus Liebe zu Sophie Löwenthai lautet: 'Ich kann nicht an Gott denken, ohne an dich zu denken! Gerade in den seligsten Momenten hatte ich gar nichts gedacht, sondern war untergegangen in meiner Liebe, wie in Gott zur Zeit des Gebetes.'

Und nach Jahren konnte er in den 'Liebesklängen' äußern: 'Meine Liebe hängt durchaus mit meiner Religion zusammen. Ich kann die eine nicht aufgeben ohne die andere.' Und ein anderes Mal: 'Überall, wo ich Gottes starke Hand fühle, spüre ich auch deine liebe Hand, und ich kann oft beide voneinander nicht unterscheiden.' [4]

Ja wir kennen Fälle, in denen der Geschlechtsakt als religiöse Erfahrung empfunden und bezeichnet wurde, 'wie eine Kommunion', nach den Worten der frommen Frau v. Krüdener; [5] und Flournoy konnte sich den Bekenntnissen seiner 'modernen Mystikerin' Cécile Vé gegenüber der Feststellung nicht enthalten, daß die Ausdrücke, in denen sie das Herannahen ihrer Ekstasen beschrieb, unverkennbar an die angstvoll gespannte, hingegebene Einstellung vor dem Geschlechtsakt erinnerten. [6]

Andere haben diese Angleichung von Geschlechtsakt und religiöser Ekstase noch gründlicher

[1] A. Aletrius, Der Liebesprozeß beim Menschen, ZPMP V (1914) 117.
[2] Kr.-Eb., Psychopathia sexualis.
[3] E. Heilborn, Novalis 161.
[4] Sadger, Aus d. Liebesleben N. Lenaus 55. Verwandte Äußerungen Goethes zusammengest. bei Chamberlain, Goethe 663. Auch Bismarck erlangte gleichzeitig die Liebe zur Braut und zu seinem Gotte.
[5] Ein Fall von Ellis in RPh 1902 464; vgl; Freimark, aaO. 164; Hammond, Insanity 339.
[6] Flournoy, M. M. 100. 178. 192. Vgl. den Vergleich von 'Tiefschlaf' und Geschlechtsakt: Brihadar. Upan. 4,3,21 (Deussen 470f.).


Kap XXIII. Religiosität und Geschlechtlichkeit.        (S. 211) 

durchgeführt und beiden gemeinsame Phasen der einleitenden Spannung und Erregung, dann der Anziehung und des Widerstrebens, danach der Berührung, Durchdringung, endlich der Sättigung, Befriedigung und nachfolgenden Entspannung und Mattigkeit hervorgehoben. [1] -

Allbekannt (und stets im Sinne der sexualistischen Lehre betont worden) ist denn auch, daß die religiöse Liebe sich fast immer in der Bildersprache der geschlechtlichen geäußert hat, daß die Beziehungen der Seele zu Gott als eheliche - hieros gamos - geschildert werden, [2] wobei der Gottheit meist die Rolle des männlichen Teiles, [3] zuweilen aber auch die der Geliebten zugeschoben wird, [4] oder die der Mutter unter Verwendung von Einzelheiten, die einer sexualen Deutung zugänglich sind. [5]

Religiöse selbst haben übrigens nicht nur die Nachbarschaft religiöser und geschlechtlicher Erregung empfunden, sondern auch den Eintritt körperlicher Äußerungen der letzteren während religiöser Gespanntheit aufgewiesen. [6] Schon der hl. Bonaventura, eine mittelalterliche Autorität in religiöser Erfahrung, hatte von solchen geredet, die carnalis delectationis pruritu foedantur et in spiritualibus affectionibus carnalis fluxus liquore maculantur. [7]

Endlich hat die im engsten Sinne psychiatrische Beobachtung ganz allgemein in theoretisch unverbindlicher Form darauf hingewiesen, daß in sog. 'religiöser Melancholie' oder 'religiöser Manie' stets irgendwelche Störung des Geschlechtslebens festgestellt werde. [8]

Eine bunte Vermischung oder eine Abwechslung von erotischem und religiösem Delir ist nach Krafft-Ebing bei maniakalischen Zuständen ganz gewöhnlich, religiöse Exaltation nicht selten mit großer geschlechtlicher Erregung und Drang zur Selbstbefriedigung verbunden, wie auch Masturbanten häufig ein religiöses Delir zeigten, das sich in Vorstellungen mystischer Vereinigung mit der Gottheit und entsprechenden Gesichten und 'Stimmen' kundgebe. [9]

[1] H. Delacroix, Remarques sur 'Une myst. mod.' in APs XV (1915).
[2] Älteres Material z.B. bei Dieterich 128ff.
[3] VgI. den Brautgemach-Traum (Zweibetten-Kammer): Guyon, Vie,p. II ch. XVI.
[4] S. z.B. Hopkins, Rel. of India 504, über Caitanya.
[5] VgI. z.B. die häufige Verwendung der Brüste in der Bildersprache des S. Francois de Sales (Traité de I'am. de Dieu, z.B. I. 111 ch. 8; vgl. VI, 9; VII, 1).
[6] VgI. z.B. die Angaben des 'etwas exzentrischen, doppelgeschlechtig veranlagten Predigers' bei H. Ellis in The Alienist and Neurologist XIX (1898) 271, und Swifts Angaben, nach Ellis bei Maeder, JPPF I 133.
[7] Bei Montmorand in RPh 1903 (Oct.) 386.
[8] So Neumann, Schröder v. d. Kolk, Krafft-Ebing, Meynert, Lombroso, Ball, Moreau u. v. a.
[9] Lehrb. d. Psychiatrie, 6. Aufl. 79; vgl. C. Norman in Hack Tukes Dict. of Psychol. Med. II 332f.; Dr. CIara Barns in AJI LI 481.

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