Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 158)

Eine solche Deutung würde das physiologisch begründete Elend immer nur als einen vorbereitenden Grundzustand gelten lassen, darüber hinaus aber bestrebt sein, die Willenlosigkeit und Verstimmung aus Einwirkungen besonderer verdrängter und geklemmter Komplexe abzuleiten, die einzelnen Zwangsvorstellungen und -handlungen aus 'Übertragungen' und 'Verschiebungen', inhaltlich wieder ausgehend von bloß verdrängten, nicht vernichteten Trieben allgemeiner Art oder von besonderen Erinnerungen und Wünschen, die mit diesen Trieben zusammenhängen. [1]

Um dies im Einzelnen durchzuführen, müßten wir natürlich ganz persönliche Psychoanalyse der Mystiker treiben können, und diese ist uns, wenigstens den großen geschichtlichen Gestalten gegenüber, natürlich versagt. [2]

Immerhin lassen sich sowohl allgemeine Gesichtspunkte wie auch Einzelbeobachtungen aufweisen, die eine theoretische Angliederung der mystischen Dürre an spaltungsneurotische Zustände erlauben. In allgemeiner Weise kann offenbar, wie das Elend der Vorbekehrungszeit, so auch das der Nachbekehrungszeit durch einen Zerfall des seelischen Lebens in zwei Strömungen gedeutet werden, von denen die eine, der erweckliche Komplex, vor dem Eintritt der 'Vergottung' eben noch keine Alleinherrschaft besitzt.

Erst die Vergottung aber (erfuhren wir schon) macht der Dürre ein Ende. Solange der Mystiker noch in seiner Entwicklung steht, wird es wesentlich von der Kräfteverteilung auf 'alten' und 'neuen' Menschen abhängen, ob er in leidlich harmonischem und also glücklichem, oder in 'verteiltem' und also gequältem Zustande sei.

Miss Beauchamp ist 'wohl und glücklich', solange Sally unterdrückt, verschwunden ist, dahin 'zurückgegangen, wo sie herkam'. [3] Dagegen führen Willensanstrengungen Sallys in der normalen Miss B. Hemmungen herbei, die sich bis zu völliger Willenlosigkeit und Unfähigkeit zu den einfachsten Verrichtungen steigern, [4] also ein Merkmal der Psychasthenie und der Dürre herbeiführen.

Ähnliche Bedeutung mag das gelegentliche Zeugnis einer Psychasthenischen Prof. Oesterreichs haben: 'Es schien mir wohl, als ob zwei Assoziationsketten durcheinandergingen; die eine gehörte zu mir, die andere trat mechanisch dann und wann dazwischen, ohne aber wirklich genau inhaltlich feststellbar zu sein.' [5]

Indes nun aber die Kräfte des 'neuen Menschen' während der mystischen Entwicklung noch großenteils einen soz. außerpersönlichen Sitz haben und

[1] Zur Erreichung dieses Ziels ist bisher sehr wenig geschehen. S. Freuds Ausführungen in ZRP I (1907) 4ff. und JPPF I 570. Auch der Begriff der Kontrastassoziation scheint mir wenig für unsre Zwecke zu leisten. (Vgl. dazu Loewenfeld 146; Bleuler in PNW 1904 249ff. 261ff.)
[2] Flournoys eingehend analysierte Mystique moderne zeigte keine 'Dürre'-Erscheinungen.
[3] Prince 139.
[4] Das. 120ff.
[5] S. JPN VII 271.


Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 159)

sich daher wesentlich aus dem Unterbewußten heraus als Führung, Eingebung, Automatismus usw. erweisen, ist die seelische Gesamtwirtschaft doch schon in überragendem Maße auf ihre Mitarbeit angewiesen; ihr zeitweiliges Zurücktreten oder Aussetzen kann darum die Gesamtperson sehr wohl in eine hilf- und spannungslose Verfassung zurücksinken lassen: hatte doch das 'eigene' Wollen und Denken bereits zu viel an Willen und Denken des Vergottungskomplexes abgegeben.

Ein solches zeitweiliges Nachlassen des Automatismus, ein vorübergehendes 'Einschlafen' des 'Unterbewußten', so schwer es an sich im Einzelfall ohne genaueste Kenntnis der innern Lage zu erklären sein mag, ist doch eine Tatsache, die jeder Erfahrene an sich beobachtet. Man erinnere sich der Periodenhaftigkeit mediumistischer Leistungen: der vorübergehenden Entartungen automatischen Schreibens, Sprechens u. dgl. m. [1]

Auch religiöse Automatismen entarten zuweilen zeitweilig in dieser rätselhaften Weise, und ihr Versiegen wird schwer empfunden. Robert Baxter sprach von den 'außerordentlichen Heimsuchungen durch Finsternis... (und) Totheit,... wenn (seine) Erwartungen nicht im Begriff waren erfüllt zu werden'; [2] d.h. er leitete einen Zustand typischer Dürre aus dem Nachlassen seiner automatischen Eingebung ab.

Eine solche Deutung würde der vorigen (aus Spaltung überhaupt) widersprechen, wenn sie nicht eben auf die Gleichsinnigkeit von Automatismus und Ich den Nachdruck legte, den Vorteil des Tragens oder Führens also den Nachteil der Kräfteteilung überwiegen ließe, ein Nachteil, der ja überdies in jedem Fall von einem Zukurzschuß verfügbarer Kräfte abhängig ist.

Auch wird die zweite Deutung bestätigt durch die ergänzende Beobachtung des entgegengesetzten Vorgangs: daß nämlich ein Wiederaufschwellen des automatischen Komplexes die Dürre sogleich behebt, die durch sein Versagen herbeigeführt war.

Ein einziges Wörtchen des Herrn, bemerkt S. Teresa, wie: Bekümmere dich nicht, oder: Fürchte dich nicht, oder eine Vision, auf welche dann übrigens weitere 'himmlische Gnaden in Menge' folgten, verscheuchte die seelische Pein und machte 'mich wieder gesund, als wenn ich nichts gehabt hätte'. [3]

Ähnlich wie ein Zurücktreten des Komplexes wirkt aber auch ein verstärktes Zurückdrängen desselben, und wenn sich dieses auf Einzeläußerungen bezieht, so erhalten wir offenbar wie durch Glückszufall Gelegenheit, kleine Bruchstücke nachträglicher Psychanalyse zu liefern. Nicht selten in der Tat lesen wir in religiösen Lebensbeschreibungen von dürreartigen Leiden, die aus dem bewußten Widerstand gegen einen Antrieb, 'Befehl' oder Wunsch des außerbewußten Führungskomplexes entstehen.

Der mehrfach erwähnte Radajew z.B. berichtet, daß er 'an fünf Wochen gelitten' habe, wenn er 'dem Geiste widerstand. (Ich wollte beichten gehen,) aber der Geist

[1] S. z.B. d'Espérance 189.
[2] Baxter, Narrative 86.
[3] S. Teresa I 278 (c. 30); vgl. den ersten ihrer 'Berichte an ihre Beichtväter': V 13, und Labis 40f.


Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 160)

ließ mich zur Kommunion nicht zu. Ich wurde auf eine Woche krank, und darauf nach einer Woche fühlte ich in mir den Geist, der sprach: Steh auf, gehe, kommuniziere. Ich stand auf und war vollständig gesund, aber mein eigener Wille war nicht mehr in mir.' [1] -

Ähnlich beschreibt Jung-Stilling aus dem Jahre 1761/2 eine nahezu fünf Monate ('von Martini bis 12. April 1762') währende Periode 'schwärzester Melancholie', in der er zum erstenmal in seinem Leben 'keine Empfindung noch Trost mehr hatte', ja 'sogar an Gott nicht einmal denken konnte, so daß das Herz daran teil hatte'.

Starr und verschlossen, litt er 'erschreckliche Höllenqual'. Am 12. April 1762, um 9 Uhr morgens, 'fühlte er plötzlich eine gänzliche Veränderung seines Zustands, alle seine Schwermut und Schmerzen waren gänzlich weg, er empfand eine solche Wonne und tiefen Frieden in seiner Seele, daß er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wußte. Er besann sich und wurde gewahr, daß er Willens war, wegzugehen; dazu hatte er sich entschlossen, ohne es zu wissen.' [2]

Es gibt übrigens ein eigenartiges, weniger regelmäßig anzutreffendes Symptom der Dürre, dem erfahrene Mystiker selbst, wenn auch ohne Angabe von Einzelheiten, ausdrücklich einen als speziell bezeichneten 'psychischen Ursprung' nach der Art neurotischer Konversionserscheinungen zuschreiben. Ich meine die 'Schmerzen' der Dürrezeit.

Mme. Guyon nennt sie einen 'innern Brand', [3] ein geheimes Feuer, das so schmerzhaft sei, daß die Seele sich in hundert Stellungen bringe, um Gott für ihren Fehler Genugtuung zu geben. Sie habe diese 'Qualstunden, ja mehrere Tage lang ertragen.’ [4] Eine nähere Bestimmung der Natur dieser Schmerzen soll hier nicht versucht werden.

Körperliche 'Algien' mannigfacher Art sind bei den Psychasthenischen wie bei den Hysterischen natürlich nichts Ungewöhnliches. [5] Vielleicht sind die Schmerzen der Dürre diesen verwandt, vielleicht auch nicht. Die Äußerungen der Mystiker lassen mitunter sogar Zweifel übrig, ob sie nicht, populär gesprochen, rein seelische Schmerzen im Sinn haben. [6]

Was uns hier allein angehen soll, das ist ihr Auftreten und Enden in der Art neurotischer Symptome, nämlich in Abhängigkeit von Vorstellungen, die dem Kräftegeschiebe des mystischen Komplexes angehören.

Diese Schmerzen sind, wie Mme. Guyon versichert, von 'Fehlern' der Seele abhängig, zu deren Reinigung sie nämlich dienen; sie halten an, bis ein solcher Fehler überwunden sei; sie können willkürlich, aber ungehörigerweise abgeschnitten werden durch einen Gang zum Beichtstuhl, also durch 'psychisches Abreagieren'.

Aber dies sei von Übel. Das richtige Verhalten sei vielmehr, 'in dieser schmerzlichen, dunklen und verworrenen Zeit' den Absichten Gottes entgegenzukommen und diesen verzehrenden Schmerz in seinem ganzen Außmaß zu erdulden und passiv zu tragen, solange er eben dauere, ohne etwas hinzuzufügen oder hinwegzunehmen. Dazu sei ein unglaublicher Mut erforderlich. Selbst eine große Seele, die ihr bekannt sei,

[1] Grass 218.
[2] Henrich Stillings Wanderschaft... (Berl. u. Lpz. 1778) 42. 46.
[3] un embrasement intérieur.
[4] se met en cent postures: Vie I 102ff. (c. XI § 5ff.). Vgl. S. Teresa IV 108 (Mor. VI c. I).
[5] Janet, Obs. I 185ff.
[6] Vgl. den Fall von Dr. Francois bei G. Dumas, La joie et la tristesse 95f. und die angebl. seelischen Qualen (douleurs psychiques) mancher Lypemanischer. Ein rel. Beispiel höchster Seelenqual: Reitz II 23.


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Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 161)

sei nie völlig zu Gott gekommen, weil ihr dieser Mut gefehlt habe und, wie sie selbst gestanden, sie diesen Schmerz nie länger als eine Viertelstunde habe ertragen können, ohne sich durch einen Gang zur Beichte von ihm zu befreien.

Sie selber habe ihn bald längere, bald kürzere Zeit, je 'nach der Art ihres Fehlers', erduldet; selbst 'ein unnützer Blick, ein überstürztes Wort wurde streng (in dieser Weise) bestraft'. [1]

Die 'psychogene' Natur der Dürreschmerzen scheint hier deutlich behauptet. Dabei fällt freilich auf, daß die angeblichen Grundlagen der 'Übertragung', eben die bestehenden 'Fehler', ja doch bewußt, eben als Fehler gewußt und insofern nicht 'verdrängt' sind.

Diesem Einwand könnte man begegnen nicht nur indem man einer teilweisen Bewußtheit eine teilweise Verdrängtheit entsprechen ließe, sondern auch indem man die 'Fehler' selbst erst wieder als 'Konversionen' völlig verdrängter Inhalte auffaßte.

Aber auch dann wäre die 'Gespaltenheit', die hier die Dürreerscheinungen erklären soll, offenbar eine andere, als die oben bezeichnete in Heiligungskomplex und Bewußtsein: hier verliefe die Gespaltenheit augenscheinlich völlig innerhalb der seelischen Massen des profanen, 'alten' Menschen, und nur ihr Verdrängungswille wäre angeregt, gleichsam inspiriert, durch den tiefstgelegenen geistlichen Komplex.

Wir erhielten also einen mindestens dreistöckigen Bau des Seelenlebens: 'unter' oder 'über' allem zerklüfteten Geschiebe - die führende und inspirierende Macht des Vergottungskomplexes. Wenn diese Anschauung gekünstelt erscheinen sollte, so bitte ich, das Urteil noch eine Weile in der Schwebe zu lassen; vielleicht wirft der Fortgang der Untersuchung ein günstigeres Licht auf sie.

Auf alle Fälle gewinnen wir sogleich einen neuen Beleg für die Wirksamkeit jenes tiefsten Komplexes und damit für die Deutung der Dürre als Spaltungsneurose im weiteren Sinne, wenn wir die Wertung und Ausnützung zu verstehen suchen, die diesem Leiden seitens des Mystikers zuteil wird.

Wie ich schon sagte, ist für ihn das Leiden der mystischen Nacht keine bloß zu ertragende Krankheitsqual, sondern ein wesentlicher und zweckvoller Bestandteil seiner innern Entwicklung: ein Mittel, das ihn von jenen Resten des 'Selbst' befreit, die ihn die ersten ekstatischen Erfahrungen noch ichsüchtig genießen und sie ihm dadurch zu einer Quelle der Abschließung werden ließen.

Diese Ausnützung aber wird ermöglicht durch seelische Tatsachen, die sich in einem sehr bedeutsamen Unterschiede des Erlebens mystischer Dürre von dem eines reinen Erschöpfungszustandes spiegeln.

Während nämlich der einfach Psychasthenische fast immer von Unruhe besessen ist, [2] verrät der mystisch Dürre fast immer einen verborgenen Ballast tief verwurzelter, unverrückbarer Ziele, der es ihm ermöglicht, sein Schiff durch die Stürme von Leiden zu steuern, die seine Persönlichkeit schier auszulöschen drohen. Zum mindesten bringt er immer noch die Selbstbesinnung auf, die ihn an äußerlich tugendhaften, z.B. an

[1] Vie I 102ff.
[2] Janet, Obs. I 301.


Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 162)

Werken der Liebe festhalten läßt [1] und ihm ermöglicht, seine Versuchungen 'mit kalter Gelassenheit zu verachten', also zu tun, 'als ob er den Teufel nicht bemerke', [2] und die 'unruhige Mühle getrost fortlaufen zu lassen und gleichwohl dabei sein Mehl zu mahlen'. [3]

Dies ist natürlich zugleich psychologische Klugheit, indem ja angestrengter Widerstand gegen Zwangsvorgänge nur Verschlimmerung bewirken würde. Aber der Heilige glaubt über diesen heilsamen Quietismus hinaus die Leiden auch als Hebel benutzen zu können, um sein 'Ich' noch gründlicher zu entwurzeln.

Die seelischen Kunstgriffe, die er dabei anwendet, bestehen freilich zum Teil in vorstellungsmäßigen 'Vergoldungen', die wir als die praktische Weisheit leidender Schwacher und Frommer begreifen können, [4] d.h. er sieht die Leiden als 'Gottes Willen' oder als 'verdient', als 'Strafe' oder als etwas an, durch dessen willige Übernahme er seinem Herrn getreue Gefolgschaft und unbegrenztes Vertrauen beweisen könne. [5]

Darüber hinaus aber geht die Wirksamkeit, die der Jenseitige von seinen Dürreleiden erhofft, insofern diese nämlich Symptome jener Entwicklung sind, die mit der völligen 'Loslösung der Begierden und Vorstellungen von den geschaffenen Dingen' enden soll, um die Seele 'recht zu bereiten für die göttliche Liebesvereinigung'. [6]

Mit anderen Worten: die Dürre fördert die Entselbstung und begünstigt jenes Leben ekstatischer Erfahrungen, an deren Ende die Vergottung winkt. Die Mystiker behaupten es als ihre Erfahrung, daß in jener 'innern Empfindungslosigkeit' und Nacht' ihnen auch 'die Reflexion hinweggenommen werde: die Fähigkeit der Seele, ihre inneren Vorgänge zu beobachten,

das einzige Hemmnis, welches ihre Fortschritte versperrt und Gott daran hindert, sich ihr mitzuteilen und in ihr zu wirken,' [7] also jene schwerst zu überwindende aller Eitelkeiten: die Eitelkeit eines Heiligen auf seine Heiligkeit. [8] Und dies ist um so merkwürdiger, als in der profanen Psychasthenie gerade eine übertriebene Neigung (und häufig auch Fähigkeit) zur Selbstdurchleuchtung und Selbstbespiegelung beobachtet wird. [9]

Es ist ebenso gut mystische Erfahrung, daß die Dürre die letzten Reste der Ichsucht [10] tilge, die der restlosen Selbsthingabe und damit dem mystischen Erlebnis der Vergottung im Wege stehen.

Hier werden 'die letzten Tropfen aus dem Schwamme gepreßt', die letzten Wurzeln ausgezogen. [11] Und damit wird zum Teil schon die Mitwirkung jener Vorstellungsvergoldungen begreiflich: denn indem das Leiden als 'verdient' empfunden wird, drückt sich das Ich unter Andere hinab, die verschont blieben, und unter das eigene frühere Selbst, das wenigstens Inbrunst der Andacht besaß, und so entspringt ein

[1] s. Jean III 298 (N. O. I, 11); S. Teresa IV 112 (Mor. VI c. I).
[2] Molinos 25.
[3] S. Teresa IV 55 (Mor. IV c. I); vgl. Guyon, Opusc. 45f. (M. C. ch. XIX).
[4] S. o. S. 3 f.
[5] Guyon, Opusc. 223 (Torr. I,8, 11).
[6] S. Jean III 369 (N. O. II. 8),
[7] Molinos 13.
[8] Ramakrishna 318.
[9] Janet, Obs. I 485.
[10] propriété, amour-propre.
[11] Vgl. o. S. 30 f. 38.


Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 163)

Quell der Nächstenliebe, und Neid und Zorn kommen zur Ruhe. [1] Gerade der Verlust der geistlichen Gaben, der Verlust von Heiligkeit, Glückseligkeit und himmlischem Ruhm [2] entwurzelt - nach der Überzeugung der Mystiker - nun auch noch jene letzte verfeinerte Genußsucht des religiösen Lebens selbst: das Pochen auf die Gnade, das sich nicht willenlos in Furcht und Ehrerbietung unterwirft. [3]

Die Liebe zum harten 'Gott' ist stärker, als die zum liebreichen. 'Kein anderer Trost darf von Gott begehrt werden, als daß wir aus Liebe zu ihm unser Leben zum Opfer bringen möchten.’ [4] 'Erst dann ist es, als existiere gar nichts mehr, weil die Seele gänzlich derart beschaffen ist, daß sie sich selbst nicht mehr kennt und sich nicht erinnert, ob für sie einen Himmel oder ein Leben oder eine Ehre aufbewahrt sei, indem sie ganz davon erfüllt ist, die Ehre Gottes zu vollbringen.' [5]

Was uns hier vor allem angeht, das ist die Möglichkeit, diese 'Verwendung' der Dürreleiden im Sinne der geistlichen Entwicklung eben auf eine seelische Gespaltenheit zurückzuführen, wie wir sie als die eine Wurzel psychasthenischer Symptome erfaßten.

Es soll, mit andern Worten, die feste Geborgenheit, die den mystisch Dürren vom haltlos Leidenden der profanen Psychasthenie meist unterscheidet, auf jenem festen Komplex in seiner seelischen Tiefe beruhen, von dessen Zurücktreten oder Aufleben sich auch die Wandlungen seines Leidens so vielfach abhängig zeigten.

Sicher ist es ein derartiges Gefühl der inneren Gesundheit in einem unerschütterten Kern des Lebens, was den Mystiker zu der Behauptung ermutigt, daß 'kein Weichling oder Verzagter' durch das 'Feuer' jener 'strengen blutsauren Geburt' hindurchkönne, um das Sterben seiner Eigenheit zu erlangen; [6] was ihn instand setzt, noch unter den größten Qualen 'im Innersten des Herzens mit liebender Aufmerksamkeit auf (den Herrn) zu lauschen, seine göttlichen Belehrungen zu empfangen und in dieser frommen Gelassenheit und allgemeinen Vergessenheit sich durch diese innere Nahrung wunderbar unterhalten zu finden'. [7]

Das Bemerkenswerte an diesem Frieden inmitten der Stürme - wie man ihn nennen könnte - scheint dabei gerade das Bewußtsein einer Zwiespältigkeit der Person zu sein, wobei je nach der Stufe geistlicher Entwicklung die Ichbetonung bald mehr auf den Komplex der Geborgenheit, bald mehr auf die seelischen Massen der Unruhe verlegt wird.

So spricht Marie de l' Incarnation, während einer Zeit der innern Wirren und Totheit, von 'einem dauerhaften und tiefen Frieden, der mir aber doch recht entfernt von mir erschien, wiewohl er in mir war; ein so zarter Friede, daß ich ihn nur gleichsam in einer sehr entfernten Gegend sah, was der Natur sehr schmerzhaft und dem Geiste eine rechte Kreuzigung ist.' [8] - Mir scheint, wir können ein solches

[1] S. Jean III 303. 319 (N. O. I, 12); 316 (I, 13); vgl. S. Teresa IV 39 (Mor. III c. 2); Thorold 119.
[2] S. Radajew über volle Entblößung (obnazenije): Pfizmaier 93 [125].
[3] Guyon, Opusc. 176 (Torr. I, 5, 17); S. Jean III 305 (N. O. I, 12); II 143ff. (Sub. II, 7).
[4] Molinos 63.
[5] S. Teresa IV 207 (Mor. VII, 3); vgl. S. Jean III 315 (N. O. I, 13).
[6] GichteI, Theos. I 219f.; II 958.
[7] S. Jean III 287 (N. O. I, 9); vgl. III 342 (II,5); 466 (II, 23) und die bedeutsame Stelle III 387 (II, 10) über den travail qui s'opére während der Dürre; Guyon, Opusc. 206 (Torr. I, 7, 28). [
8] Chapot II 233; vgl. 245; Guyon,


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Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 164)

Bekenntnis nach verwandten Zuständen deuten, die uns aus der Psychologie der Ichspaltungen vertraut sind: Zustände, in denen die vorwaltende Stimmung einer zeitweilig versunkenen Phase in das bewußte Ich hinein gleichsam durchschimmert. [1]

Eine umgekehrte Anordnung des persönlichen 'Mittelpunktes' scheint in Fällen gegeben, wo das Subjekt bereits dauernd oder vorübergehend im tiefsten Frieden steht und nur sein Umkreis oder (wie die Mystiker im Gedanken an das herkömmliche Bild des apex mentis gerne sagen) sein niederer Teil von den letzten Unregelmäßigkeiten der Natur bedrängt wird.

'Es ist einem,' sagt die Nonne Anne-Madeleine Remuzat von diesem Zustande, 'als habe man sich auf die feine Spitze des Geistes zurückgezogen, wie in den Bergfried der Festung, wo man mutig ausharrt, wiewohl alles übrige von Traurigkeit ergriffen und bedrückt ist. [2]

Während die Außenwerke der Seele dem Schmerz und der Hilflosigkeit übergeben sind, ist das Innerste ununterbrochen mit Gott vereinigt.' Ja sie scheut den Ausspruch nicht: 'Je mehr meine Seelenvermögen von Bitterkeit überflutet waren, desto mehr war der Grund dieser selben Seele in Gott.'.

Denn 'die Stürme der Versuchungen gelangen nicht bis in jenen état lancier, in welchem die Seele in voller Sicherheit verharrt, ... der sie mehr und mehr in ihrem Gott vertieft und vollkommene Ruhe in einem vollkommenen Genießen finden läßt.' [3] -

'Die Sinne sind es eben allein, die immer Leiden zugänglich sind; und wenn sie überwältigt sind und eine solche Person forscht auf Befragen in sich nach, so findet sie nichts in sich, das da leidet: unter den unglaublichsten Leiden sagt sie: Ich leide nichts und kann nicht sagen noch gestehen, daß ich leide, von wegen des göttlichen Zustandes und der Glückseligkeit, die sie im Innersten oder im obersten Teile trägt.

Und dann besteht eine so völlige und vollkommene Trennung der beiden Teile, des untern und des obern, daß sie miteinander wie Fremde leben, die sich nicht kennen; und die größten Leiden hindern nicht den vollkommenen Frieden, Stille, Freude und Un- beweglichkeit des oberen Teiles; wie auch die Freude und der göttliche Zustand nicht das völlige Leiden des untern hindert, und das ohne Vermischung irgendwelcher Art.' [4]

Dies dauernde Bestehen eines festen und gesunden Komplexes 'unter' krankhaft zerfallenen Massen ist nun freilich nicht etwas der religiösen Psychologie allein Eigentümliches.

Schon die erste Tatsachenbeschreibung der seelischen Spaltungen zeigte uns gelegentlich eine ruhig überlegene und beobachtende Ichphase 'unterhalb' eines stark verkümmerten Bewußtseins. [5] Aber auch auf Gebieten noch krasserer Leidenszustände beobachten wir durchaus Verwandtes. Nur flüchtig will ich an die Behauptung schon der älteren Forscher erinnern, daß 'unter' einem völlig

[...] Opuse. 226 (Torr. I, 8, 16); Molinos 73. 77.
[1] S. o. S. 66.
[2] Remuzat 311. 317. 318. 320. Vgl. Molinos 77 ('in ihrem oberen Teil bleibt die Seele doch gefaßt'); Noyes, Confessions 41: yet there was an instinctive consciousness of strength ... in my heart; S. Teresa IV 206 (Mor. VII, 2); Chapot II 324; I 205.
[3] Chapot I 151ff. Ebenso Guyon, Vie II 100. 101 (II, 9. 12. I3).
[4] Guyon. Opusc. 254 (Torr. II, 2, 4); vgl. 269 (II. 4. 6); ganz ebenso S. Jean III 468 (N. O. II, 23).
[5] Vgl. o. 57.


Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 165)

geistesgestörten Bewußtsein sich meist im somnambulen Zustande ein gesundes ausgraben lasse, eine Behauptung, die sich u.a. auf vollständig 'Schwachsinnige' berief, die im magnetischen Schlaf die 'lebendigste Phantasie, scharfsinnigen Witz, glänzende Talente' offenbarten. [1]

Über die Zweideutigkeit dieser naiv beobachteten Tatsachen weit hinaus führt z.B. der bekannte Fall der Anna Winsor, der den Vorzug sorgfältiger Beobachtung durch zeitgenössische Fachleute hat.

Die Kranke litt seit ihrem 18. Jahre an hochgradiger sog. Hystero-Epilepsie mit heftigen Krämpfen und deliranten Bewußtseinsstörungen. Während nun das Mädchen, nach zweiwöchigem Delir, noch ohne Bewußtsein der Umgebung und abgezehrt dalag, suchte sie erst mit den Zehen, dann mit dem Zeigefinger auf dem Laken Buchstaben zu zeichnen.

Als ihr Papier und Bleistift gegeben wurden, fing sie an, Namen längst Verstorbener, Anordnungen betreffs ihrer Krankheit, Vorhersagungen ihrer Zukunft u.a. aufzuschreiben. 'Es wird lange Zeit krank sein; es wird seinen Geruchsinn verlieren, mehrere Monate lang blind sein usw.'

Während sie einige Monate später wieder im vollen Delir lag, sich Haare in Büscheln ausriß, um sich schlug und biß und Hemd und Bettzeug zerfetzte, suchte ihre rechte Hand sie daran zu hindern, indem sie die Linke ergriff und festhielt.

Es fand sich bald, daß der Arm - ein wohl bekanntes Merkmal automatistischer Abspaltung - vollständig empfindungslos war. A.W. sah ihn denn auch völlig als einen Fremden an, suchte ihn zu vertreiben, schlug ihn, benannte ihn spöttisch Stump, Old Stump. Stump aber entwickelte eine mannigfaltige Tätigkeit: fertigte Zeichnungen an, schrieb Gedichte, selbst während Anna Winsor in Unterhaltung verwickelt war.

Sogar während ihres Schlafes blieb er am Werke, denn er schlief nie (wie Sally), und während sie delirierte, war er 'vernünftig', stellte und beantwortete schriftlich Fragen und ordnete ärztliche Maßnahmen an. Kein Wunder, daß der Bericht zusammenfaßt: dieser Arm scheine eine gesonderte Intelligenz zu haben und betrage sich wie eine fremde Person. [2]

Auch in den vorübergehenden Geistesverwirrungen des Fiebers und neurotischer Angstzustände wird gelegentlich ein ähnliches Fortbestehen eines klaren und ruhigen Bewußtseinsteiles beobachtet. Nach einem Typhusfieber z.B. berichtet eine Person, daß sie während des Delirs sich selbst 'ganz laut unvernünftige Reden aussprechen hörte, während ein Teil meines Gehirns sehr ruhig war, wie in klarem Mondlicht gebadet.

Die Verdoppelung der Persönlichkeit war vollständig. Aus jener ruhigen Gegend rief mich eine Stimme zur Ruhe... Jene Klarheit blieb... dauernd bestehen, im Gegensatz zu dem tobenden Chaos der übrigen Gehirnregion, sie versicherte mich (der) Zukunft. . .' [3]

Die Erfahrung der ruhenden Gottestiefe in den Stürmen der Dürre ist also nicht ohne wenigstens formale psychologische Analogie in andern profanen Leidenszuständen. Das nimmt ihr natürlich nichts von ihrer

[1] S. Idelers Fall bei Splittgerber, Schlaf I 220f.; Wolferts Fall bei Perty, Myst. Ersch. I 236; Chorons Fall bei du Prel, Stud.I 131; den savoyischen Kretin bei Steinbeck 210.
[2] Nach Dr. Ira Barrows bei Myers I 354ff. (Gleichzeitige Aufzeichnungen Mai 1860 bis Jan. 1863; Nachkontrolle durch Prof. W. James.) Vgl. Passavants und Barberins Fälle bei Passavant, 2. Aufl. 101f.
[3] Aus Grasset, Le psychisme intérieur (Par. 1896) 338f. bei Oesterreich I 434. Vgl. einen ähnl. Fall (kongenitale Angstzustände) in JSPR XI 319.


Kap XV. Mystische Überwindung der Neurose.         (S. 166)

möglichen Bedeutsamkeit. Vielmehr scheint mir damit lediglich das sehr eigentümliche Problem der seelischen Spaltung auf Gebiete verpflanzt, deren Bearbeiter nicht immer seine ganze Sonderbarkeit zu empfinden scheinen. [1]

Uns wird dies Problem noch ein beträchtliches Stück Weges begleiten in Formen, die sich hier noch nicht annähernd voraussehen lassen.'

[1] Auch Oesterreichs Deutung durch gleichzeitiges Bestehen zweier verschiedener Gefühlszustände (aaO. I 431 f.) scheint mir nicht zureichend; ebensowenig natürlich Heilers ausschließliche Betonung der 'radikalen Resignation und Indifferenz' als Ausflucht der Dürreleidenden (Heiler 279).

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