Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 166)

Dagegen ist es im Rahmen der augenblicklichen Tatsachenbeschreibung. beachtenswert, daß die gleiche Verteidigung der mystischen Zustände gegen eine Auslegung als bloßer Erschöpfungsneurose (nämlich durch Aufweis eines selbständigen Tiefenkomplexes außerhalb der leidenden seelischen Massen) auch bezüglich des mystischen Endzustandes geführt werden kann.

In der Tat bietet die Vergottung auf den ersten Blick gewisse Eigenheiten dar, die einen Vergleich mit bestimmten Symptomen der Erschöpfungsneurose herausfordern: nämlich mit den Zuständen des psychasthenischen Persönlichkeitsverlustes, der neuerdings viel behandelten sog. Depersonalisation.

Dieser Zustand der Depersonalisation [2] charakterisiert sich im allgemeinen dadurch, daß der Kranke zwar noch Handlungen und selbst verwickelte ausführt, daß ihm dabei aber das Bewußtsein fehlt, er selber sei es, der da handelt. Die eigene Rede wird gehört, klingt aber fremd; die eigene Bewegung wird gesehen, aber es ist, als führte 'ein Anderer' sie aus. Man selber glaubt ein Anderer zu werden und doch derselbe zu bleiben; man wird gewissermaßen zwei. [3]

'Ich hörte eine Stimme, als wäre es die einer fremden Person, aber gleichzeitig erkannte ich sie als die meinige; dieses Ich, welches sprach, machte auf mich den Eindruck eines verloren gegangenen, sehr alten und plötzlich wiedergefundenen Ich.

'Wo bin ich nur,' fragt eine dieser Kranken unaufhörlich, 'was ist aus mir geworden? Das bin nicht ich, die da ißt und arbeitet, ich sehe mich nicht dies und jenes tun, es fehlt mir etwas.' [4] 'Das bin nicht ich, der da in meinem Körper ist; es ist ein Anderer darin.'

Ja manche empfinden ihr Tun geradezu als ein von außen aufgezwungenes: 'Eine unwiderstehliche Kraft treibt mich an; ich bin wie bezaubert.' 'Es ist, als risse mich ein Strom mit sich fort.' [5] Solche und ähnliche Ausdrücke wiederholen sich ins Endlose.

[2] Zur Kritik des Terminus s. Dessoir in CIP 39.
[3] Aussage eines Pat. bei Dugas, Un cas de dépersonalisation, RPh XLV (1898) 50If.
[4] Janet, Névr. II 62.
[5] Janet, Obs. 274; ähnl. 273. 315; Sollier II 109; E. Bemard Leroy, Sur l'illusion dite 'dépers.', RPh XLVI (1898) 158f.


Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 167)

Ein Ausdruck für dieses Gefühl ist es wohl, daß manche dieser Kranken sich für halbtot, nur mehr halb lebend halten; ihre Seelen scheinen ihnen vom Körper geschieden; haben sie noch Leben, so müsse es wohl in einer andern Welt sein. Ja Ck. ... , eine 41 jährige Frau, muß sich vor dem Spiegel vergewissern, daß sie noch sie selber ist und kann nur mit Anstrengung daran glauben, daß sie nicht gestorben sei. [1]

Aber, wie gesagt, es ist bemerkenswert, daß dieser empfundene Verlust des handelnden Ich durchaus nicht, oder nicht immer mit einer merklichen Verkümmerung oder Verwirrung des Inhalts der Leistungen gegenüber dem normalen Durchschnitt der betreffenden Personen einhergeht; [2] am wenigsten nach dem eigenen Bewußtsein der Kranken.

'Ich urteile vernünftig wie alle anderen, und doch versichere ich Sie, daß ich es nicht mehr bin.' [3] In diesem Zustande, sagt eine Kranke Balls, 'muß ich handeln wie zuvor, ohne zu wissen warum.

Ein Etwas, das mir nicht in mir zu wohnen scheint, zwingt mich fortzufahren... ' [4] Aber auch von außen soll manchen von ihnen keine Beeinträchtigung anzumerken sein; [5] sie gehen allen ihren Beschäftigungen nach, und doch empfinden sie selbst sich nur als die 'uninteressierten Zuschauer ihrer Bewegungen, Worte und Handlungen'.

B.N. führt eine Unterhaltung anstandslos fort, während sie sich selbst, ihren Gedanken und Worten völlig fremd gegenübersteht. [6] Ein Kranker Prof. Oesterreichs schreibt innerhalb eines Jahres eine vorzügliche Dissertation, während er doch keines einzigen vernünftigen Gedankens fähig zu sein glaubt.

'Was da steht, ist ohne mein Zutun entstanden, ich habe es mechanisch niedergeschrieben, ich weiß nicht ein einziges Wort, geschweige den Inhalt davon. Es ist mir, als ob es gar keinen Sinn und Zusammenhang haben könnte, denn ich habe keinen Überblick und keine Disposition', sagt er gewöhnlich über seine tägliche Leistung. [7]

Es fällt denn auch auf, daß, wie die objektive Untersuchung lehrt, in den meisten Fällen weder die Sinnesempfindungen eine Störung erlitten haben, [8] noch das wiederholende Gedächtnis merklich beeinträchtigt ist.

Die Klagen der Kranken über schlechtes Gedächtnis scheinen daher ebenso auf Veränderungen in dem 'Sichanfühlen' der Erinnerungen zu beruhen, wie die Klagen über Nichthandeln bei erhaltenem Tun. [9]

Die Verlockung, solche Beschreibungen mit den Selbstbekenntnissen der Vergotteten, der Ich- und Willenlosgewordenen zusammenzustellen, ist eine augenscheinliche. Man vergleiche etwa folgende Äußerungen und Beschreibungen der Mme. Guyon mit den obigen Angaben der Kranken: Die 'Seele' - das Ich - besitzt nichts mehr; sie wird besessen. Die 'Seele' - das Selbstbewußtsein - fühlt sich nicht mehr, sieht sich nicht mehr,

[1] Janet, Obs. 316.
[2] S. z. B. die Kranken Bei . . . u. Ver . . . in Janet, Névr . II 62.
[3] Bei Hesnard 74.
[4] K. Oesterreich, Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt und die Depersonalisation in der Psychasthenie, in JPNV II 261.
[5] Vgl. den von Taine erwähnten Pat. bei Dugas, aaO. 501.
[6] B. Leroy, aaO. 159.
[7] Oesterreich, JPN VIII 76.
[8] Das. 97. [9] Vgl. Dugas, aaO. 500. 502; Oesterreich: JPN VIII 221 - 5. - Allg. noch A. Pick in APN XXX VIII Heft1; G. Heymans in ZPPS XXXVI 321.


Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 168)

kennt sich nicht mehr. Alles ist ihr gleichgültig, sie läßt sich gehen, sie tut nichts, sie tut alles, was 'man' sie tun oder leiden läßt. [1] Selbst der Vergleich des Körpers mit einer bloßen Maschine, den so viele Psychasthenische auf den Zustand der Depersonalisation anwenden, findet sich auch in den Guyon’schen Schilderungen der Vergottung. [2]

Wir besitzen andere, ausdrücklich selbstbekenntnishafte Angaben von Mystischen, die so stark an die Schilderungen der Depersonalisierten anklingen, daß man glauben möchte, entweder sie spielten wirklich auf völlig wesensgleiche, sei es auch nur vorübergehende Zustände an, oder aber sie seien zufällig in seltsam irreführenden Ausdrücken abgefaßt.

'Der Herr', schreibt beispielsweise S. Teresa, 'hat mir in diesem Leben gleichsam einen wachenden Traum verliehen, daß es mir fast immer ist, als träumte ich nur von dem, was ich sehe, und ich spüre in mir keine besondere Freude und kein besonderes Leid.

Wird aber in mir etwas derartiges angeregt, so vergeht es so schnell wieder, daß ich mich darüber verwundere; es wirkt in mir auch keine andere Empfindung, als wenn mir sonst etwas träumte.' [3] Oder man höre Mme. Guyon selbst, wenn sie von Zuständen der Gottübergebenheit sagt, sie sei zuweilen gezwungen nachzudenken, um zu wissen, ob sie noch Dasein habe.

Diese Empfindung spitze sich gelegentlich krisenhaft zu, so daß sie weder in himmlischen noch in irdischen Dingen eine Stütze finde und selbst nach wieder eingetretener Ruhe ihr jeder Beistand genommen sei und sie - sowohl nach der Seite Gottes wie der Geschöpfe - wie etwas sei, das nicht ist.

Und anderwärts spricht sie davon, daß sie seit Jahren in einer solchen Trennung des Herzens und Geistes vom Körper lebe, daß dieser handle, als handelte er nicht, 'mit einem vollkommenen Absterben (jeder) Lebhaftigkeit des Gefühls für alle natürlichen Verrichtungen.’ [4]

Um die Zulänglichkeit des Vergleiches zu prüfen, den solche Aussagen immerhin aufdrängen, müssen wir zunächst über das Wesen der psychasthenischen Entpersönlichung einige Klarheit zu erlangen suchen.

Soll man gewissen Kranken selber glauben, so liegt die hauptsächliche Ursache ihrer Absonderlichkeit in einem Mangel an Gefühlen. 'Beim Handeln hatte ich nicht das Gefühl des Wollens,' sagt Prof. Oesterreichs Ka... Das 'Tätigkeitsgefühl' fehle ihm bei allem, was in ihm vorgehe.

Der 'stets vorhandene, stets variierende Gesamtgefühlszustand, der Boden, aus dem die einzelnen Vorstellungen zu entspringen scheinen,' sei geschwunden, und damit das Selbstbewußtsein; denn so klar sein Bewußtsein bleibe, so völlig sei das Selbstbewußtsein aufgehoben. [5]

Diese Selbstanalyse findet die Billigung mehrerer Theoretiker des fraglichen Zustands. Schon Lotze, der offenbar seine typischen Merkmale klar erfaßt hatte, führte ihn auf 'Affektlosigkeit' bei 'vollkommener

[1] Guyon, Torrens p. I ch. IX § 4. 6. 7. 9.
[2] Guyon, Disc. chrét. et spirit. (1717) II 364.
[3] S. Teresa I 416 (c. 41). Vgl. das en rêve, comme une somnambule einer Pat. bei Janet, Obs. I 273.
[4] Vie p. III ch. 6 § 2f. (S. 59f.); vgl. die Aussage der Jeanne-des-Rochers bei Leuret 329f.
[5] JPN VII 261-64; vgl. eine andere Selbstanalyse VIII 61.


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Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 169)

Unversehrtheit der Empfindungen und des Bewußtseins' zurück, [1] und nach Oesterreichs Auffassung fehlt den Depersonalisierten nicht das Ich, sondern das Selbstphänomen, das normale Lebensgefühl. [2] Andere, wie Dr. Loewenfeld, legen auf die Unzulänglichkeit der apperzeptiven Leistungen und die Erschwerung der Reproduktion den Nachdruck, [3] eine Deutung, die der vorigen indessen nicht widerspricht, wenn man bedenkt, welche bedeutsame Rolle jedenfalls Gefühle im Apperzeptionsvorgang spielen.

Wir können also wohl die Selbstanalyse der Kranken durch eine doppelte Feststellung bestätigen. Sicherlich ruht zunächst das erfahrungsmäßige Ich (das der Psychasthenische 'verliert') nicht zum wenigsten auf jener allgemeinen gefühlsbetonten Resonanz des Gesamtorganismus, die bei starken Schwankungen der nervösen Spannung so tiefgreifende Änderungen erleiden kann, daß man sich 'kaum noch selbst erkennt', 'ein Anderer geworden zu sein glaubt’.

Zu solchen Schwankungen des 'Allgemeingefühls" [4] tritt bei den Psychasthenischen aber noch ein 'höher' gelegener Mangel. Jede Willenshandlung im weitesten Sinn ist für die innere Selbstbeobachtung das Ergebnis mannigfacher Vorstellungsbewegungen vom Typ der 'Apperzeption', und bei solchen spielen Gefühle in Verbindung mit motivierenden Vorstellungen sowie Gefühle der Spannung und Lösung, der Erwartung, Erfüllung und Überraschung eine hervorragende Rolle. [5]

An diese Gefühle aber ist das Bewußtsein 'persönlichen' Tuns vor allem gebunden. Je mehr sich gegenüber Schwierigkeiten des HandeIns die Gefühle der Hemmung und Überwindung verstärken, desto mehr meint man 'selbst' die 'Leistung' vollbracht zu haben; wogegen das Gewohnte und Eingeübte gleichsam ichlos, unter meinen Augen, aber ohne 'mein' Eingreifen vor sich geht. [6].

Nun brauchen wir allerdings nicht anzunehmen, daß das Ich-gefühl-lose Handeln der Psychasthenischen immer nur eingeübte Inhalte habe; aus dem gesamten Können und Wissen dieser Kranken erwachsen anscheinend zuweilen auch Leistungen, denen eine gewisse Neuheit eigen ist, wie etwa oben das Schreiben einer Abhandlung.

Aber auch da werden die Gedanken zwar gedacht, nur eben 'sehr dünn', wegen des Mangels an Gefühlen. [7] Selbst im besten Falle also läßt sich sagen, daß das ichlose Tun der Psychasthenischen den alten normalen Menschen darstelle unter Abzug jener synthetischen Krönung, die Janet als 'Wirklichkeitsfunktion' bezeichnete [8] und in eine Reihe von Leistungen zerlegte, die alle die kräftig ichmäßige Erfüllung des tätigen Augenblicks zum Ziel haben und sich

[1] Medizinische Psychologie oder Physiol. d. Seele (Lpz. 185 [2] 251f.
[2] z.B. Oesterreich I 324.
[3] Über traumartige und verwandte Zustände, in ZNP Neue Folge, XX (1909) (539ff. 587ff.) 595f.
[4] Wohl nicht Aufhebung der Zoenästhesie: Oesterreich in JPN VIII 167.
[5] Nach Wundt III 346ff.
[6] Vgl. hierzu allg. Dugas, aaO., RPh XLV 503; Oesterreich in JPN VIII 149ff. 229. 230.
[7] Oesterreich, aaO. 223.
[8] Vgl. die wichtige Analyse der fonction du réel: Janet, Obs. I 477ff., bes. 481.


Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 170)

als Gipfel der synthetischen Rangordnung schon dadurch erweisen, daß sie der Erkrankung als erste zum Opfer fallen.

Eben von hier aus aber erscheint mir der Unterschied - bei aller formalen Ähnlichkeit - von psychasthenischer und mystischer Ichlosigkeit durchschaubar. Die erstere entsteht, wie wir sahen, gleichsam durch Abtragung einer Gipfelschicht bei Erhaltung der tragenden Massen; die andere entsteht - um im gleichen Bilde zu bleiben - durch eine Umgestaltung der tragenden Massen, die zu einem Einsturz der Gipfelschicht führt.

Es erfolgt hier - um auf die Begriffe meiner früheren Darlegungen zurückzugreifen - eine Wucherung des unterbewußten Gebietes, welche die ichmäßige Oberschicht des 'alten Menschen' gleichsam verkümmern und verblassen läßt, indem sie ihr die Führung abnimmt.

Diese Wucherung ist eben eine systematische, d.h. sie gestaltet die außerbewußte Persönlichkeit nach bestimmten Gesichtspunkten, im Sinne fest umrissener Ziele und Ideale um. In ihrem Kampf mit dem 'alten' Ich-Zusammenhang hat sie den Sieg errungen, sobald die einheitliche Durchbildung des Unterbewußten völlig gelungen und die Entkräftung des 'fleischlichen' Ich-Menschen ihren äußersten Grad erreicht hat.

Muß man erwarten, daß dann das bewußte 'Ich' der Erfahrung sich völlig auf das Gebiet jener neu-durchgebildeten Massen hinüberziehen werde? In manchen Fällen mag dies wirklich der Fall sein. Daß es in andern nicht zutrifft, lehren eben die Schriften einiger Heiliger, unter denen die der Guyon die deutlichsten und ergiebigsten sind.

Das Verblassen des bewußten Ich in diesen Fällen wird um so verständlicher, je mehr man sich vergegenwärtigt, wie sehr das Bewußtwerden persönlicher Apperzeption an einen Wettstreit der Antriebe und Vorstellungen gebunden ist und wie sehr die Notwendigkeit solcher Apperzeption sich verringern muß in einer vollkommen in-sich-ausgeglichenen, auf ein einzelnes und enges Ziel eingestellten, gegen die Mehrheit menschlicher Zwecke gleichgültig gewordenen Seele. Dies aber ist ja der Zustand des vollendeten Jenseitigen.

Von andern Tatsachen ausgehend, ist die Lehre von der Spaltungspsychose zu ähnlichen Gedanken gelangt. Jeder übermächtig entwickelte Komplex, lehrt Jung, [1] entzieht allen Vorstellungen, die nicht zu ihm gehören, den vollen Ton; die volle Deutlichkeit bleibt nur mehr den Komplexvorstellungen, alle andern von außen oder innen stammenden Wahrnehmungen unterliegen der Hemmung, werden undeutlich und verlieren an Gefühlston. -

Ist dieser Gedanke richtig, [2] so enthält er aber eine Formel auch für den Vergotteten, der nach unserer Voraussetzung von einem übermächtigen und völlig durchgebildeten Komplex beherrscht wird, neben dem alles übrige - außen und innen - verblaßt; und weil dieser mehr oder minder im Unterbewußtsein verbleibt, handelt der Vergottete gleichsam ohne

[1] Jung, Dementia 100.
[2] Er wird z.B. von Loewenfeld für unzureichend erklärt.


Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 171)

Ich und lebt mit seinem Ich fast wie in einer Traumwelt. - Anders der Erschöpft-Psychasthenische. Dieser ist nicht im Sinn eines überragenden Komplexes neuorganisiert; seine ganze, soz. 'zufällige' Persönlichkeit ist erhalten, seine Vorder- und Hintergründe sind einer Art; aber als Ganzes sind sie kraftlos und schattenhaft geworden.

Der Psychasthenische hat infolge Abtragung der letzten Synthesen nicht einmal den ihm angeborenen und anerzogenen Motivenkomplex 'selbst' in der Hand; der Vergottete ist völlig in der Hand eines neu-durchgebildeten, sein altes Selbst überragenden und ersetzenden Motivenkomplexes.

Hieraus erklärt sich die große Verschiedenheit der Wertgefühle, mit denen jede dieser Gruppen die Selbstbeobachtung ihres Zustandes begleitet. Von den Psychasthenischen kann man fast ohne Ausnahme behaupten, daß sie unter dem Verlust ihres Ich schwer leiden. Es ist sehr selten, daß auch nur der gefühllose Abstand von der Wirklichkeit angenehm empfunden wird. [1] Daß die Unfähigkeit, das Ich in ihr tätig zu empfinden, genossen würde, glaube ich nirgends gelesen zu haben.

Einen 'gräßlichen Zustand' nennt es der eine, in welchem alles rein 'mechanisch' geschieht. [2] Claire ist 'verzweifelt' darüber, daß sie wie eine Maschine handelt, und kann sich nicht dabei beruhigen. [3] Ein anderer macht 'peinliche Anstrengungen, um jemand zu bleiben' und nicht zur 'Maschine' zu werden. [4]

Andere erleben ein 'wahnsinniges Entsetzen', wenn mit dem seelischen Abstand jene Fremdheit der Wirklichkeit eintritt. [5] In diesen angstvoll-krisenhaften Zuspitzungen des Ich-Verlustes, da 'kein Körnchen Wille' mehr verbleibt, kommt sich Dob... 'wie ein herrenloses Ding vor, das von den Fluten umhergeschleudert wird; ich verliere den Kopf, weil ich fühle, daß ich mich gar nicht mehr in der Gewalt habe.' [6]

Eine andere Kranke meint, dieser Zustand sei 'von allen der ärgste, (sein Nachlassen) eine Erlösung'. [7] Selbst wenn die Leistung eine sachlich zufriedenstellende war, hinterläßt sie eine tiefe Unbefriedigung oder ein Gefühl, man habe Komödie gespielt, sei falsch gewesen, weil man im Sinne von Gefühlen gehandelt hat, die sich doch im Bewußtsein nicht deutlich ausprägten.

'Mir scheint,' sagt eine Kranke geradezu, 'eine solche Art des Handelns ist unmoralisch.' [8] Endlich aber plagt diese Kranken die Angst, weil sie sich ihrer Handlungen nicht sicher fühlen. 'Warum sollte ich mich nicht in Gegenwart Fremder zu groben Sittenverstößen hinreißen lassen, da ich mich doch nicht in der Gewalt habe?' [9]

Kurz die Entpersönlichten sind auf die Zurückerlangung ihrer persönlichen Freiheit und ihres handelnden Selbst geradezu versessen; sie betrachten sich als Kranke, die des Arztes bedürfen. [10]

Ganz anders die Vergotteten. Sie empfinden ihren Zustand nicht als Zerstörung, sondern als Vollendung ihrer Persönlichkeit; den Quellherd Ihrer Automatismen nicht als eine feindliche Macht - den 'Teufel' nennt sie eine Kranke Janets -, sondern als ihr eigenes innerstes Ich, ihnen

[1] s. z.B. Oesterreichs Subjekt Ti..., ]PN VIII 67.
[2] Ball in RS 1882 II 43; ähnlich Oesterreichs Ka. .. JPN VIII 63.
[3] Janet, Obs. I 273.
[4] Das.
[5] B. Leroy, RPh XLVI 158.
[6] Janet, aaO. 233.
[7] Loewenfeld in ZNP XX 545.
[8] Janet, aaO. 275 ff.
[9] Das. 273. [10] Dugas, aaO. 507; Janet, aaO. 688ff.


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Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 172)

'näher als sie selbst'. Sie wissen ihr Außerbewußtes im Einklang mit den Idealen, die zuvor ihr bewußtes Mühen beherrschten. Bei der Alleinherrschaft ihres 'wahren Ich' angelangt, sind sie nunmehr im Frieden.

Mme. Guyon nennt das ichlose Leben das 'vollkommene Leben', in welchem die Seele vollkommen ist in Gottes Vollkommenheit, reich in seinem Reichtum. Alle ihre Tugenden erlangt sie wieder - in Gott. Gott handelt in ihr, ohne daß sie es weiß...

Aber sie lebt zufrieden und in Frieden, indem sie behende und unerschütterlich tut, was man sie tun heißt. Ja ihr Friede ist so unwandelbar, daß nichts in der Welt noch in der Hölle ihn einen Augenblick zu trüben vermöchte. 'Ich kann', sagt sie, 'keine Rechenschaft ablegen von meinem Tun, denn ich habe kein Tun, und doch handle ich auf unfehlbare Weise, indem ich kein anderes Prinzip des HandeIns habe, als das unfehlbare Prinzip.'

Alles, was ihre Pflicht ist, Handeln oder Reden, fällt ihr leicht, nicht mehr nach ihrer Weise, aber nach der Weise Gottes:. .. alles nach dem belebenden Prinzip, das sie erfüllt. Sie empfindet sich also jetzt erst als wahrhaft frei. Sie tut alles, 'dieselben Handlungen', die sie früher vor 'allen ihren (Ich-)Verlusten' tat, und tut es ohne jede Schwierigkeit; aber sie tut es in Gott. [1]

'Ich hatte', sagt die hl. Katharina von Genua von einer Phase kurz vor dem völligen Erlöschen des Ich, aber mit Worten, die sehr schön auch den Endzustand bezeichnen, 'ich hatte die Schlüssel des Hauses an die Liebe abgegeben mit der Vollmacht, alles zu tun, was nötig wäre, und keine Rücksicht auf die Seele, auf den Leib, auf die Habschaft, auf die Verwandten, auf die Freunde, auf die Welt zu nehmen; von alledem aber, was das Gesetz der reinen Liebe fordern würde, sollte nicht das mindeste fehlen.

Und als ich sah, daß diese Liebe die Sorge annahm und sie ins Werk setzte, da wendete ich mich zu ihr und blieb unerschütterlich in Beobachtung und Beschauung ihrer notwendigen und gnadenvollen Wirkungen, die sie mit solcher Liebe, Sorgfalt und Gerechtigkeit vollführte, daß sie zur vollen Befriedigung des innern und äußern Teiles (meiner Persönlichkeit) weder mehr noch weniger tat, als eben notwendig war.' [2]

Aber der Unterschied der zu vergleichenden Zustände spricht sich nicht nur in der Art, wie er sich 'anfühlt',aus. Man gewinnt den Eindruck, als werde von den Vergotteten auch sachlich viel mehr geleistet, als von den Psychasthenikern. Diese haben vor allem Handeln Furcht, und es gelingt ihnen häufig nur dann, eine Handlung zu Ende zu führen, wenn ihr Gegenstand ein rein imaginärer ist. [3] -

Der Vergottete greift jede Arbeit an, die seiner ganzen Lebensrichtung nach pflichtmäßig geboten ist, und der gegebenen Aufgabe gegenüber, sofern sie die Triebkräfte seines beherrschenden Komplexes angeht, kommt ihm sofort die Leistungsfähigkeit. Mme. Guyon berichtet, daß selbst in Zeiten größter Schwäche und schwerster Krankheit ihr stets 'auf Zeit' die Kraft zu schreiben kam, wenn solches 'nötig war'.

Alles, was ihr Pflicht ist, 'falle der Seele leicht.' Aber ein letzter und, wie mir scheint, ausschlaggebender Unterschied ist noch zu erwähnen. Die Erfahrungen der Depersonalisation gehören

[1] Torrens I,9,3.4.9; II, I, I; 2, 3; vgl. Vie I 270; oben Kap. IV S.40; Kap. X S.112 f.
[2] Lechner 208 (Marabotto c. 41). Das ganze Kap. ist wichtig.
[3] Janet, Obs. I 434f.
[4] Vie II 133; Torrens I, 9, 16.


Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 173)

der Höhe des psychasthenischen Krankheitsbildes an. Wir haben sie gesondert betrachtet, aber in der Wirklichkeit bilden sie einen Teil jenes Zustandes, der sich, außer durch sie, auch noch durch quälende Zwangsgedanken, Angstanfälle und alle Leiden der Dürre kennzeichnet.

Nun fällt ja aber die Vergottung nicht in die Dürre; sie bezeichnet vielmehr ihren Abschluß. Sie wird als das Ende der mystischen Leiden herbeigesehnt und empfunden, als der Hafen nach allen Stürmen und der Friede nach allem Streit.

Was sie demnach auch sein mag, sie ist jedenfalls nicht gleichbedeutend mit jenem oft krisenhaften Verlust des Ich und der Außenwelt, der den Höhepunkt psychasthenischer Qualen bildet und dem gegenüber die Mühen persönlicher Verantwortlichkeit als das gelobte Land erscheinen.

Zu den mannigfachen theoretischen Einzelunterscheidungen, die ich zwischen scheinbar psychasthenischen Merkmalen des Mystikers und wirklichen Symptomen der Erschöpfungsneurose aufgestellt habe, tritt nun aber noch eine allgemeine Unterschiedlichkeit von Wesen und Charakter der Erweckten einerseits, der Erschöpfungsneurotiker anderseits, die ihre Vermengung in der Mehrzahl der Fälle völlig sinnlos erscheinen läßt.

Wir dürfen nicht übersehen, daß die Abtötung und Entselbstung des Mystikers immer nur die Gebiete betrifft, welche er selbst als die 'niedern' wertet, daß sie aber nicht nur Raum läßt, sondern meist geradezu die Vorbedingung bildet für eine Glut und Leidenschaftlichkeit anderer Ich-Gebiete, auf denen sie dem Profanen völlig fremd ist.

Daß die Liebeskraft des Erweckten meist den denkbar schärfsten Gegensatz bildet zu jener Verkümmerung der Liebesregungen überhaupt, die für das traumhaft eingekapselte Ich des Psychasthenischen fast immer kennzeichnend ist und ihn in seinen Augen zum 'schoflen Egoisten' macht, [1] braucht nach früher Gesagtem nicht erst ausgeführt zu werden.

Der 'apostolische' Drang ferner, die eigene Erfahrung auch Andern zugänglich zu machen, sowie der allgemeine Liebesdienst an den Menschen haben oft zu Lebensführungen von geradezu heldenhafter Kraftanspannung unter maßlosen Entbehrungen geführt, [2] denen dann auch stets eine überwältigende Wirkung auf die Menschen entsprach, wie sie nie von Schwächlingen, sondern nur von Höchstgespannten ausgehen kann. [3]

Kennt der Mystiker auch keinen Ich-entsprungenen Ärger und Haß, so entwickelt er doch mitunter dem Bösen gegenüber jenen 'heiligen Zorn', den schon die biblische Legende im vergötterten Urbild abendländischer Heiligkeit nicht missen mochte. [4]

[1] Vgl. Oesterreich, JPN VII 261. 274. 276; VIII 67f. 70. 88. 147. 157.
[2]) Ich verweise auf S. Vincent Ferrer, S. Franz. Xaver u. viele a.; s. auch Chasle 290. 293. 323. 359.
[3] S. z.B. über Ann Lee bei Wells 45. u. v. a.
[4] Vgl. z.B. Wesley, Short account 41ff.; Seed 48. 78; Bacci I 242; D. Greenwell, Lacordaire (Edinb. 1867) 21; auch über den sanften Shelley in E. Dowdens Life II 348.


Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 174)

Es wäre überhaupt ein Leichtes, ekstatische Heilige als hervorstechende Vertreter heldischen und ritterlichen Wesens darzustellen. [1] Mut und Draufgängerei sind geradezu typische Züge ihres innern und äußern Verhaltens; denn eine starke Unmittelbarkeit des Erlebens trägt sie empor; die Konventionalität des Durchschnitts ist vor der Wahrhaftigkeit, dem Ernst, der Echtheit ihres Innern zerstoben. [2]

In diesem heiligen Ernst ist der Erweckte zur völligen Einheit mit sich selbst gelangt [3] und damit zu einer unerschütterlichen Ruhe und Sicherheit, die sich auch äußerlich den größten Gefahren, Mühen und Leiden gegenüber unbedingt bewährt. [4]

Um nicht ganz in abstrakten Behauptungen steckenzubleiben, stelle ich wenigstens zwei flüchtige Bilder hierher.

In der Beschreibung, die von der bekannten Antoinette Bourignon M. de Gort entwirft, der lange und vertraut mit ihr verkehrte, erscheint sie als eine unnahbar in sich ruhende, schneidend bestimmte, furchtlos eindeutige Seele, und doch eine Gottliebende der mystischen Art.

'Gleich einem starken Weibe, so ihr Vertrauen in Gott allein setzt, antwortete sie uns ohne Zagen und machte zur Genüge offenbar, daß sie weder unsere Freundschaft, noch Gesellschaft, noch etwa gar unsere Billigung erstrebe, sattsam bezeugend, daß sie nichts Irdisches suche und nichts außer Gott fürchte...

Ihr Geist war fest und beständig, jederzeit sich selbst gegenwärtig, und wir fanden sie nie schwärmerisch [5] oder verwirrt... Sie sprach sehr wenig, ohne gefragt zu sein, beantwortete unsere Fragen aber so schlagend, daß wir oft nichts zu erwidern fanden... Verachtung nahm sie ohne Verlegenheit oder Verdruß, Lobpreisung ohne Wohlgefallen auf...

Wir sahen sie stets fröhlichen Angesichts, aber niemals Ergötzen suchend in irgend etwas Irdischem... Nie bemerkten wir in ihr irgendwelches Laster, Sünde oder Schwäche des Geistes, sondern eine vollkommene und echte Tugend. Ihre Lebensführung war geradezu wunderbar. ..

Dies sage ich nicht leichtfertig, sondern nach vielerlei Beweisen und Erfahrungen, ... nachdem ich Tag und Nacht mit ihr unterwegs gewesen, in guten und bösen Tagen, in Dürftigkeit und Überfluß.' [6?]

Sogar die Mannhaftigkeit und Selbstzucht des Kriegers hat sich oft genug geschwisterlich mit mystischem Leben zusammengefunden. Oberst Gardiner ist bekannt und seine innere Geschichte bereits gestreift worden.

Weniger bekannt als Vertreter derselben Gattung ist der Marquis de Renty (1611,-48), ein Frommer nicht nur, der selbst nachts seine Stunden betete, zweimal des Tags sein Inneres

[1] s. z.B. die Briefe S. Cater. Sien. an d. Grafen Salimbene u. an Steph. Maconi (Drane II 57. 223; auch ihren 100. u. 101. Brief!); Görres I 323, II 363 üb. Franco di Grotti u. S. Rainer v. Pisa; Vacandard I 3f. 28f.; u.v.a.
[2] Vgl. die fanatische Ehrlichkeit der Quäker (z.B. Th. Elwood bei James, Varieties 294; Fox, Lebensbeschreibung 3. 293f.); gegenüber dem Scheinwesen der Kirchen: Fox, aaO. 29; ferner Vaughan II 47. 52; Grass 338; de Gort 14; Ethé, Morgenl. Stud. 116 (Sadt); Abu Said Abul Cheir bei Tholuck 33.
[3] Vgl. Plotin, Ennead. VI, 9, I (übs. v. H. F. Müller [Berl. 1878] 437); Ruysbroeck 56 ('Einheit des Herzens' 'aus der Glut' der 'innern Ankunft Gottes'); Pfizmaier 47 [133]; Chasle S. XXI; buddhistisch: Beckh II 23. 130.
[4] z.B. in Lebens- und Feuersgefahr: Guyon, Vie I 134f. (vgl. 107); die mähr. Missionare in Southeys Life of Wesley 66; Chapot II 103; Evans, Shakers 36 (versuchte Steinigung d. Ann Lee); Oman, The Mystics ... of India 101. Ein kompaktes Beispiel solcher Stoik ist Gregor Lopez' Leben, bearb. u.a. in Tersteegens Lebensbeschr. heil. Seelen I 3ff.
[5] wandering.
[6] De Gort, Vorrede S. XLIXff.


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Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 175)

durchforschte, zweimal in der Woche zur Beichte ging, die Armen und Gefangenen besuchte und belehrte, gegen weltliche Güter, wiewohl reichlich damit gesegnet, eine wahre innere Gleichgültigkeit besaß und gegen jedermann von tiefster, ungemachter Demut war, sondern auch ein Mystiker, vermöge des 'göttlichen Lichtes', das ihm 'ohne Nachforschung oder Anstrengung' [1] seine Schwächen vor die Augen führte, und vermöge des fond de la paix, der ihm 'eine so innerliche Erfahrung des ewigen Lebens' gab, daß er sich darüber nicht weiter erklären zu können behauptete.

In der religiösen Unterredung wurden ihm (wie Mme. Guyon) die Worte einzeln in den Mund gelegt. Die innere 'Gegenwart Gottes' war seine ständige Erfahrung; aber in ununterbrochenem recueillement handelte er nur um so mehr, doch ohne eigenen 'Anteil’ denn unser Herr tut alles (dabei)'.

In allem Tun erhielt er Gottes 'ausdrücklichen Befehl' durch 'Erleuchtung des Verstandes oder Beeindruckung des Willens'; [2] 'er (war gleichsam) zunichte geworden und handelte nur noch in Christo'. -

Nun wohl, der Mann, dessen Mystik man hiernach einschätzen mag, war Offizier, Gatte und Vater von fünf Kindern, und nach Angaben seines Biographen ein Mann von 'starkem und stämmigem Körper und lebhaftem, hochherzigem und entschlossenem Geist', der keine Gefahr fürchtete, begabt und äußerst kenntnisreich, seiner eigenen Schreibweise nach ein scharfer, überlegener, durchgebildeter Kopf.

Nichts erschütterte je sein innerliches Gleichgewicht. Nie war er zerstreut, nichts tat er obenhin, kein Wort redete er, das nicht nötig war. Kein Ding der Welt erregte seine Bewunderung, nie verweilte er in Gesellschaft, die ihm oder der er nicht von Nutzen war.

Nie war er in Hast, niemals laut, in Angelegenheiten hellsehend oder überlegsam, aber nie verrannt, und Gründen jederzeit zugänglich; in der Ausführung einmal gefaßter Entschlüsse rasch, bestimmt und ausdauernd, in Angelegenheiten Gottes vollends unerschütterlich.

Mißlingen brachte ihn nie aus der Ruhe, Widerstand überwand er durch schweigende Entschlossenheit. Bei alledem war er nicht sauer oder überspannt; vielmehr leutselig, liebreich, herzlich und wohltätig. [3]

Diese flüchtigen Umrißzeichnungen ließen sich leicht sehr bereichern. Sie widerlegen (falls diese Widerlegung nottut) die Vermutung einer Zusammengehörigkeit von mystischer Religiosität mit jener Knochenlosigkeit, die den Psychasthenischen auszeichnet. Man möchte den Mystikern gegenüber geradezu, den scheinbaren Widerspruch nicht scheuend, von einem Individualismus der Entselbsteten reden.

Die negativen Bestimmungen - 'Selbst'losigkeit, Demut, Hingabe - decken offenbar nicht das ganze Bild. Daß er das Göttliche 'nicht nur erlerne, sondern auch erleide', [4] erfüllt den Mystiker mit einer seltsamen Art des Stolzes, der sich zumal in Augenblicken der 'Gottbesessenheit' zu einem wahren Rausch der Selbstbejahung steigern kann. 'Lob mir', anstatt 'Lob Gott', kann dann ein solcher Narr in Gott ausrufen. 'Ich bin ein Meer ohne Grund,

[1] Non par recherche, ni par étude.
[2] Par lumière en l'entendement, ou par impression en la volonté.
[3] (Jean-Bapt. de Saint-Lure,) Le chrétien réel ou la vie du Marquis de Renty . .. (Cologne 1701) 62. 279-313. - Vgl. etwa noch Dixon II 101 (üb. d. Methodisten Abr. C. Smith) Davenport 144ff. 168f. 174 (üb. J. Wesley).
[4] ......  Dionys. Areopag. über seinen Lehrer Hierotheos.


Kap XVI. Vergottung und Psychasthenie.         (S. 176)

ohne Anfang, ohne Ende. Ich bin der Thron Gottes. Ich bin die Gesetzestafel. Ich bin der Griffel Gottes. .. Wie lange, mein Gott, soll ich zwischen der Ichheit und Duheit schweben? Nimm beide weg, damit ich nichts werde:... Ichheit ist Götzendienst.' [1] -

Solchen Stolz in der Nachbarschaft solcher Demut zu begreifen, ist ein Problem, das natürlich nur durch Unterscheidung lösbar ist: der Demut des 'niederen' vor dem 'höheren' Ich. Denn indem der Fromme sich aufgab, fand er ja erst sich selbst - 'in Gott'.

Wer das Geschöpf verläßt, verläßt nicht sich,
er findet wieder das verlorne Ich,

singt von ihm Sadt, der Dichter des Gulistän. [2]

[1] Abu Jazid Bistami, bei Kremer 77; Tholuck, Sufismus 65. Dem Sufi war Gott 'der Freund'; vgl. die westlichen 'Gottesfreunde': 'Wir sind, wie Christus, ewiges Leben und Weisheit, gezeugt mit ihm vom Vater in der göttlichen Natur...' (Nach Ruysbroeck bei Auger 152). Vgl. Vivekananda über Ramakrishna (58).
[2] VgI. Drane I 367. Über Selbsterhöhung in d. Selbsterniedrigung s. Horwicz, Psychol. Analysen 342f. und Starbuck 129.

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