Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap X. Komplexpsychologie der Vergottung.     (S. 110)

Ein andres Symptom, das manchen Bekehrungskrisen seine Färbung leiht, aber ebensowohl im Laufe des erweckten Lebens auftritt, mag zur Betrachtung des letzteren im Lichte unseres augenblicklichen Grundbegriffes überleiten: ich meine das oben geschilderte Gefühl der


Kap X. Komplexpsychologie der Vergottung.     (S. 111)

'Gegenwart Gottes'. Daß auch diese Erfahrung mit dem Lebendigwerden eines außerbewußten, automatistisch-somnambulen Komplexes im Zusammenhang stehe, scheint durch mehrere Umstände angedeutet zu werden. Zunächst durch die Art ihrer Auslösung, die oft mit der mehrfach beschriebenen Entspannung des Wach-Ich durchaus gleichartig ist.

Einer z.B. erlebt die Gegenwart Gottes am Seegestade, wo die gleichmäßig heranrollenden Wogen eine soz. hypnoidisierende Wirkung auf ihn auszuüben scheinen; Andere nach langem allgemeinem Schweigen. Wieder Andere lassen ähnliche Erfahrungen durch 'einen grauen Herbsttag', das Verweilen am einsamen Strande eines Sees, im Walde, auf dem Meere, unter den Sternen, durch Bücherlesen, durch Musik oder Gebet ausgelöst werden. [1] -

Die Leerung des Bewußtseins entbindet dann aber zugleich, was der seelische Hintergrund an gebundenem Leistungsdrang enthält, gelenkt von der Not - also Anregung - der Stunde; und in dieser Verkoppelung des Gottesnähe-Erlebnisses mit automatischer Leistung könnte man einen zweiten Hinweis auf seine Verwurzelung in der somnambulen Tiefe finden.

Eine schüchterne Frau, Mrs. Normand Smith in Hartford, soll in der Abwesenheit ihres Gatten mit Hausgesinde und Lehrlingen die übliche Andachtsstunde halten und erkämpft sich während des Tages zuvor in hartem Betkampf den Willenssieg dazu. 'Während der Morgenandacht,' schreibt sie, 'brauchte ich bloß meinen Mund zu öffnen, und Gott füllte ihn.

Das Zimmer und selbst das Haus schien so von Gott erfüllt zu sein, daß mir die Gewißheit kam, Gott wolle an der Familie arbeiten.' Ein Geistlicher wird geladen, mehrere der Lehrlinge bekehren sich, eine Erweckung nimmt ihren Anfang. [2] - Das Beten in Gegenwart Anderer, vor dem sich das Ich der Frau N. S. in Furcht verkroch, tritt wie im Schlafwandel, aller Hemmungen ledig, hervor, und gleichzeitig das Bewußtsein der 'Nähe Gottes'. [3]

Eine Bestätigung findet diese Deutung auch darin, daß das mit der Bekehrung so häufig einsetzende Leben der 'Führung' durch innere Regungen und Stimmen mitunter ausdrücklich als ein dauerndes inneres Einwohnen Gottes, im Sinne der Nähe eines 'Andern', als ständige göttliche Gegenwart beschrieben wird.

Ein unerwartet Bekehrter hat 'seitdem beständig das Gefühl, daß er niemals allein' sei, sondern von einer Macht geführt werde, die nicht er selbst ist. Was diese Macht sei, weiß er nicht, deutet sie aber als den Heiligen Geist. [4] 

Noch deutlicher auf bestimmt formulierte Automatismen – anscheinend Pseudohalluzinationen leichten Grades - geht folgende Beschreibung eines 49jäh;rigen Mannes:

[1] s. G. A. Coe, The religion of a mature mind 237-9; Pratt 247.274. Fast 70% von Becks Korrespondenten fühlten die Anwesenheit einer höheren Macht während des Gebetsaktes. F. 0, Beck in AJPR 11.
[2] Patton 335f.
[3] Vgl. bei Baxter (0. S. 87) das Zusammen von automatischer Rede und Gegenwart-Gottes-Gefühl.
[4] Pratt 251; Labis 71.


Kap X. Komplexpsychologie der Vergottung.     (S. 112)

'Gott ist mir wirklicher, als irgendein Gedanke oder Ding oder Mensch. Ich fühle seine Gegenwart auf das bestimmteste,. .. ich spreche zu ihm, wie zu einem Gefährten, in Gebet und Lobpreisung...

Und immer wieder antwortet er mir, oft in so deutlich gesprochenen Worten, daß es mir vorkommt, mein äußeres Ohr müsse den Ton mir zugeführt haben; meist aber in starken geistigen Eindrücken.' [1]

Es ist demnach sehr bezeichnend, wenn eine Religiöse die Erfahrung der Gegenwart Gottes zwar 'so bestimmt, wie das Bewußtsein der Berührung eines äußeren Gegenstandes' nennt, aber hinzufügt, 'die Empfindung scheine soz. von innen, anstatt von außen zu kommen'.

Daß ihr dabei 'jene Persönlichkeit deutlich von (ihr selbst) unterschieden schien, oder von irgendwelchem abgetrennten Teil oder Schicht von (ihr)', beweist natürlich nicht, daß dem wirklich so war; so wenig als die von ihr als Beweis dafür angeführte Tatsache, daß 'die andre Persönlichkeit zu ihr sprechen konnte, in deutlich geformten, wennschon tonlosen Worten'. [2]

Weshalb die fragliche Erfahrung anscheinend nicht allen Bekehrten und stets zu eigen ist, weshalb sie nicht immer von allen denen beschrieben wird, die das automatische Leben der 'Führung' an sich erfahren haben, das sind nicht leicht zu beantwortende Fragen, die auf die Mitwirkung von Nebenumständen hindeuten, welche schwer zu beobachten, dem Hauptmoment der Deutung gegenüber aber auch unwichtig sein mögen.

Im allgemeinen wird zu vermuten sein, daß es ein besonderes Größen-, oder wenn man lieber will: Kräfteverhältnis der beteiligten Bewußtseinsschichten sei, was im gegebenen Fall aus der Gesamtlage die Empfindung einer gewaltigen 'Nähe' entspringen läßt.

Diese Empfindung wird nicht entstehen können, solange die eine oder andere der seelischen Phasen soz. die Alleinherrschaft innehat, d. h. weder im Zustande kräftigen und ungestörten Wachbewußtseins, noch während des voll in Gang gebrachten Ablaufes eines ekstatischen Automatismus.

Sie wird dem Zwischenzustande angehören, darin von persönlichem Bewußtsein genug erhalten ist, um ein seelisches 'Ander' und Gegenüber aufzufassen, und genügend Unterschwelliges sich regt, um eine beträchtliche Außenmacht fühlbar zu machen.

Im kleinsten Maßstab erlebt ja ein jeder dies z.B. im Augenblick halberfolgreichen Sichbesinnens auf eine bestimmte Vorstellung: nämlich während diese bereits soweit gehoben ist, daß man ihre 'Nähe' empfindet, sie 'auf der Zunge' glaubt, ohne ihr doch einen Namen geben zu können. -

Im Lichte alles Vorausgegangenen fügt sich nun auch die abschließende Stufe der geistlichen Entwicklung zunächst willig den Grundbegriffen dieser Komplexpsychologie. Die Vergottung als der Endzustand dieser Entwicklung, die das Selbst auf Kosten 'Gottes' ständig verringert, erscheint uns jetzt als der Zustand der größtmöglichen Herrschaft, wenn nicht geradezu der Alleinherrschaft des erwecklichen Komplexes. - Eine

[1] Aus Starbucks Sammlung bei James, Varieties 70f. Vgl. die feine Beschreibung seitens eines Gelehrten das. 64f.
[2] Pratt 256f.


Kap X. Komplexpsychologie der Vergottung.     (S. 113)

theoretische Folgerung nun legt sich hier nahe, deren Beobachtung in der Wirklichkeit die ganze vorgetragene Anschauung bedeutsam stützen würde. Bedeutet nämlich die Vergottung den Zustand größter 'Nähe' oder geradezu völligen Eingeschmolzenseins des Komplexes, so müßten mit ihrem Eintritt jene Erlebnisse aufhören, die eben aus verstärkter Erhebung, Erregung oder Äußerung des vergleichsweise noch abliegenden Komplexes entstanden: sowohl Ekstase wie Automatismen müßten mit der Vergottung ihr natürliches Ende finden (wobei dies gemeinsame Aufhören eine weitere Bestätigung ihrer Wesensverwandtschaft abgeben würde).

Die Vergottung könnte gewissermaßen als dauernde Ekstase, das Handeln des Vergotteten als beständiger Automatismus gedeutet werden.

Es ist sicherlich bemerkenswert, daß diese einleuchtenden Schlußfolgerungen aus der Theorie von erfahrenen Ekstatikern mehrfach als Tatsachen der Beobachtung berichtet werden.

Schon Ruysbroeck deutete sie verständlich genug an, wenn er für die abschließenden Zustände des mystischen Weges 'Offenbarungen' und 'Entrückungen über die Sinne' als unnötig bezeichnete, weil das Leben solcher Menschen, 'ihre Wohnung, ihr Wandel und ihr Wesen im Geiste' sei; [1] kaum weniger deutlich S. Teresa, wenn sie von der siebenten, innersten 'Wohnung' der 'Seelenburg' sagte, sie fände es verwunderlich, 'daß bei der Seele, wenn sie bis hierher gelangt ist, alle Verzückungen aufhören'. [2] - Aber die schärfsten und feinsten Fassungen des Tatbestandes sind auch hier Mme. Guyon zu verdanken.

Von dem Zustande nach dem mystischen Tode, in welchem Gott für den Menschen das Leben seines Lebens und die Seele seiner Seele sei, sagt sie, daß die Seele darin Gott nicht 'fühle oder wahrnehme', (wie sie es zuvor ja in den ekstatischen Vereinigungen getan,) 'infolge seiner Einheit mit ihr und Innerlichkeit'. [3]

'Alle Vertiefungen [4] (in Gott) gehörten diesem 'Grade' nicht mehr an, 'denn hier kann Gott nicht geschmeckt, gefühlt, gesehen werden, da er mehr wir selbst ist, als wir selbst, (und) nicht (mehr) unterschieden von uns'.

'Jenes gewisse Etwas, welches (die Seele) vormals einnahm, ohne sie einzunehmen, ist ihr genommen, [5] d. h. - so erläutern wir nunmehr mit Sicherheit - sie fühlt es nicht mehr, weil es ihr nicht länger als Ich-fremd gegenübersteht, sondern das Element ihres Ich geworden ist.

Oder, wie Mme. Guyon es gelegentlich ausdrückt (und der Ausdruck müßte den Psychologen entzücken): die Seele habe 'kein Inneres mehr'. [6] Natürlich, fügen wir hinzu, da sie ganz 'Inneres' geworden ist. Sofern aber bei Ekstase an jene geistlichen Liebesräusche gedacht wird, in denen die Gleichung 'Gott ist die Liebe' soz. unmittelbar erlebt wurde, ist es auch nur ein anderer Ausdruck für das Aufhören der Ekstasen bei dem Vergotteten, wenn von ihm gesagt wird, daß er aufhöre, (Gott) zu lieben: seine Seele - so faßt es geistvoll Mme. Guyon - ist in den Gegenstand ihrer Liebe verwandelt, und dies bewirkt, daß sie nicht mehr daran denkt, zu lieben; denn sie liebt Gott mit einer Liebe,

[1] Ruysbroeck 87.
[2] S. Teresa IV 212f. (Mor. 7 c. 3). Sie fügt allerdings hinzu: sino es alguna vez.
[3] intimité.
[4] enfoncemens.
[5] Opusc. 234f. (Torrens I, 9. 11, 12); 233 (das. § 10). Vgl. Vie I 271.
[6] Opusc. 232. 235 (Togens I, 9, 8. 12).


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Kap X. Komplexpsychologie der Vergottung.     (S. 114)

die selbst Gott ist und ihren (eigentlichen) Zustand ausmacht.' [1] - Dies wäre im Grunde dasselbe, was S. Teresa so ausdrückt: 'Die Begierden dieser Seelen zielen nicht mehr dahin, daß sie Trost und Süßigkeiten auf irgendeine Weise verlangen, weil sie den Herrn selbst bei sich haben und weil nun seine Majestät in ihnen lebt'. [2]

Ja Mme. Guyon findet auch den Ausdruck für diese Tatsache, der schon oben als theoretisch strengste Begründung für ein ferneres Ausbleiben der Ekstase sich uns aufdrängte: 'Hier' - in der Vergottung - 'besteht die Ekstase fortwährend, und nicht auf Stunden.' [3]

Auch was das wesensverwandte Aufhören des Automatismus im Zustande der Vergottung betrifft, können wir uns den scharfsinnigen Beobachtungen der Guyon anvertrauen.

Sehr deutlich stellt sie einander gegenüber die Zeit des beginnenden inneren Lebens, da der Bekehrte von einer Macht in ihm geführt wird, und diejenige des mehr oder weniger vollendeten, da jene Macht, der er sich unterwerfen mußte, er selbst geworden ist, so daß ein wesentlicher Gegensatz und Widerstand nicht mehr besteht. 'Ich hatte’, sagt sie, 'wohl gefühlt in den Zeiten, die meinen Leiden (der Dürre) [4] vorangingen, daß ein Mächtigerer als ich mich leitete und handeln ließ.

Ich hatte damals, scheint mir, einen (eigenen) Willen nur, um mich zustimmend allem zu unterwerfen, was er in mir und durch mich tat; aber jetzt war es nicht mehr so: ich fand keinen Willen mehr, der hätte unterworfen werden müssen; er war wie verschwunden, oder richtiger: in einen andern Willen übergegangen. Mir scheint, daß jener Mächtige und Starke dann alles tat, was ihm gefiel, und nicht mehr fand ich jene Seele, die er ehedem ... führte.' [5]

'Sie fragen die (vergottete) Seele, was sie veranlasse, so oder so zu handeln? Ob Gott es ihr gesagt habe, es sie habe erkennen oder vernehmen lassen, was er wolle? Ich erkenne nichts’, erwidert sie, 'ich vernehme nichts;... der Wille Gottes ist alles und ich weiß nicht mehr, was Wille Gottes ist; weil der Wille Gottes mir zur Natur geworden ist.’ [6] 'Ich (kann) nicht einmal irgendwelche Handlung ausführen; weil mir die Sache völlig in mir (schon) geleistet erscheint.

Da gibt es nicht mehr Unterwerfung oder Ergebung, sondern Einheit meines Willens mit dem deinen, 0 mein Gott.' [7] - Man könnte kaum noch deutlicher aussprechen, daß dem Vergotteten der innere Zug, in dem er Gottes Willen erkennt, nicht mehr ein hereinbrechender Fremdantrieb ist, dem das eigene Überlegen und Wollen sich unterordnet oder entzieht; sondern daß sich der Vergottete nunmehr mit diesem Ganzen der Antriebe identisch fühlt, denen er nichts Eigenes mehr entgegenzustellen hat. [8]

Hinter der anscheinenden Klarheit dieser theoretischen Folgerungen verbirgt sich indes noch eine zu lösende Frage. Wenn wirklich der vorherige Automatismus zum Ich des Vergotteten geworden ist, wenn also wirklich 'alles Gott und Wille Gottes' und der Wille Gottes 'Natur' geworden ist, der zuvor eine Führung von außerhalb des Ich war - warum

[1] Das. 259 (Torr. II, 2, 12}: car elle aime Dieu d'un amour Dieu et par état!
[2] S. Teresa IV 210 (Mor. 7 c. 3).
[3] Guyon, Opusc. 248 (Torr. II, 1, 7).
[4] Über die 'Dürre', welche den einen Zustand in den andem überleitet, s. u. K. XIV.
[5] Vie I 270f.
[6] Opusc. 256 (Torr. II, 2, 7). Vgl. S. Jean II 79; Ruysbroeck 75.
[7] Vie I 179f.; II 132.
[8] Opusc. 236. 250. 232. Ähnl. Selbstbekenntnisse bei Lechner 187.


Kap X. Komplexpsychologie der Vergottung.     (S. 115)

empfindet der Vergottete jetzt nicht wieder sich 'selber' handelnd, bloß eben in einem neuen Ich, nämlich einem 'gottgleichen'; in dem Ich, das vordem ihn führte und mit dem er jetzt zur Einheit verschmolzen ist? Oder warum - falls man dem früheren Automatismus die seelische Qualität und das Bewußtsein absprechen wollte - warum wird der Vergottete nicht zum bewußtlosen Automaten und hört als Ich zu bestehen auf?

Wir können diese Schwierigkeit nur beheben, indem wir anerkennen, daß die neue Einheitlichkeit der 'vergotteten' Seele keine völlige ist, daß die mystischen Begriffsbestimmungen der Vergottung in gewissen Grenzen also eine Übertreibung enthalten. [1] 'Theologisch' gesprochen, gelangt die Vergottung nie an ihr Endziel: der 'Mensch', das 'alte Ich' hört niemals völlig auf zu bestehen; es erreicht nur einen Grenzwert äußerster 'Verdünnung', Passivität, Transparenz, oder wie wir es nennen mögen.

Diese Transparenz beruht offenbar auf einem nahezu völligen Verblassen der Instinkte und Motive, von denen der 'sündige' Mensch getragen war. Das alte Ich wird damit gleichsam zur leeren Hülse, in der an sich nichts Eigenes mehr entspringt, die vielmehr der Füllung durch ein anderes bedarf, um zu Handlungen angeregt zu werden: dieses andere aber ist der ganz aus 'Heiligkeit' und 'Göttlichkeit' gebildete Komplex.

Insofern ist der Vergottete immer noch fähig, wie mir scheint, eine bewußte Handlung von beträchtlich verwickeltem Aufbau ich-bewußt zu verrichten, oder einen ähnlich beträchtlichen Gedankengang ich-bewußt zu durchlaufen; er könnte z.B. sich dahin bringen - denke ich mir -, politische oder Geldgeschäfte durchzuführen, oder eine wissenschaftliche Untersuchung leidenschaftslos und gründlich zu durchdenken.

Unmöglich aber wäre es ihm, solche Handlungen unter einen selbstischen Gesichtspunkt zu stellen, oder auch nur sie einzuleiten, ohne daß ihm der 'Gott' im eigenen Busen mittel- oder unmittelbar einen Anstoß gäbe.

Aber auch dies ist erst die halbe Wahrheit. Denn der Vergottete ist nicht nur seinen charakteristischen Trieben nach gründlich und endgültig 'selbstlos' geworden, sondern seine Verrichtungen werden ihm auch zum großen, vielleicht größten Teil fertig gegeben. Der Automatismus der Einzelhandlung erreicht bei ihm eine Ausdehnung, die weit über die mehr gelegentliche Führung des Frommen oder Bekehrten hinausgeht.

Dieses überragende Anwachsen des gottförmigen Automatismus und die völlige Hinderungslosigkeit, mit der er sich durchsetzt - dies gibt dem Vergotteten immerhin das Recht zu behaupten, er habe keinen Willen mehr und Gottes Wille allein sei in ihm mächtig, und verschafft ihm jenes Gefühl der Anstrengungslosigkeit und 'Freiheit', das die Vergotteten so beredt an sich rühmen. [2] Dies Gefühl der 'Freiheit' ist mithin nur ein anderer Ausdruck dafür, daß im großen ganzen nicht er, sondern 'Gott' in ihm handle.

[1] Vgl. O. 42. Anm. 8.
[2] Guyon, Opusc. 51. 242. 257f.


Kap X. Komplexpsychologie der Vergottung.     (S. 116)

In wesentlichen Teilen fehlt eben seinen Handlungen das 'Ichgefühl', das ja nicht zuletzt auf der bewußten Anspannung, Wahl und Schwierigkeit in der Handlung beruht. Vom alten Ich ist zwar genug verblieben, um den gedächtnismäßigen Zusammenhang des Lebens zu bewahren, genug aber auch an den unterschwelligen, wiewohl in äußerste Nähe herangerückten Komplex abgetreten, um die Empfindung des Ich-Verlustes zu erklären.

Ja es scheint beinahe, als schiebe sich selbst das Ichbewußtsein zuweilen ganz auf jene somnambulen Massen des 'Gottes im Menschen' hinüber, oder als bleibe es zwischen ihnen und dem alten Eigen-Ich, beide umfassend, in der Schwebe. Bei Mme. Guyon findet sich gelegentlich der seltsame Ausdruck, die Seele, die 'einmal aus sich heraus- und in Gott übergegangen’ sei, [1] müsse sich sehr Gewalt antun, um an sich zu denken.

Wenn sie an sich denkt, so geschieht es wie an eine fremde Sache, die (sie) nicht mehr berührt. Sie fühlt sich gleichsam geteilt und von sich selber abgesondert. [2] Worte, die teils an somnambule Phasen erinnern, von denen das wache Ich als 'ein Anderer' empfunden und benannt wird, teils an Zustände des Sichdoppeltfühlens in Augenblicken, da die 'zweite' Phase im Begriff ist, mit ihrem Partner zu verschmelzen. [3]

Diese .Einschränkungen der 'übertriebenen' Begriffsbestimmung der Vergottung werden in der Tat von erfahrenen Mystikern selber vorgenommen. Namentlich wird das alte Eigen-Ich im Grunde durchaus nur als äußerst geschwächt geschildert, nicht aber als verschwunden. 'Die Vernichtung der (Eigen)kräfte, sagt Mme. Guyon, darf nicht so ausgelegt werden, daß jene an und für sich zerstört würden.

Das wäre lächerlich: vielmehr erscheinen sie vernichtet, soweit sie unserm (alten) Ich (dienen könnten), [5] wiewohl sie (an sich) immer bestehen bleiben... In dem Maße, als die Liebe den Willen erfüllt und durchglüht,... wird diese Liebe so mächtig, daß sie nach und nach jede Tätigkeit dieses Willens überwindet, um ihn demjenigen Gottes zu unterwerfen. [6]

[1] sortie d'elle-même et passée en Dieu.
[2] séparée d'elle-même: Delacroix 148 Anm. 2, nach Disc. chrétiens et spirituels (1717) II 340.
[3] Vgl o. S. 63 66 und u. Kap. LXXV.
[4] anéantissement des puissances - anéantissement physique.
[5] anéanties quant à notre égard.
[6] Vie I c. 10 § 9; Lettres (1718) V 458 (Delacroix 214). Vgl. Deutsche Theol. 40-2; Lechner 208ff.

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