Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 116)

Die bisher dargelegte Psychologie des Außerbewußten hat uns wertvolle Einsichten in das Kräftespiel des mystischen Erlebens geliefert; von den oben [7] aufgeführten Fragen ist damit eine unstreitig ihrer Lösung näher gebracht: die, welche sich auf die Gewaltsamkeit jener erwecklichen Erlebnisse bezieht. Hinsichtlich der eigenartigen Inhalte dieses Erlebens

        [7] S. 43.


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 117)

indes hat das eben Ausgeführte erst dürftige Einsichten abgeworfen. Die Erfahrung der 'Gegenwart Gottes' schien durch die Annahme außerbewußten Seelenlebens einer Deutung näher zu rücken, und auch Gesichte glauben wir vorläufig als automatische Äußerungen jener Tiefe zu verstehen.

Für die eigenartigen 'Einsichten' des Mystikers aber, wie für die jenseitige Sinnlichkeit seiner Liebesräusche haben wir noch keinerlei Erklärung gefunden; und was die ungeheure Steigerung des moralischen Kernerlebnisses, des Schauens der 'Heiligkeit Gottes' und der eigenen 'Sündhaftigkeit' anlangt, so scheint zweifelhaft, ob mit der bloßen Verlegung dieses Schauens ins Außerbewußte ein Schritt zur Deutung gemacht sei.

Immerhin, einiges hat die Psychologie der Seelenspaltungen uns schon geleistet, und so muß uns alles treffen, was ihre wesentliche Verwendbarkeit in der Deutung mystischen Erlebens aufzuheben oder einzuschränken scheint; unsere Ergebnisse würden damit auf ein Geringstes zusammenschrumpfen.

Der Einwand ist in der Tat erhoben worden, daß der Typ des seelengespaltenen Mystikers eben nur ein Typ sei und am Ende nur eine dem Verständnis entbehrliche Spielart desselben. Religionspsychologen von Bedeutung haben dem 'wiedergeborenen' Typ des Erweckten einen 'einmalgeborenen' gegenübergestellt. [1]

Unter diesem letzteren wird dann zwar zunächst der optimistische 'natürliche' Mensch verstanden, dem die Welt eine 'einstöckige Einrichtung' ist, in der man sich nur auf der 'positiven' oder 'Plus'-Seite zu halten brauche, um wahrhaft glücklich zu sein; während der Wiedergeborene 'zwei Stockwerke' anerkenne und nach dem Bankrott der Oberfläche die Flucht in die Tiefe vornehme, wo allein ihm ein tragisch gefärbter Friede winke. [2]

Aber auch diese Unterscheidung fällt dann noch nicht völlig mit derjenigen in Dies- und Jenseitigkeit zusammen. Auch unter den Heiligen und den Gott- und Himmelliebenden glaubt man den einmalgeborenen Typ zu finden, indem man auf Beispiele einer Entwicklung deutet, die zu friedevollem Ruhen in hochgespannten religiösen Wertungen und Vorstellungen führt und dennoch ohne dramatische Zusammenbrüche, ekstatische Erhebungen u. a. Erlebnisse außergewöhnlicher Art verläuft. [3]

Prof. Coe hat eine größere Anzahl 'Bekehrter' auf hypnotische Empfänglichkeit und Befähigung zu Automatismen hin untersucht und dabei festgestellt, daß diese Eigentümlichkeiten besonders hervortreten bei solchen, die eine dramatisch [4] auffallende' Wesenswandlung durch Bekehrung erfahren hatten, im Gegensatz zu bloßem - wie sehr auch schnellem - geistlichem Wachstum. [5]

Er schließt aus dieser und weiteren Untersuchungen, daß da, wo Empfindlichkeit für Gefühlseindrücke, eine Neigung zu Automatismen und Suggestibilität der passiven Art gegeben sind, das Subjekt, wenn man es unter Bekehrungseinflüsse bringe,

[1] Vgl. ]ames. Varieties 166f. 363 über once- und twice-bom (nach F. W. Newman).
[2] Le déchirement, condition de la vraie paix...: F. Amiel, Grains de Mil 158.
[3] S. z.B. Fursac 74.
[4] striking.
[5] A. Coe. The spiritual Life (N. Y. 1900). 112.


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 118)

eine religiöse Wandlung vom krassen, dramatischen Typ erleiden werde; wobei auch ihm der Mechanismus dieser krassen Wandlung mit dem der automatischen Vorgänge identisch erscheint. [1]

Die theoretische Bedeutung dieser Untersuchungen würde in der Feststellung gipfeln, daß die Gewaltsamkeit religiöser Erlebnisse nicht mit deren InhaIt als solchem gegeben ist, sondern vielmehr von einer soz. zufäIligen seelischen Veranlagung des Einzelnen, von rein formalen Neigungen seiner inneren Maschine abhänge, die ebensogut fehlen könnten, ohne die Ergebnisse seiner geistlichen Entwicklung zu ändern.

Es gäbe eben zwei Typen von Religiösen, wie von Menschen überhaupt, bei deren einem die Gaben der innern Entwicklung gleichsam tropfenweise im Gesamtbau der Seele versickerten, sie langsam und allmählich durchsäuernd; bei deren anderm sie irgendwo im Außengebiet 'stillschweigend reiften', [2] um dann explosionsartig im gegebenen Augenblick an die Oberfläche zu treten.

Und wie die Inhalte des religiösen Erlebens somit nichts beitrügen zur Deutung ihres dramatischen Wirksamwerdens, so würde umgekehrt auch das Außergewöhnliche der erwecklichen Erfahrungen nichts beitragen zum Verständnis jener Inhalte.

Gegen diese Anschauung von der persönlichen Zufälligkeit des ekstatisch-automatischen Elements im religiösen Erleben erhebt sich nun freilich ein uraltes Vorurteil - darf man sagen: Urteil? - der Menschheit.

Die Erfahrung der Zeiten hat längst einen besonderen Zusammenhang zwischen dem religiösen Leben und 'abnormen' seelischen Verlaufsarten zu bemerken geglaubt; so sehr, daß sie gelegentlich jede seelische Sonderbarkeit mit Religion in Beziehung brachte und selbst den geistig Gestörten an sich, den von innern Gewalten willenlos Beherrschten für einen Günstling der Götter hielt.

Vom Führer auf den dunklen Wegen des Verkehrs mit dem Unsichtbaren, dem Geglaubten, dem Gefürchteten und Verehrten hat die Masse der bloß Glaubenden von jeher verlangt, daß er ein Schauender und Inspirierter sei, also Ekstatiker und Automatist. Der sittliche Zusammenhalt eines Volkes wie sein metaphysisches Glauben waren stets in der Verwahrung des Propheten, Sehers und Dichters im alten Sinne des mainomenos, d.i. des seelisch mehrstöckig Gebauten.

Unser Zeitalter ist nun gewiß nicht gewohnt, den dunklen Ahnungen der namenlosen Menschheit wissenschaftlichen Wert zuzuschreiben. Zur Vorsicht und Umsicht aber dürfen sie immerhin mahnen.

Und ich meine, wer in religiöser Lebensbeschreibung belesen ist, möchte wohl Grund finden, eine besondere Wahlverwandtschaft zwischen religiösem Erlebnis und automatisch-ekstatischem Wesen aus der überragenden Massenhaftigkeit ihres Zusammengehens zu erschließen. Statistische Aufstellungen sind hierbei natürlich unmöglich und man muß sich auf Abschätzungen verlassen,

        [1] Übergangs- und Mischtypen aaO. 102ff. 
        [2] ripen in silence: James, Varieties 198.


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 119)

die schließlich nur aus der Erfahrung und Belesenheit des Abschätzenden Wert beziehen können. Beides besitze ich nur in geringem Maße. Ich vermag daher nur dem aIlgemeinen Eindruck Worte zu geben, den mir die Beschäftigung mit diesen Fragen hinterlassen hat: daß 'im großen und ganzen', je mehr die religiösen und religiös-moralischen Dinge dem Einzelnen zu einem Erlebnis von überragender Ursprünglichkeit werden,

desto mehr sich auch eine Neigung zu abnormen Bewußtseinszuständen und -leistungen, zu einem 'dramatischen' Verlauf des innern Lebens einstelle; daß diese Neigung aber um so mehr verschwinde, je mehr der Einzelne seinen Anteil an jenen Dingen aus seiner Umgebung in sich aufnimmt und durch klar bewußtes Vorstellen mehr willkürlich zu seinem Eigentum macht, einem Eigentum, das dann aber auch weit lockerer in die Massen seiner Seele eingebettet und nicht mit jener Glut hineingeschmolzen ist, die den Personen des automatistischen Typs natürlich ist.

Die Stifter der großen Religionen waren anerkanntermaßen Ekstatiker. [1] Die Ursprünge der Sekten - und das heißt doch vielfach: der persönlichen und erfahrungsmäßigen Auffrischungen oder Neugründungen erkaltender Religionen - gehen fast durchweg auf ekstaseartige Erlebnisse Einzelner und - daran anschließend - 'kleinerer Gruppen’ zurück. Und die 'ernsthaften', erlebnisreichen Kreise innerhalb der großen Kirchen zeigen überall Teilnahme an dergleichen Erfahrungen und Verlangen nach ihnen.

Den Sinn dieser natürlichen Zusammenhänge vermögen wir freilich auf dieser Stufe der Untersuchung bei weitem noch nicht zu durchschauen, und der Leser wird wenig geneigt sein, meine persönlichen 'allgemeinen Eindrücke' als wissenschaftliche Gründe hinzunehmen.

Ich will das vorläufig Angedeutete denn auch nur als Anknüpfungsstelle für spätere Einsichten hier am Wege zurücklassen und einstweilen den Faden fortspinnen, den uns der eben besprochene Einwand darbot.

In der Tat kommt dem Coe’schen Gedanken - wenn auch ganz unbeabsichtigterweise - eine Fülle neuerer Untersuchungen zu Hilfe, die alle darin ausmünden, daß sie das krasse religiöse Erleben nicht nur auf eine besondere zufällige, wenn auch im Grunde normale Wirkungsweise der Seele zurückführen, sondern geradezu auf krankhafte Vorgänge in ihr.

Unsere Hauptfrage: wie denn etwa die Inhalte des geistlichen Erlebens mit der formalen Art seines Auftretens zusammenhängen, findet dabei zwei sehr verschiedene Beantwortungen.

Häufig erscheinen diese Inhalte im Grunde als etwas beinahe Gleichgültiges, weil eben wieder nur zufällig mit der seelischen Krankheit Zusammenhängendes: die zerrüttete Tätigkeit des Geistes könnte sich ebenso gut auch auf andere ihr von außen oder innen dargebotene Inhalte werfen. Dies scheint mir der innere Gedanke vieler Psychiater gewöhnlicheren Schlages zu sein: Sie lassen die banale Religiosität - jenes Gemisch von

[1] Bezüglich Gautama Buddhas und Mohammeds zieht dies niemand in Frage; bezügl. des Stifters des Christentums vgl. O. Holtzmann, War Jesus Ekstatiker? (Tüb. u. Lpz. 1903).


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Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 120)

Furcht vor den Unsichtbaren, Glauben an ihre Hilfe, kindlicher Unterwerfung unter sie, Reue, Vervollkommnungstrieb, Lebensdrang, Gemeingefühl und was sonst noch, als geschichtlich gewordenes und gesellschaftlich nützliches Erbgut gelten, verurteilen es aber als gefährlich, sobald es in das Räderwerk eines krankhaft zerrissenen Seelenlebens gerät.

Die andere Art der Antwort gräbt tiefer: sie bringt die Inhalte des mystischen Erlebens allerdings in einen wesentlichen Ursachenzusammenhang mit der formalen Gestaltung dieses Erlebens, d.h. mit der seelischen Krankheit; aber sie faßt zugleich jene Inhalte als täuschende Masken ganz anderer, und zwar sehr 'natürlicher' Inhalte auf; sie beseitigt also soz. ihre Besonderheit.

Dies scheint mir der leitende Gedanke der Psychoanalytiker und ihres psychiatrischen Anhangs zu sein. Beide Arten pathologischer Deutung der krassen, dramatischen und schon insofern jenseitigen Religiosität müssen unser Interesse im höchsten Maße fesseln und ihre Darstellung und Prüfung ergibt sich gebieterisch als unsere nächste Aufgabe.

Die banal-psychiatrische Auffassung spielt heute schon eine beträchtliche Rolle. Die Deutung vieler ausgesprochen mystisch-religiöser Erfahrungen vom klassischen Typ als Äußerungen 'religiösen Wahnsinns' ist selbst gläubigen Beurteilern nicht mehr fremd. [1] Dem akademisch geschulten Psychiater ist sie selbstverständlich. [2]

Tatsächlich ist eine Übereinstimmung dessen, was heute unter Vorurteilsfreien als religiöser Wahnsinn bezeichnet und der Behandlung des Irrenarztes zugedacht wird, mit Abarten dessen, was geschichtlich als Heiligkeit und Mystik gilt und zur Gründung und Befeuerung religiöser Bewegungen gedient hat, selbst dem Laienauge unverkennbar, so daß schon ein flüchtiger Blick auf das Gesamtgebiet der Geisteskrankheiten lehrt, wie schwierig der Versuch einer Abgrenzung sein muß.

Und es ist bezeichnend, daß dabei Krankheitsformen, in denen ein entscheidender Einfluß außerbewußter Vorgänge am wenigsten hervortritt, auch die geringste Ausbeute der Vergleichung liefern, während diese zunimmt in dem Maße, in welchem jener Einfluß das Wesen der Krankheit bestimmt. -

In den Krankheiten der ersteren Art erscheint das 'religiöse' Element (bestehend in Vorstellungen 'religiösen' Inhalts) am ehesten äußerlich aufgepfropft.

Ein reiner Typ hiervon ist etwa der krankhaft Melancholische (so oft nur durch äußerliche Schädigungen oder rein körperliche Krankheiten melancholisch

[1] s. z.B. die Schrift des früheren Irrengeistlichen H. Werner, Der rel. Wahnsinn (Stuttgart 1890) 106-11; die Ähnlichkeit wenigstens starker Religiosität mit Irrsinn betont J. Naumann (Anstaltsseelsorger), Ist lebhaftes rel. Empfinden ein Zeichen geist. Krankheit...? (Tüb. u. Lpz. 1903).
[2] Fanatiker dieser Richtung ist Dr. Binet-Sanglé (z.B. La folie de Jésus [Paris 1908] und die Aufsätze über die Propheten Elias und Elisa in AAC 1904 u. 1905); vgl. Dr. med. H. Leffmann, The mental condition and career of Jesus of Nazareth (Philadelphia 1904). Deutsche psychiatrische Studien über Jesus neuerdings von Rasmussen, Lomer (Dr. de Loosten) u. a.


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 121)

Gewordene), dem im gesunden Zustande die Religion ein äußerlich Gewußtes, allenfalls Gewohntes war, und der nun seine Leiden in religiöse Begriffe umdeutet, wie Schuld, Verwerfung, Gottverlassenheit, Nichterwählung, Sünde wider den Heiligen Geist u. a.[1] -

Ein entsprechender Typ von entgegengesetztem Vorzeichen wäre der manisch Exaltierte, den Zufälligkeiten des Vorlebens oder der Umgebung dahin brächten, seine gehobene Stimmung nicht als ein 'Napoleon' oder 'Bismarck', als 'Erfinder' oder 'Millionär', sondern als 'Jesus' oder 'Gott Vater', als 'Gesalbter des Herrn' oder 'Muttergottes' auszuleben, während er sich im übrigen so läppisch und ausschweifend verhalten mag, wie es solche Irre eben tun. [2]

Auch die vielfach behauptete Verknüpfung religiöser Vorstellungen mit der Epilepsie scheint meist eine leidlich äußerliche zu sein. Teils dürfte die scheue Furcht, mit der gerade diese Krankheit seit alters betrachtet wurde, oder das Bedürfnis nach Mitgefühl und Hoffendürfen, das diese nur zeitweilig Unzurechnungsfähigen beseelt, natürliche Übergänge zu religiösen Vorstellungen schlagen;

teils führt der häufig eintretende 'epileptische Schwachsinn' zu einer Frömmelei, die sich in läppischem Ehrgeiz gerade an die 'theokratischen' ,Äußerlichkeiten des Kultes’ klammert und in schwülstigen Redensarten sich zu berauschen liebt; [3] teils aber scheinen auch mitunter die erregten und verworrenen Zustände der epileptischen Wahnvorstellungen religiösen Inhalts herbeizuführen, die dann freilich Krankheitsbilder liefern, die dem klassischen mystischen Leben sehr viel näher stehen. [4]

So glauben sich 'Epileptiker' während ihrer Dämmerzustände zuweilen im Paradiese, mit Gott im Verkehr, von ihm zum Propheten, Messias, Reformator berufen; sie schwelgen in seliger Freude und haben himmlische Gesichte, empfangen aber auch göttliche Befehle, ihre Angehörigen umzubringen, und bedrohen ihre Umgebung als Juden, Feinde Gottes oder sonst was.

Dann wieder öffnet sich ihnen die Hölle, sie sind zerknirschte Sünder, rufen um Erbarmen usw. [5] Doch erscheint, je inhaltlich bedeutsamer die Erlebnisse selber sind, die Diagnose auf Epilepsie um so zweifelhafter. Im Falle des größten religiösen 'Epileptikers' – Mohammed - ist sie neuerdings durchaus bestritten [6] zugunsten einer Diagnose von sehr viel größerer psychologischer Bedeutsamkeit [7?] während doch die Epilepsie in der Regel auf wesentlich materielle Hirnstörungen zurückgeführt wird.

So ist es denn auch die immer mehr durchdringende Auffassung als psychogen-seelisch begründet -, was den Krankheitserscheinungen einer dritten Gruppe 'religiös Irrer' den bisher berührten gegenüber eine sehr viel größere Bedeutung sichert: ich meine die, welche man im engeren

[1] S. den JMS XXXI 287 ref. Fall. Lehrreiche Beispiele z.B. bei Clouston, Clin.lect. on mental diseases 72-76. 107; Winslow, 4. Aufl. 69; JMS XLI 500; Boismont 411-15; AMP 1905 II 197; Janet, Obs. 526f.
[2] Vgl. die Fälle bei Prichard in JMS III 245; Leuret 3Z3; Ideler I 121ff.; Flügge in AP XI 184ff.; Dr. Gooch bei Dendy 347. Ähnlich in der exaltierten Phase der progr. Paralyse: Hurd in Hack Tukes Dict. of psychol. Med. s. v. Vgl. die gelegentliche Beobachtung von Jahreszeitenkurven des rel. Empfindens: Starbuck 359.
[3] W. Hellpach, Zur 'Formenkunde' der Bezieh. zw. Religiosität und Abnormität, ZRP I 103.
[4] S. z.B. die ersten drei in AMP 1899 I 76ff. ref. Fälle und Dr. H. Mabille, Hall. rel. et dèlire  rel. transitoire dans l'épilepsie; Dr. J. C. Howden, The rel. sentiment in epileptics, JMS 1873 482ff.; Dr. Toselli, ref. JMS XXV 585.
[5] S. Wemer, aaO. 56.
[6] Pelman. Seine Anfälle sogar für legendarisch erklärt von H. Grimme, Arabiens Eintritt in die Weltgeschichte (Münch. 1904).
[7] Der Hysterie; worüber alsbald mehr.


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 122)

Sinn als religiös Wahnkranke bezeichnen möchte und die hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, [1] in die herkömmlichen Gruppen der 'Paranoiker' und der 'Frühdementen' einzuordnen sein dürften.

Von der 'religiösen Paranoia' zeichnet die Psychiatrie der Schulen in der Tat ein Gesamtbild, worin man so reichliche Züge der hagiologischen Mystik wiederzufinden meint, daß die Erörterung des pathologischen Problems sich förmlich aufdrängt.

Diese Kranken sind vielfach, wie die Heiligen, schon von früh auf durch eine verschrobene Hypertrophie des Charakters nach der religiösen Seite hin gezeichnet. Kirchliche Einflüsse, Schicksalsschläge, die sie der Welt entfremden, verstärken dann schon in der Jugend ihre religiöse Begeisterung,

erzeugen den Drang, geistlich zu werden, ins Kloster zu gehen, führen zu Gewissensqualen und Bußübungen; bis der Eintritt von Gesichten des Himmels und der göttlichen Personen und herrlicher Gefühle von Durchdringung des sündhaften Leibes mit dem göttlichen Hauch, kataleptische Ekstasen u. dgl. m. die Weltentrückung vollenden.

Stimmen reden zu ihnen, treiben sie an, den Beruf des Propheten anzutreten, und die Kranken wechseln nun zwischen Zeiten erregter Bekehrungstätigkeit und ekstatischer Begeisterung einerseits und Anfällen tiefster Zerknirschung, des Gefühls der Sündigkeit und Unwürdigkeit zum göttlichen Berufe, des angstvollen Bewußtseins teuflischer Verfolgung anderseits.

Es ist wahr, daß Krafft-Ebings Schilderung, der ich hier folge, [2] andere Züge beibringt, die sich von typisch hagiologischen Eigenschaften der Heiligen ebensosehr zu unterscheiden scheinen: die Gleichgültigkeit der Kranken gegen den 'ethischen Kern der Religion',

ihr Aufgehen in der 'formalen glänzenden Außenseite des religiösen Kultus' und die schwachsinnige Beschränkung auf Erfüllung mißverstandener religiöser Vorschriften; die häufigen geschlechtlichen Ausschweifungen; die der Entselbstung der Jenseitigen anscheinend entgegengesetzten Größenwahnvorstellungen -

Männer glauben Gott der Schöpfer, der Welterlöser, Frauen glauben die Gottesgebärerin zu sein; - die verrückte Auslegung von Stellen der Heiligen Schrift, die auf die eigene Person bezogen werden; dazu der so oft betonte schließliche Ausgang in Blödsinn. [3]

Indessen sind diese und ähnliche Einzelheiten, wie der Belesene weiß, z.T. bis weit in die religiöse und hagiologische Lebensbeschreibung hinein zu verfolgen, z.T. tatsächlich nicht einmal für alle Fälle 'religiösen Wahnsinns' in unsern Heilanstalten durchaus charakteristisch; zum mindesten gehen sie - und dies ist die Hauptsache – in unmerklichen Abschattungen in die typischen Eigenschaften des klassischen Heiligenlebens über. Krafft-Ebings einziges klinisches Beispiel ist ein im höchsten Grade 'verrücktes' und lächerliches (ein Bauer, der eine

[1] Denn auch Manische, Melancholische, Paralytiker, Alkoholiker u.a. erzeugen gelegentlich rel. Wahnvorstellungen.
[2] Vgl. Krafft-Ebing, Lehrb. d. Psychiatrie, 6. Aufl. (Stuttg. 1897) 441ff.
[3] Vgl. z.B Vallon et Marie, Des psychoses relig. à évol. progress. in AN 1897 177 ('délire de persécution avec teinte mystique'). P. Jacoby klassizierte russische Sektierer als megalomanische Paranoiker: AAC XVIII 782.


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Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 123)

herabfallende Papierblume für ein Brautgeschenk der Muttergottes hält und die Welt regieren will, da der alte Gott nichts mehr tauge u. dgl. m.); und ähnliche lassen sich ihm aus der Literatur fast ohne Zahl zur Seite stellen. [1]

Aber selbst solche paranoische Heilande und Götter machen mitunter noch Eindruck durch ihr stilles und frommes Verhalten, ihre ekstatische Versenkung, ihre hingebende Beschäftigung mit den heiligen Büchern, die mit ihrem Wahne häufig einsetzende reumütige Abwendung von früherer Weltlichkeit und Unsittlichkeit, oder ihr frommes Vertrauen in die halluzinatorische Führung einer Stimme, die sie dem himmlischen Vater zuschreiben.

Wenn die Barbara Spohn, eine württembergische Chiliastin, von zwei bärtigen Männern in weißen Gewändern den Auftrag erhält, mit ihrem Anhang nach Jerusalem auszuwandern, 'denn der Herr wird diese Stätte zerstören und die Gottlosen vertilgen, aber euch, ihr Kinder Gottes, wird er ins tausendjährige Reich einführen;...

 nicht eine Kopeke Geldes noch Brot dürft ihr in die Tasche stecken’ usw.; [2] oder wenn eine Irre Dagonets erklärt, Gott sei in ihr, er rede durch ihre Stimme, sie sei Verkünderin der Liebe Gottes, seines Bundes und seiner Barmherzigkeit; [3] oder ein anderer Illuminierter, nach tiefer langer Niedergeschlagenheit, beginnt, von einer innern Stimme inspiriert und geführt zu werden, die er Gott zuschreibt und 'die Fleisch und Blut nicht verstehen können',

kraft welcher er das Ende der Welt verkündet, sich mit seiner Schwester fast nackt in den Wald zurückzieht, wo er sie mit seinen prophetischen Predigten unterhält,[4] - so klingt doch schon aus dem Wuste der Wahnvorstellungen jener Ton heraus - dem Eingeweihten leicht vernehmlich -, der auch den großen Erweckten, die sich einigermaßen im bürgerlichen Leben behaupten konnten, den eigentümlichen Klang verleiht.

Wir stehen hier in der Tat vor menschlichen Bildern, von denen wir zwar begreifen, daß der Psychopathologe sie restlos für sich beansprucht, aber nicht minder, daß der Laie in Versuchung geraten mag, sie der großen Bruderschaft der 'wahrhaft Erweckten' zuzurechnen und sich ihrer Führung zu überlassen.

In Arnolds Kirchen- und Ketzergeschichte [5] lesen wir von einem gewissen Johann Albrecht Adelgreiff, der um 1636 in Königsberg auftrat, neben Latein und Griechisch große Bibelfestigkeit besaß und durch seinen 'sehr elenden und verächtlichen' Aufzug wie durch seine Reden und Bekenntnisse Aufsehen erregte:

drei Jahre zuvor habe er 'nahe bei Thorn seinen großen Tag der Erleuchtung gehabt, da ihm sieben Engel bei einem hölzernen Kruzifix am Wege stehend die Offenbarung vom Himmel gebracht, er solle die Person Gottes des Vaters auf Erden leiblich repräsentieren und alles Böse aus der Welt tun, auch die Obrigkeit mit eisernen Ruten stäupen.'

Also, mit einiger Weite erfaßt, der Typ des Propheten und erweckten Sittenpredigers, wie ihn die Bibel vielfach zeigt, der wohl das Zeugnis eines so guten Kenners wie Franckenberg verdienen mochte: seine Schrift, mit seinem Tode besiegelt, enthalte 'eine starke und offenbare Ankündigung des Vaters', man müsse nur eine gewisse 'Decke der Person und die Unreinigkeit

[1] S. z.B. Magnan, Des halluc. bilatérales... in AN VI (1883) 354f.; Ideler I 101ff. 165ff. 170 (Fall Nr. 6.15.16); Vallon et Marie in AN 1897 26f. 30; Dr. Muhr in APNVI 733ff.,bes.750ff.
[2]
M. Busch, Wunderliche Heilige 129f.
[3] Dagonet, Mégalomanie relig. z8z (bei Vallon et Marie, aaO. 31).
[4] Casanwielh bei Vallon et Marie. das. Z9. 5) 111 49f.


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 124)

des Fleisches hinwegtun', [1] - d.h. individuelle Irrtumsbeimischungen von der wahren Intuition sondern. An die religiös Verrückten unserer Anstalten werden wir aber unmittelbar erinnert, wenn wir den wüsten Kram besehen, der in Köpfen wie diesem sich ablagert: Adelgreiff nannte sich selbst 'Syrdoss, Amada, Canamata, Kikis, Schmalkilimundis, Elioris,

Über-Erz-Hoherpriester, Kayser des H. Göttlichen Reiches, König der ganzen Welt' usw. Diese geheimnisvollen Namen und Wortspielereien sind ja ein häufiges Merkmal der Irrenphantasie.

Wir finden sie z.B. bei dem Priester Pierre-Michel Vintras, der vom Erzengel Michael Offenbarungen erhält und von Jesus selbst zur Schaffung eines an rosafarbenem Bande zu tragenden weißen Kreuzes angeregt wird, ohne den Gekreuzigten, weil der Träger des Kreuzes selbst das Opfer daran sein solle!

Neben diesem mystischen Geistesblitz aber fällt wieder die kindische Phantastik auf, mit der er seinen Anhängern 'Engelsnamen' verleiht: Dhoredhoel, Jehorael, Azzolethael u.a. [2] -

Bei einem Andern gesellt sich dem altmystischen Gedanken des dritten und letzten christlichen Bundes eine läppische Spielerei mit Kalauern: er, Cheneau, glaubt sich bestimmt, als chainon zwischen Himmel und Erde zu dienen; geboren in Mennetout, soll er mener tout le monde auf dem Wege zur letzten Vereinigung mit Gott, usw. [3] 

Mitunter - und dies ist bedeutsam, wie ich gleich ausführen werde - beruht der unmittelbare Eindruck, daß wir einen Irren vor uns haben, fast am meisten auf der Wirkung der Umgebung, in der uns dieser begegnet: der Umgebung eines modernen Irrenhauses.

Was in der romantischen Verfärbung ferner Zeiten und Länder noch die Bildwirkung des Übermenschlichen zu erzeugen vermag, schrumpft peinlich zusammen, wenn es der Umwelt unseres nüchternen und an deutenden Gesichtspunkten überreichen Zeitalters eingeordnet wird.

Man denke sich einige der alttestamentlichen Prophetengestalten den kühlen Blicken eines heutigen Psychiaters und seiner klinischen Hörerschaft gegenübergestellt! Ich halte es bei der großen Wichtigkeit der Sache nicht für überflüssig, einen ausführlicheren Bericht aus dieser Umgebung zusammenfassend wiederzugeben, um den Leser mit möglichst reicher Anschauung zu versehen zur Beurteilung der engen Beziehungen zwischen mystischen Typen und dem, was wir heute ohne weiteres als geisteskrank bezeichnen.

Dr. M. Schönfeldt in Riga schildert einen Kranken der Anstalt Rothenberg, Julius L., der sich schon in der Jugend zu einer großen Sendung auserkoren gefühlt habe. Später sei ein Stern erschienen, der auf die Ankunft des Messias hingewiesen, und schließlich hielt er sich selbst für den Heiland in menschlicher Gestalt, wovon er einige Anhänger durch wundertätige Kuren überzeugt zu haben glaubte.

Als solcher trägt er sein Haar nach sog. Christusfrisur und kleidet sich in einen 'grauhärenen Pilgerkittel'. Dieser Irre hatte als Maurergesell ein stilles, arbeitsames, kirchlich-eifriges Leben geführt, bis er von seinem Arbeitgeber verlangte, nur mehr als einfacher Handlanger beschäftigt zu werden. Seines sonderbaren Verhaltens wegen der Anstalt übergeben, führt er sich dort vollkommen

[1] aaO. SI.
[2] Erdan, La France mystique I 171ff.
[3] Das. 183ff. Vgl. in diesem Zusammenhange Corrodi IV 255ff. (über J. H. Toldery) und 266f. (über den Quäker J. Naylor).


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 125)

orientiert und zusammenhängend, ruhig und bescheiden auf, dabei würdevoll und äußerst arbeitsam; fastet einmal 42 Tage lang (bis auf Sondenfütterung), weicht aber lange jeder Auskunft über seine Gedankenwelt aus, bis er einem Arzte, in dem er die 'Flamme der Erkenntnis entbrannt' glaubt, das oben Angeführte und anderes mitteilt: noch herrsche allenthalben der Antichrist; bald aber werden Alle von der 'Seligkeit des Glaubens' wie elektrisch durchströmt werden.

Nachts im Schlafe sehe er oftmals einen hellen Feuerstrahl, aus dem er entnehme, was er zu tun und zu lehren habe. Nicht mehr das in der Bibel geschriebene Wort habe Geltung, sondern das ungeschriebene Gesetz in unserm Innern; man solle daher weniger die Bibel lesen, als wirklich gottgefällig leben; er wandle in Niedrigkeit und Demut, um ein Vorbild zu geben, an dem man sich aufrichten könne.

Auf die Frage, ob er ein 'Berufener' sei, antwortet er ironisch lächelnd: Was soll ich Ihnen sagen, Sie können es doch nicht annehmen. - Diese Gedanken haben unstreitig einen ausgesprochen mystischen Klang und finden sich gleichlautend in den Lehren anerkannter Heiliger.

Und dieselbe Einbettung mystischen Fühlens und Denkens in einen Zusammenhang übertragener Wahnideen [1] findet sich auch bei Anhängern des L. Einer von ihnen, der Wärter Oskar K., gibt an, er sei langsam und stückweise im Glauben erstarkt, habe in Bitterkeit und Entsagung gelebt, um reinen Herzens zu werden, auf Geheiß seines Meisters sich von der Welt losgesagt, erst Kleinigkeiten, dann die guten Kleider, dann alle Schmucksachen fortgeworfen.

Die Bibel sei unnütz, aus seinem Herrn rede der Heilige Geist. Den weltlich gesinnten Toren und Erdenwurm (einen der Ärzte) habe er unter die Auserwählten aufgenommen. Bei diesem K. bilden sich nachher anscheinend kataleptische Ekstasen aus.

Seine Sprache ist bilderreich und mit Bibelsprüchen überladen, sein Wesen salbungsvoll. 'Trotz aller von ihm selbst als notwendig betonten Demut bleibt der Grundzug seines Wesens ein erhöhtes Selbstbewußtsein, die religiöse Verklärung eines auserwählten, geläuterten Bewußtseins.’ [2]

In volksmäßig-epidemischer Form läßt sich diese Vermengung klassischer Heiligkeitsbestrebungen mit offenbarer geistiger Krankheit z.B. an der kurzlebigen Bewegung der Pöschlianer vor hundert Jahren beobachten.

Thomas Pöschl, ein einfacher und stiller Mann, vertrat als katholischer Dorfpriester eine innerliche und strenge Auffassung seines Berufes und der religiösen Pflichten seiner Beichtkinder; sein etwas mystisch gefärbtes Denken, das den Satan aus den Herzen, nicht bloß aus den Worten vertreiben will und mit dem Gedanken der Gründung einer jüdisch-katholischen Kirche spielt,

gewinnt natürlich besonders auf die Weiber seiner Gemeinde Einfluß und erweckt bald eine derselben zur Visionärin, deren Eingebungen er nun wiederum als göttliche benutzt: durch sie befiehlt ihm Christus, der 'Sieger mit der Fahne', ihr Geliebter, der ihre Glieder mit Wonne und Liebe durchgießt, mit seinen Gedanken öffentlich hervorzutreten.

Seine Anhängerschar gerät mehr und mehr in strenge Askese hinein, liest die Bibel mit großem Eifer, nimmt das Abendmahl ohne Beichte; führt eine Art praktischen Kommunismus ein; früher Entwendetes wird

[1] Man wird an Hauptmanns 'Narren in Christo Emanuel Quint' erinnert.
[2] APN XXVI (1894) 204-15; vgl. d. Fall des Kyrill K., das. 218ff., und über die Malowanzen, das. 228-33.


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Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 126)

zurückerstattet, Liebschaften hören auf, die Kinderzucht wird strenger, Bußkämpfe und Bekehrungen treten immer häufiger auf; endlich wird man sich einer demnächst ablaufenden Gnadenzeit bewußt und bewaffnet sich zu allgemeinem Aufbruch nach Jerusalem.

Die Erregung steigert sich nun bald bei Einigen zur Raserei. Wüste Wahnvorstellungen religiöser Prägung veranlassen mehrere Totschläge: ein Tobender, der sich für Christus hält, glaubt eine alte Bäuerin niederschlagen zu müssen, weil sie verdammt sei; einen andern schleifen die Irren an den Haaren umher und treten ihn mit Füßen, weil er noch zu schwach im Glauben sei.

Das Eingreifen von Truppen bringt die Rasenden zur Besinnung; sie scheinen wie aus einem Traum zu erwachen; und doch reden noch nach Jahren ehemalige Pöschlianer nicht nur 'von der gewaltigen Macht, die sie damals ergriffen hätte', sondern auch 'mit innigster Rührung von jener heiligen Zeit des Gnadenstandes, die zu schön gewesen sei, als daß sie auf Erden hätte länger fortdauern mögen'. [1]

Ein solches Ausarten in blutige Trauerspiele unterstreicht natürlich für den Laien den krankhaften Charakter der Vorgänge; für die eindringende Betrachtung unseres Problems dagegen ist es fast eine zufällige Einzelheit. Die Geschichte des Krankhaft-Religiösen verzeichnet manche derartige schauerliche Passionen: Morde, Verstümmelungen, Kreuzigungen und Selbstkreuzigungen; in ihnen allen äußern sich zuletzt dieselben Vorstellungen, die auch dem ruhigen 'religiösen Wahn' den Inhalt geben.

Der arme Irre, der sich vor einiger Zeit still lächelnd in Colorado von Andern ans Kreuz heften ließ, gehörte der Gesellschaft der Reumütigen an, die im Sinne zahlloser christlicher Heiliger ein Leben der Selbstpeinigung erstreben. [2] Matteo Cobet, der 1859 in Casale sich selbst ans Kreuz nagelte, nachdem er sich entmannt, vertrat die echt mystische Lehre, daß 'der Stolz des Menschen gedemütigt werden und er am Kreuze sterben müsse'. [3]

Aber diese unbezweifelbare Tollheit läßt sich noch 'höher' - wenn man so will - hinauf verfolgen.

Swedenborg gilt sicherlich Vielen als religiöses Genie von selbständigstem Wert. Emerson hat ihn als den vorbildlichen Vertreter der Mystik feiern können, an 'Repräsentativität' ihn Männern wie Plato, Montaigne, Shakespeare, Napoleon, Goethe beiordnend.

Eine anhängerreiche Kirche sieht in seinen Schriften ihre grundlegenden Offenbarungen. Und doch hat Swedenborg Zeiten unzweifelhaften 'Irreseins' gehabt. In London entkleidete er sich gelegentlich auf der Straße und wälzte sich im Kot. Seine Halluzinationen des Gesichts, Gehörs, Geschmacks, Geruchs waren massenhaft. Wahn- und Zwangsvorstellungen (er spricht

[1] Dr. F. V. Zillner, Die Pöschlianer..., in AZP XIII 546-604; A. F. Ludwig, Neue Unters. über den Pöschlianismus. 1906. Beiträge zur Gesch. des P. 1907. R. M. Meyer in Österr. Rundsch. XII 113.
[2] S. AKA XXX 186f.
[3] Aus d. Neuen Pitaval VI (1844) 283ff. bei Stoll 458ff. Vgl. den berühmten Fall des Lazaretti das. 447ff.; den der Witwe, die sich ein Auge ausreißt, in AZP III 365; die Wildenspucher Vorgänge, bei Ideler I 197ff.; Tsakni 108ff. Eine alte, aber sehr kluge Psychologie des Schwärmers in der Einleitung von: K. Spazier ('fürstl. Wiedischer Hofrath'), Der neue Origenes, oder Gesch. seltsamer Verirrung e. rel. Schwärmers (Berlin 1792).


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 127)

von Geistern, die ihn zum Stehlen anzureizen suchten) verfolgten ihn. Den Apostel Paulus hörte er mit dem Satan sich verschwören, und glaubte im Schlafe von diesem ehebrecherische Eingebungen zu empfangen. [1]

Seine erwecklichen Erlebnisse gleichen denjenigen der großen klassischen Mystiker; aber sie durchschlingen sich zeitlich mit Vorfällen, die selbst den unmittelbaren Beobachtern als Anfälle von Tollheit erschienen. An einem Tage fühlte er etwas Heiliges über sich, betete durch Eingebung, sah Gott 'von Angesicht zu Angesicht'; aber etwa gleichzeitig wurde er von gräßlichen Träumen, teils quälend-geschlechtlichen, teils grausamblutigen Inhalts gemartert.

Und im selben Jahre (1744) fand ihn Brockmer, sein derzeitiger Hauswirt, gelegentlich mit gesträubtem Haar, schäumendem Mund, stotternd und unfähig, ein Wort hervorzubringen; endlich aber berichtend, er sei der Messias und gekommen, für die Juden gekreuzigt zu werden.

Brockmer machte - nicht unvernünftig - mit ihm ab, daß wenn bis zum nächsten Morgen ihm - Brockmer - nicht ein Engel erschienen sei, Swedenborg ihn zu einem Arzt begleiten solle.' [2]

Die Problemlage, vor die uns solche Tatsachen stellen, ist eine eigentümlich verwickelte. Einerseits sind die Ähnlichkeiten klinisch-psychiatrischer und mystisch-hagiologischer Bilder groß genug, um uns den pathologischen Gesichtspunkt in der Deutung der letzteren förmlich aufzuzwingen; scheinen sie doch zum mindesten eine Beimischung krankhafter Züge zu den höherentwickelten religiösen Erfahrungen zu beweisen.

Um so näher aber scheint nun anderseits hierdurch die Möglichkeit gerückt, die banalen religiösen Erfahrungen von den 'krassen' zu trennen und jene damit vor jeder Kränkung durch pathologische Gesichtspunkte zu bewahren. Ich sagte bereits, daß die ältere psychiatrische Schulauffassung sich damit begnügte, die religiösen Inhalte der Psychose als mehr oder minder 'zufällig' gegeben zu fassen.

Der Paranoische sollte eben aus irgendwelchem rätselhaften Grunde zu Wahnvorstellungen neigen und die Umgebung ihm den Inhalt derselben an die Hand geben. Daher mystische Wahnideen in älteren Zeiten blühten und sich heute auf die Kreise beschränken, die geistig soz. noch im Mittelalter stäken; während der wahrhaft moderne Irre seinen Bedarf an Einbildungen aus den technischen und medizinischen Errungenschaften der Neuzeit schöpfe.

Anstatt von himmlischen Geistern inspiriert zu werden, sei er von galvanischen Batterien, Mikroben, drahtlosen Apparaten u. dgl. m. umgeben. [3] Im weitern Verfolg solcher Begriffe erscheint dann, wie gesagt, die Möglichkeit, die banalere Frömmigkeit als etwas durchaus Gesundes und Nützliches gelten zu lassen; alles dagegen, worin das mystische Erleben über jene hinausgeht, als zufällige krankhafte Zutat und Verzerrung seitens des Einzelnen auszulegen und damit völlig dem Geltungsbereich der Psychopathologie zu überantworten. Eine

[1] s. Maudsley, Emanuel Swedenborg, in JMS XV 169ff.
[2]
Nach Maudsley: 'monomanische Form von Manie', aaO. 189. 191 ff, Andere Übergangsfälle zwischen 'Wahnsinn' und 'Erwecktheit' s. bei E. Meyer, Rel. Wahnideen, in ARX VI z.B . 6f. 10ff. 15ff. (theoretisch ziemlich unklar).
[3] S. z.B. Vallonet Marie, AN 1896 419.


Kap XI. Religiöser Wahnsinn.     (S. 128)

'religiöse' Bedeutung besäße dann jenes Mehr nicht länger (wenn auch natürlich eine 'religionswissenschaftliche').

Diese einfache Lösung der Lage wird indes schon innerhalb der Psychopathologie selbst vereitelt durch jene bereits erwähnte tiefer schürfende Deutung, welche die Wahnvorstellungen und zugleich alles, was sich an eigenartigen Erfahrungen an sie anschließt, inhaltlich aus den eigentlichen Wurzelvorgängen der Krankheit selbst entspringen läßt, - womit offenbar auch an die Wurzeln der banalen religiösen Vorstellungen und Erlebnisse gegriffen wird.

Diese tiefer schürfende Arbeit ist neuerdings auch für die paranoiden Geistesstörungen unter den Anregungen der 'Psychoanalyse' in Angriff genommen worden. [1]

Ich gehe indes auf diese Anwendung der psychoanalytischen Grundgedanken auf die 'religiöse' Paranoia und Dementia darum nicht ein, weil sie nur einen Ableger eng verwandter und viel weiter ausgebauter Forschungen auf dem Gebiete von Krankheiten darstellt, die anscheinend in der religiösen Pathologie eine ungleich größere Rolle spielen: der Psychasthenie und der Hysterie.

Die psychopathologischen Begriffe sind tatsächlich in allen diesen Fällen nahezu die gleichen. Wir werden jedenfalls beide Krankheitsbilder, die sich der neueren 'Tiefenpsychologie' so fruchtbar erwiesen haben, in ihrer Anwendbarkeit auf die Inhaltsdeutung jenseitiger Erfahrungen genau erwägen müssen und dürfen erwarten, daß damit auch die 'religiösen' Erscheinungen der Paranoiker und Dementen theoretisch ihre stillschweigende Erledigung finden werden.

[1] s. z.B. Jung, Dementia und (populärer): Der Inhalt der Psychose (Schr. zur angew. Seelenk. Nr. 3, Lpz. u. Wien 1908).

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