Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 99)

Die Erwartung, mit der wir an die Betrachtung religiöser Automatismen herantraten, scheint also nicht gänzlich getrogen zu haben. Deutlicher als im Falle der Ekstasen glauben wir hier Entwicklungen bis zur Bildung zweiter Persönlichkeitsphasen verfolgen zu können, damit aber in der Tat die reicheren Formen seelischer Spaltbildungen für die Deutung religiöser Komplexbildungen und Reifungsvorgänge nutzbar zu machen.

Dies aber war ja unser Leitbegriff bei den letzten Erörterungen. Wir suchten die Ekstase mit einer alternierenden Phase zu vergleichen. Die Dürftigkeit unsrer Ergebnisse veranlaßte uns, denselben Vergleich an den Erscheinungen des Automatismus zu erproben; denn der Automatismus - so folgerten wir aus den vorausgegangenen Darlegungen - ist ein Analogon, ein Verwandtschaftsgebilde der Ekstase: die Ekstase führt als Ich an die Oberfläche, was im Automatismus von unterhalb der Oberfläche her sich bemerkbar macht.

Hat die Betrachtung der religiösen Automatismen diese Gleichsetzung gerechtfertigt? Oder erheben nicht vielmehr manche der mitgeteilten Beobachtungen Einspruch dagegen? Hätten nach unsrer Voraussetzung nicht z.B. die Heiligen, aus deren Automatismus 'Gott' oder' Christus' in der Ich-Form gesprochen, in der Ekstase sich als 'Gott' oder 'Christus' gebärden müssen?

Ein derartiges Sich-als-Gott-gebärden scheint in der Tat gegeben, wo der Ekstatisch-Somnambule etwa das Passionsdrama aufführt. Aber gerade von solchen wird uns keineswegs berichtet, daß sie zu andern Zeiten Automatismen im Namen Christi gezeigt hätten.

In andern Fällen freilich, wie bei manchen der kamisardischen Propheten, ist das Zusammenfallen des ekstatischen und des automatischen Subjekts ein genaues, und es läßt sich ein gradweises Abblassen der wachen Ich-Persönlichkeit beobachten, während jenes Subjekt unverändert bleibt: ich erinnere an gewisse oben [1] beschriebene Zustände 'inspirierten' Redens und Schreibens, in denen Ekstase und Automatismus sich gleichsam begegnen und vermittels deren sie unmerklich ineinander übergleiten. Ich verweise etwa auch - was uns beinahe schon als

[1] s. 76f. 86.


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selbstverständlicher Folgesatz erscheint - auf die Gleichheit der Methoden in der Hervorrufung oder Auslösung der Ekstase einerseits, des Automatismus anderseits. Entselbstung, Abkehr von der Welt und ihren Zerstreuungen, Aufgabe des Vertrauens in Geschöpf und Ich, innige Hinkehr zur Welt der religiösen Vorstellungen, Einkehr in sich, Versenkung im Gebet, erwartungsvolle Passivität der Einstellung, etwa noch ein Reiz als 'Anschlag' [1] - diese alle dienen ebensosehr zur Vorbereitung und Herbeiführung ekstatischer Erlebnisse, wie zur Aufrufung der 'Führung' in allen Formen, vom leisen innern 'Zug', dem 'Hinweis' des Geistes, bis zur geschlossen-persönlichen Äußerung durch Hand oder Mund.

Im Gebet kniend 'empfängt' Finney seine Predigttexte mit solcher Gewalt, daß sie ihm 'durch Körper und Seele' zu gehen scheinen und er vor Zittern kaum schreiben kann; und solche Predigten, die stets am stärksten wirken, 'sind nicht mein, sondern vom Heiligen Geist in mir’. [2]

In der Hingegebenheit der Kommunion 'erhält' S. Teresa gehörte Anweisungen bezüglich eines Hauskaufes, die ihre bisherige Absicht unwiderstehlich umstoßen und auf ihre Zweifel hin durch die Worte bekräftigt werden: Ich bin es. [3] - 'Sprich Herr, dein Knecht höret,' braucht Baxter gelegentlich nur zu sagen, um die prophetische Rede seines Mundes zu entfesseln. [4]

'Hier bin ich, Herr,' sagt gleicherweise der Kamisarde Durand Fage, und Cavalier braucht nur zu bitten, um 'im Geiste' jede Auskunft zu erlangen. [5] Immer im Grunde auch hier die Erfahrung, die ja die ganze Ekstatik beherrscht, daß 'je mehr die eigenen Kräfte der Seele ruhen, desto verständlicher die Bewegungen Gottes sind'. [6]

Solche Beobachtungen und Überlegungen entscheiden offenbar für den Psychologen über die Analogie von Ekstase und Automatismus im allgemeinen'. Wo dagegen die Übereinstimmung des Subjekts und des Inhalts keine strenge ist, müssen weitere Überlegungen den Kern der Lehre retten.

Man muß sich etwa vorstellen, daß der außerbewußte Komplex wenigstens seinen hauptsächlichen Neigungen und leitenden Vorstellungen nach einheitlicher Natur sei, im einzelnen aber noch einige Freiheit in der Wahl seiner Äußerungsformen habe.

So mag selbst eine 'bereitliegende Einstellung' [7] des Ich, die gelegentlich Ekstasen von anscheinend reinem Gefühlsinhalt ermöglicht, zu andern Zeiten den Boden für phantastische Personenbildungen abgeben, die sich dann automatisch in der Ichform äußern. Und natürlich würden solche äußerste Wandlungen und Übergänge andere umschließen, die weit weniger schwer zu glauben wären.

Im allgemeinen also gestatten die beschriebenen Tatsachen doch, den größten Teil der Psychologie der Spaltungen schon jetzt für die Deutung jenseitigen Seelenlebens auszunutzen. Seine Jenseitigkeit sehen wir schon

[1] Bernieres-Louvigni 42. 142. Vgl. o. S. 79.
[2] Finney 77; vgl. 81 und George Müller, Autobiography 67.
[3] Graham, Life of S. Theresa II 305f.
[4] Baxter, Narrative, z.B. 148.
[5] Pr XII 288; Misson 122; Margar. Corton. 118. 135; Auger 90 (über Rupert von Deutz).
[6] Bourignon, Leben 178
[7] S. o.s. 79.


Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 101)

jetzt z.T. darauf beruhen, daß es einer überstarken Neigung zum Verlauf 'in mehreren Stockwerken' gehorcht, wodurch allein schon die Einheitlichkeit des Anschlusses an die 'wache Welt' des normalen Ich gestört wird.

Der Jenseitige ist auf allen Stufen seines 'Weges' in besonders hohem Maße ein Mensch der unterschwelligen Binnenbildungen, die auf eine religiöse Wandlung in ihm hinzielen. Häufig keimen sie in ihm schon von früh auf, ziehen ihn von der Welt ab, geben ihm das Bewußtsein 'einer arbeitenden Kraft in seiner innerlichen Tiefe' [1]! und der Vorbereitung großer Entscheidungen.

Die allgemeine Gedrücktheit, das seelische Elend, die tiefe Unruhe und Angst, die Zerrissenheit . und Gespanntheit, das quälende Verlangen, dabei das oft betonte Gefühl einer dunklen Erwartung, einer Leere, eines Bedürfnisses - ein 'Zug des Geistes' [2] - alle diese Kennzeichen der Vorbekehrungszeit stimmen durchaus mit denen überein, die wir häufig dort beobachten, wo ein 'unter- bewußter' Komplex einem automatischen Hervorbrechen entgegen arbeitet, oder wo ein 'inspiratorisches' Schaffen, das Erzeugen eines Geistes- oder Kunstwerks sich anbahnt, aber noch nicht zur Äußerung gelangt, oder aber unterdrückt wird.

Man lese etwa die Schilderung jenes profanen Automatisten, [3] der, solange er seine mediumistischen Anlagen unterdrückte, sich halb wahnsinnig vorkam, später aber, als er mit dem 'Spiritismus' bekannt wurde und seine Anlage sich ausleben ließ, aus einem innerlich zerfallenen ein glücklicher und normaler Mensch wurde.

Nähert sich die Zeit der eigentlichen Leistung, so wird der Automatist oft von chaotischen Massen halbgeformter Bilder besessen, hört Flüstern, sieht Zeichen, [4] fühlt einen Druck gegen die Stirn und während der Äußerung selbst mitunter ein 'gewaltiges angestrengtes Arbeiten im Gehirn'. [5] - Und religiöse Automatisten liefern natürlich durchweg verwandte Zeugnisse.

Man beachte etwa, was einer der bedeutendsten 'inspirierten' Redner unter den Kamisarden über jene neun Monate währende Zeit seines 'stummen Schluchzens und Gärens' erzählt, an deren Ende er in eine große Ekstase fällt, die ihm den Mund öffnet und ihn gleich auf drei Tage unter die 'Einwirkung des Geistes' stellt. [6]

'Ehe der Heilige Geist herabkommt', sagt Radajew, der schon erwähnte russische Mystiker, 'wird Verfinsterung des Verstandes und Druck in der Brust gefühlt.' [7] Auch Baxter schildert die große und anhaltende 'Bedrücktheit', die entstehe, wenn es nicht zur 'Äußerung' komme, [8] und Mme. Guyon fühlt sich 'erleichtert und bei besserem Befinden nach dem Maße ihres Schreibens. [9]

Der Vergleich solcher Druckgefühle mit den Erfahrungen der Vorbekehrungszeit wird noch einleuchtender, wenn wir bedenken, daß jene Gefühle eben durch den Widerstand entstehen, dem der automatische

[1] Worte der Jane Leade, Revel. of Revelations 2.
[2] Vgl. z.B. Starbuck 60-62; J. Leade, aaO. 6 f.; Chapot I 89f. 144f.
[3] Du Prel, Stud. I 124.
[4] Mrs. Finch in PS XXXIV 720.
[5] Dr. Krasnicki über Frl. Basler in PS XXIV 414. Ähnlich bisweilen schon beim Suchen nach einer Vorstellung: Moll 252.
[6] opération de l'Esprit: Misson 43.
[7] Aktengemäß (aus Dobrotworski) bei Grass 218.
[8] Baxter, Narrative 35.
[9] Guyon, Vie II 118 (vgl. das ganze Kap. XXI, bes. 223. 229); Delacroix 156f. 166. 172.


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Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 102)

Ablauf zunächst begegnet, und daß anderseits ein solcher - bewußter - Widerstand gegen den nahe gespürten, als Schicksal empfundenen Komplex ein sehr gewöhnliches Merkmal der Vorbekehrungszeit ist, während er den Einbruch des Komplexes hinausschiebt, vergrößert er auch seine Spannung und steigert mit der größeren Absonderung des Heranreifenden auch dessen Explosivkraft. Dabei mag die Furcht, die der erweckte Sünder so häufig aus religiösen Lehren über künftige Strafen bezieht, als eine seelisch zersetzende Kraft die innere Spaltung noch weiter begünstigen.

Auch die Bekehrung begreifen wir ihren formalen Erscheinungen nach nunmehr schon besser als den ersten bedeutenderen Durch- und Einbruch des erstarkten außerbewußten Komplexes. Es ist dabei wertvoll zu beobachten, daß die Methodik ihrer Entbindung wiederum wesentlich verwandt ist jener, die das ekstatische wie auch das automatische Ich entbindet: immer wieder kehren wir zu jenem Doppelschema der Massen und Kräfte zurück, das einerseits Aufrufung und Stachelung des Komplexes - den 'Anschlag' -, anderseits Entspannung des Wach-Ich, passive Einstellung, Erwartung fordert.

Jene Stachelung besorgt in der Praxis der Bekehrung jede dringende Darbietung von Vorstellungen, deren Gefühlswert dem des kommenden Komplexes verwandt ist: z.B. der Hinweis. auf die 'Liebe und Gnade Gottes' oder - bezeichnend für die anthropomorphe Wirksamkeit religiöser Vorstellungen – auf die Teilnahme gütiger Umstehender. [1] -

Die gleiche Bedeutung der suggestiven 'Hebung' des Komplexes kommt ja der Förderung des altmodischen Methodisten zu, man solle zum Zwecke der Bekehrung fest glauben, daß Gott das Heil und die Reinigung von Sünden nicht nur dem Einzelnen in der Schrift versprochen habe und ausführen könne, sondern daß er es 'jetzt tun könne und wolle', ja daß er es jetzt tue; [2] oder dem verwandten Ratschlag des neueren Erweckers, man solle beten, daß Gott 'jetzt, jetzt mit Macht, jetzt mit mehr Macht, jetzt mit noch mehr Macht' seinen Geist ausgieße, Gebete, die in Zwischenräumen von einigen Minuten 'wieder und wieder', einzeln und von Allen zusammen geleistet werden sollten. [3]

Nicht minder verständlich nach allem über Ekstase und Automatismus Gesagten ist uns nun aber die Methodik der Entspannung, welche die des Anschlags ergänzt. [4] Zahllose Einzelvorschriften der Bekehrungspraxis zielen darauf hin, jede etwa übriggebliebene Wurzel des Eigenwillens abzugraben und damit jene Entspannung zu vollenden. So etwa: man solle allen verzeihen, gegen die man einen Groll hat, ehe man zur 'Versammlung' kommt, also den entscheidenden Versuch zum

[1] Noch Raffinierteres über Lenkung der Krise (z.B. 'Berührung mit dem Ellenbogen') bei R. A. Torrey, How to promote and conduct a successful revival (Lond. [1901]) 157ff. 171.
[2] Fletcher, Perfection 57f. 61.
[3] Phillips (über E. Roberts) 232f. 241; vgl. 237. 227. S. die Rolle dieses Entschlusses zum 'Jetzt oder nie' bei Finney 10. 12f.
[4] Beide setzen natürlich 'Reife' des Komplexes voraus. Vgl. dazu S. Teresa IV 65f. (Mor. IV c. 3) und ihren 2. Bericht an Rodr. Alvarez.


Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 103)

Durchbruch macht; [1] man solle jeden Zweifel fahren lassen, in dem sich Pochen auf eigenes Urteil verpanzern und damit die willenlos empfangende Haltung hindern könnte; von 'Gott' allein solle man jede Wirkung erwarten, seinen Verheißungen blind vertrauen, auf ihn die Last abwälzen: sein Wille geschehe, - ein Satz, dessen Festhaltung notwendig die völlige innere Stillung herstellen muß.

Fast jede ausführliche Bekehrungsgeschichte läßt den Punkt hervortreten, wo diese Ich-Entspannung die innere Quelle entfesselt; eine krisenhafte Zuspitzung jener 'Gelassenheit', der völligen Versenkung des eigenen Wollens in das göttliche, auf welche die Mystik stets so großen Nachdruck gelegt hat. [2] Vor ihm sich beugen, sich unterwerfen - bend - war das erste und letzte Wort Evan Roberts', eines der größten Praktiker der Erweckung. [3]

Aber auch der Zustand während und unmittelbar nach der Bekehrung bietet Merkmale der Vergleichbarkeit mit Eigentümlichkeiten abnormer Bewußtseinszustände und Phasen. Nach der vorgetragenen Anschauung hat mit dem Nahen der Bekehrung eine hypnotische Tiefe, die Keimgegend somnambuler Ichphasen und ekstatischer Umkippungen, sich näher an die Wacheinstellung herangeschoben.

Im Augenblick der Bekehrung selbst ist ihr beherrschendes Hervorbrechen sehr häufig eindeutig zu beobachten: die Bekehrung erfolgt augencheinlich in einer Art von ekstatischem Wirklichkeitsverlust, oder in jenem verflüssigten, Ich-verflüchtigenden Zustande, der sooft das Umkippen, den Übergang von einem Ich zum andern bezeichnet.

Ein von Nettleton Bekehrter, der nach höchst gesteigerter Sündennot sich in leidenschaftlichen Ausrufungen an Gott gewandt hatte, schien (wie er selbst es beschreibt) in einen Zustand der Bewußtlosigkeit [4] hinzusinken’.

'Als ich wieder zu mir selbst kam, lag ich auf den Knien und betete, nicht für mich, sondern für Andere. .. Meine Eigensorge schien sich ganz und gar in Sorge für Andere verloren zu haben.' [5] - David Brainerd sagt von dem gleichen entscheidenden Augenblick, er sei 'in Gott verschlungen gewesen', so daß er kaum an sich zu denken vermocht habe'.

Ein Kennzeichen der hypnoiden, 'unterbewußten' Artung des Bekehrungzustands kann man auch in gewissen intellektuellen Überleistungen erblicken, die zuweilen die Bekehrungskrise auszeichnen

[1] Vgl. Phillips 339.
[2] Fast alle älteren deutschen Mystiker; Carlstadt bei Erbkam I97.
[3] S. z.B. Phillips 278. Die myst. Lehre stellt sich fast einen physischen Zwang Gottes vor, in die Räume einzudringen, welche die Entselbstung für ihn 'leerpumpt': S. Jean II 210 (Sub. I. II c. 15 s. fin.); Eckehart 10. 13. 149f.; Heppe 501 (Poiret). Vgl. de Cort 122. Ausdrücklich bei H. Wood, Ideal Suggestion 58. Eine bemerkenswert verwandte Lehre des Li R bei Legge, Religions of China 207.
[4] insensibility, eig. Fühllosigkeit, Unempfindlichkeit.
[5] Aus A. A. Bonar, Nettleton and his Labours 261 bei James, Varieties 215.
[6] Aus Edwards' und Dwights Life of B. (New Haven 1822) bei James, aaO. 214. Ähnlich Ratisbonne 25; Joseph Main bei Wells 96ff.; J. Wesleys Zeugnis bei Davenport 152 (im Traum); Cutten 77 (desgi.); Hastings 152; Dr.Schofield in der Einleitung (S. 13) zu Dyer; Starbuck 92. 112f. 379 (im Schlafe).


Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 104)

und augenscheinlich mit ähnlichen Tatbeständen der hypnologischen Beobachtung wesentlich identisch sind. Berichte über eine angebliche Erhöhung der geistigen Fähigkeiten im Schlaf, in der Hypnose, im Somnambulismus bilden seit alters ein umfangreiches Kapitel: Dichtungen und andere literarische Erzeugnisse, im 'Traum' entworfen oder vollendet; [1] Zeichnungen oder Malereien, mit größter Schnelligkeit und Genauigkeit von bewußt dazu Unfähigen ausgeführt; [2] mathematische, schachliche, mechanistische Lösungen, im 'Schlafe' gefunden; [3] wissenschaftliche Probleme, im Traume bewältigt, nachdem das Wachen vergeblich mit ihnen gerungen [4] - sollen die geistige Überlegenheit des 'Unterbewußtseins' beweisen. -

Die übertriebenen Schlußfolgerungen, die man vielfach aus diesen Tatsachen zog, sind heute größtenteils auf ein nüchternes Maß zurückgeführt. Wir sehen nicht nur ein, daß die Traumleistung fast nie über das hinausgeht, was der betreffenden Person 'im Wachen' ebenfalls an sich möglich ist; wir wissen überdies, daß auch im Wachen die schöpferische Leistung sich größtenteils auf den gesamten Hintergrund des Bewußtseins und seine aufgespeicherten Schätze stützt, [5] die ja im Schlaf verfügbar bleiben, und daß der Unterschied zwischen Wachen und gewissen Schlafphasen überhaupt nicht übertrieben werden darf.

Wir erwägen zudem, daß die Entspannung des Schlafes zuweilen geradezu die Bühne frei legt für den Eintritt von Vorstellungssynthesen, die durch die Anstrengungen des wachen Zustands gleichsam 'eingeklemmt' worden waren. [6]

Wir wissen auch, daß gewisse Reaktions- und Assoziationszeiten im somnambulen Zustande verkürzt sind; [7] daß sich gewisse Sinne in ihm verschärfen; [8] daß die Beobachtung erleichtert, die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einzelne Bewußtseinselemente erhöht ist; [9] schieben dies alles aber lediglich auf die eingetretene Einengung des Bewußtseins, [10] die jede Störung durch den Wettbewerb anderer Bewußtseinsinhalte fernhält.[11]

Endlich aber - und damit komme ich auf den hier zu berücksichtigenden Punkt, lehren uns zahlreiche Beobachtungen eine Erhöhung des Gedächtnisses, d.h. der Erinnerungsfähigkeit im hypnotischen Zustande kennen, die unstreitig eine wesentliche Grundlage auch seiner angeblich gesteigerten Intelligenz bildet.. 'Vergessene' Sprachen

[1] Belege s. bei Myers I 91. Kreyher I 54; Dendy 277; Macnish, Philosophy of. Sleep 159; d'Espérance 59ff.; Tir. Ekst. I 242ff.
[2] PS XXXI 546ff.; XXXIV 672f.; JSPR XVI 210ff.
[3] S. z.B. du FreI, Entd. I 95; Kreyher I 52; R. H. Collyer, Exalted states of the nervous system..., 3. Aufl. (London 1873) 66; Staudenmaier 66f.; Pr XII 11f.; JSPR XI 3I0ff.; ÜW VII 28.
[4] Ein interessantes philologisches Beispiel: Pr XII 14f.; ein juristisches: Abercrombie 306f.; andere: ÜW XIII 305 (aus APs 1905, Levaux); Burdach, Die Physiol. als Erfahrungswiss. III 469 (du Frel, Entd. I 98).
[5] Vgl. o. S.44.
[6] Vgl. hierzu Jastrow 93f.
[7] Vgl. betr. Tast- und Gehörssinn Beaunis, Le somn. provoqué 102ff.
[8] Vgl. Referat in JPN XX (1913) S. E 183f.
[9] Vogt in ZH IV 238. Vgl. Moll 139f.
[10] Vgl. JPN aaO.; Döllken in ZH IV 97; Stout in HJ II 54.
[11] So bes. Stout aaO. - Experimentelle Nachweise erhöhter rechnerischer Leistungen: N. Ach in ZH IX 1ff.; Obersteiner, Der Hynotismus 57.


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Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 105)

werden vom Somnambulen wieder benutzt, [1] im Wachen kaum in den Anfangsgründen erlernte anscheinend fließend beherrscht. [2] Gelegentlich gehörte Musikstücke, gelesene oder gehörte Schriftsätze, Romankapitel, Schauspielakte, gelehrte Abhandlungen, die dem Interesse und dem Verständnis des Subjektes ganz fern liegen mögen und im Wachen völlig vergessen waren, können im abnormen Zustand unter Umständen bis ins kleinste Einzelne wiedergegeben werden. [3] Auch die Fähigkeit des gedächtnismäßigen Einprägens ist entsprechend gesteigert, so daß eine Somnambule 50 ihr vorgesprochene Verse fehlerfrei zu wiederholen vermag, zu deren Erlernung sie im Wachen angeblich zwei Tage gebraucht hätte. [4]

Die für uns bedeutsamste Form dieses überlegenen somnambulen Gedächtnisses aber ist seine Fähigkeit, Ereignisse zu reproduzieren, die biographisch zu weit zurückliegen, um noch erinnert zu werden. Dr. Bramweil z.B. fand, 'daß Personen, die im normalen Zustande nichts erinnern konnten, was vor das siebente oder achte Lebensjahr fiel, in der Hypnose sich auf Dinge besannen, die sich im Alter von zweieinhalb Jahren ereignet hatten.' [5]

Ferner ordnen sich zuweilen dem hypnotischen Bewußtsein die Bilder der Vergangenheit in auffallender Weise zu zusammenhängenden Reihen und nehmen dabei halluzinatorische Deutlichkeit an. Der Schlafende schaut gewissermaßen einer Reihe von 'Guckkastenbildern' zu, die sich ohne sein Zutun vor ihm entrollen und entweder einzelne Lebensabschnitte, oder gewisse bedeutsame Augenblicke, oder gar die ganze Vergangenheit in einem rasch verlaufenden panorama-artigen Überblick darzubieten scheinen. [6]

Zu allen diesen Beobachtungen nun bietet die Erweckungskrise augenscheinliche Parallelen, die auch sie als eine Leistung eben der 'hypnotischen Tiefe' erscheinen lassen. Gelegentliche Erzählungen von auffallenden Gedächtnisäußerungen solcher, die anscheinend die Bekehrungskrise durchschreiten, sind durchaus nicht selten. [7]

Bekannt sind auch die Berichte, nach welchen viele der Inspirierten unter den Kamisarden (deren einige wohl mit gewissen Erweckten in eine Klasse zu stellen sind) während des ekstatischen Redens sich des 'schönsten Pariser Französisch' bedienten, auch wenn sie im wachen Zustand angeblich nur ihre bäurische Mundart sprachen und verstanden und weder lesen noch schreiben konnten, was ja von 'unwissenden und beschränkten' Bauern des 17. und 18. Jahrhunderts ohne weiteres glaublich ist. [8]

[1] Passavant, I. Aufl. 234; MES II 2. St. 85.
[2] W. A. Hammond, Nerv. Derangement (N. Y. 1881) 117. Vgl. den verwandten, viel zitierten Fall bei G. H. Schubert, Gesch. der Seele II 95.
[3] Mayo 194; Ladame, La névrose 105 (du Prel, Ph. d. M. 311); Ochorowicz 8; Abercrombie 320ff.
[4] J. H. D. Pétetin, Electricité animale (1808) 256; vgl. Hack Tuke 29; Pr VI 426. Gutbeglaub. Fälle außerordentlichen optischen Gedächtnisses: Schubert, aaO. II 62 (nach Diderot); du Prel, Entd. I 91 (nach Séguin); Preyer, Der Hypnotismus 71; Janet, Aut. 147.
[5] Braxnwell in Pr XII 194.
[6] S. die schöne Selbstbeobachtung von Dr. Marcinowski in ZH IX 15. 31.
[7] S. z.B. Gibson 251f.
[8]  Vgl. Misson 14 (Jean Vernet über seine Mutter); W. Jessen in AZP XI 185f. (Jurieu über die I6jähr. Hirtin Isabeau Vincent); Kreyher I 63f. (Cl. Arnassan über den 'elenden, einfältigen' Pierre Bemand).


Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 106)

So bezeugt Caladon d' Aulas von einer etwa 40jährigen paeuvre idiote de paysane, die er als Bediente eines seiner Freunde kannte, - 'gewiß die einfachste, unwissendste Person, die je in unsern Bergen aufgewachsen war;' der er nicht das Zusammenfügen von vier französischen Worten zutraute -: 'Ich bin mehrfach Zeuge gewesen', wie sie französisch predigte; 'nie hat sich ein Redner hören lassen wie sie...

Es war ein Strom der Beredsamkeit: es war ein Wunder; und was ich sage, ist nicht im mindesten übertrieben.' [1]  Falls wir die Voraussetzung wahrer Besessenheit durch einen überlegenen Geist ablehnen, so wird uns wohl nur die Annahme übrigbleiben, der Zeuge habe doch ein wenig übertrieben, oder aber die Ekstatische habe, gleich allen übrigen, im Lauf ihres Lebens mehr französische Kanzelberedsamkeit angehört, als ihr bewußt war oder ihre Umgebung ahnen konnte, und das Gehörte in der Ekstase wieder von sich gegeben.

Sehr natürlicher Weise nimmt die Steigerung des Gedächtnisses während der Erweckungskrise häufig die Form einer ungewöhnlich klaren und umfassenden Erinnerung an eigene frühere Sünden an, indem zur gründlicheren Bereitstellung des Vergangenen ein auswählendes Sonderinteresse tritt.

Marie de l'Incarnation wird am Tage ihrer Bekehrung 'plötzlich gefesselt von einem Anblick aller Fehler, Sünden und Unvollkommenheiten [ihres] ganzen Lebens - klar, deutlich, gewisser, als menschliche Worte auszudrücken vermöchten', [2] und der Angela von Foligno werden durch 'eine gewisse Erleuchtung der Gnade aus den Tiefen der Seele alle [ihre] Sünden in die Erinnerung zurückgebracht'. [3]

Solche ins Einzelne gehende Sündenvorhaltungen finden sich zuweilen auch bei Personen, die weder vorher noch nachher sich religiös auszeichneten, und machen dann mit ihrer moralisierenden Färbung den Eindruck eines gleichsam fehlgeschlagenen Bekehrungsversuchs der ,somnambulen Tiefe.

Vielen bekannt mag der Bericht sein, den Baron Üxküll (unterm 23. Mai 1869) an Prof. Perty gelangen ließ: 'Ich hatte, schreibt er, letzten Winter in Nizza einen eigentümlichen Traum, eine Art Vision in einer Reihe von Bildern, und zwar drei Nächte nacheinander. Ich sah nämlich mein ganzes Leben von frühester Kindheit bis zur Gegenwart ganz deutlich vor mir vorüberziehen, so daß ich die Szenen zeichnen könnte, in der klarsten und prägnantesten Weise.

Dabei war immer eine korrigierende Stimme in mir, die stets auf die Wahrheit hinwies, wenn ich mich über etwas täuschen wollte. Noch mehr nahm mich aber dabei in Anspruch die Deutung dieser Art Selbstschau, ihre ethische Erklärung, wobei meine Seele, obschon im Traum, erzogen und geläutert wurde und ich mich in meinem Gewissen gereinigt und expliziert fühlte.' [4]

Noch deutlicher erscheint das aus dem Rahmen des übrigen Lebens Herausfallende dieser Erfahrung im Fall eines Genfer Korrespondenten der 'Münchener Ztg.', der, im Duell verwundet, blutspeiend auf der Erde liegend und bereits vom

[1] Misson 68f.; vgl. 104; Calmeil II 317.
[2] Chapot I 67.
[3] Thorold 93f. Vgl. noch Bradleys Fall bei James, Varieties 191; Reitz IV 289f.; Ideler I 311; Divine Cloud 217; Th. L. Harris, Arcana of Christianity (1867) § 196.
[4] Perty, Myst. Ersch. II 397f.


Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 107)

Dunkel umgeben, nichts mehr sieht, als 'nur mein ganzes Leben mit allen meinen Sünden... [Dies] stand vor mir wie eine von grellem Blitz beleuchtete Szene! Was ich in diesem Moment seelisch gelitten, an Reue und Unzufriedenheit mit mir selbst, war ganz furchtbar und wiegt. eine Ewigkeit in der Hölle reichlich auf.' [1] Mag man auch in diesem seelischen Schmerz die Verkleidung eines körperlichen sehen: eine auswählende Überleistung des Gedächtnisses bleibt unbestreitbar gegeben.

Der Umstand, daß der Erzähler Ursache hatte, den Tod unmittelbar zu erwarten, erinnert an die bekannte Häufigkeit solcher panorama-artigen Lebensschau in den letzten Augenblicken Sterbender. Auch diese Erfahrungen betonen häufig das Moment der sittlichen Selbstbeurteilung und Läuterung und erweisen damit ihre Verwandtschaft mit erwecklichen Vorgängen.

In dem viel angeführten Fall des späteren Admirals Beaufort folgte auf die 'stürmische Empfindung' des Ertrinkens ein Gefühl vollkommener Ruhe, wie vor dem Einschlafen, wobei die Tätigkeit des Geistes, im Gegensatz zu den Sinnen, außerordentlich verstärkt schien und das Subjekt, in unfaßlicher Schnelligkeit der Gedanken rückwärtsgleitend, jeden Vorfall seines vergangenen Lebens in rückschreitender Folge und als 'vollständig ausgeführtes Gemälde vor sich sah, mit allen, auch den kleinsten Zügen und Nebenumständen, und jeden Auftritt von einem Bewußtsein von Recht und Unrecht oder von einer gewissen Erwägung von Ursache und Wirkung begleitet.' [2]

Die folgende Selbstbeobachtung Littlefields zeigt die moralische Zielstrebigkeit des fraglichen Erlebnisses noch deutlicher.

'Während eines Sturmes', schreibt er, 'im Atlantischen Ozean am 13. Juli 1848 an Bord des Schiffes Forest Monarch klammerte ich mich mit beiden Armen an einem Pfosten fest... Indem ich in dieser Lage verharrte, glitt ein Panorama meines Lebens vor mir vorüber. [3] Zwei oder drei Worte, aus Buchstaben von poliertem Golde geformt oder mit Feuerflammen geschrieben, wurden mir vorgehalten.

Diese Worte waren so gewählt, daß sie irgendeine unweise oder sündige Tat anzeigten. Sie blieben in unverminderter Helligkeit stehen, bis ich ernstlich und demütig um Vergebung gebeten hatte... Sobald ich gebührend bereut hatte, verschwand das betreffende Wortgebilde und andere traten an seine Stelle, bis wie zuvor im Geiste Genugtuung gegeben war. Dies dauerte eine Zeitlang und schwand dann dahin.' [4]

Die ebenfalls viel zitierte verwandte Erfahrung des Johann Schwerdtfeger ist besonders dadurch merkwürdig, daß sie in einer nur mittelbaren und doch sinntiefen Verbindung mit dem Vorgang des Todes stand und überdies einer Erweckung gleichgekommen zu sein scheint.

[1] PSXXXI 767f.
[2] Aus Haddock in Fechners Centralbl. f. Naturw. u. Anthropol. 1853, Kol. 43ff., in I. H. Fichtes Anthropologie, 2. Aufl. 402ff. u. seitdem oft. Vgl. hierzu Fechners Centralbl. 1853 Kol. 774; Passavant, 2. Aufl. 99; F. W. Evans, Autobiogr. of a Shaker (o. O. 1869) 25 (Ertrinkende); Ludlow 141 (Narkose); Schallberg, Unsterblichkeit 17ff. (Seckendorfs bekannter Traum), 54 ff. (Pfeffel); ]ames, Varieties 392 f.
[3] Wörtlich: passierte Revue.
[4] Aus Littlefields Reminiscences 203 bei Riley 191 f. Anm. 37.


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Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 108)

Nach dem ausführlichen Bericht des Hornhauser Pfarrers Kern an die preußische Regierung in Halberstadt v. J. 1733 machte Schwerdtfeger drei 'Ohnmachten' durch, von denen die erste, einstündige, die kürzeste war, die zweite, längere, sich bereits mit Visionen verband: eine Stimme rief ihm zu, er müsse ins Leben zurück, um seine Vergangenheit zu untersuchen und dann vor dem Richterstuhl Gottes zu erscheinen; nach der dritten, vierstündigen, zwei Tage später, während welcher das Subjekt bereits 'tot' erschien, wurde nach Kern geschickt, der somit gewisser- maßen als Augen- und Ohrenzeuge berichten konnte.

'Der Kranke übersah sein ganzes Leben und alle Fehler, die er in demselben begangen hatte, selbst die ihm ganz aus der Erinnerung gekommen waren. Alles war ihm so gegenwärtig, als sei es erst jetzt geschehen.' Er hatte herrliche Töne gehört, unaussprechlichen Lichtglanz gesehen und große Wonne gefühlt.

Die Erde ekelte ihn als ein Jammertal an. Nachdem er anscheinend völlig genesen, waren die Schmerzen und Lähmungen (wohl hysterischer Natur) geschwunden, die zuvor trüben Augen leuchteten. Aber wie er voraussagte, starb er nach Verlauf zweier Tage. [1]

Erlebnisse dieser Art geben wertvolle Winke bezüglich der Art, in der sich das unterbewußte Seelenleben am Auf- und 'Ausbau' des sittlichen Charakters beteiligt. Und gerade unter diesem Gesichtspunkt ist die Unzulänglichkeit der üblichen wissenschaftlichen Theorien der 'panoramatischen Lebensschau' der Beachtung wert.

Sie suchen ihrer, wie der Hypermnesie überhaupt, ausschließlich mit physiologischen oder allenfalls assoziationspsychologischen Begriffen Herr zu werden. Im Rahmen der Annahme physiologischer 'Spuren' der zu erinnernden Vorstellungen läßt die Theorie der hypnotischen Hypermnesie z.B. sowohl die 'abgeblaßten' Spuren als auch die unwegsam gewordenen Verbindungen zu ihnen dadurch aufs neue verfügbar werden, daß die Einengung des psychischen Feldes, die 'Herabsetzung der Erregbarkeit der gehemmten Zentren' auf irgendeinem Wege - sei es infolge Ersparnis nervöser Energie, oder zirkulatorischer Reaktion, oder sonstwie - 'für die stattfindenden psychologischen Vorgänge sekundär eine hypnotische Hypermnesie' setzen. [2]

Dies würde erklären, daß Erregungen des Gehirns von rein physischem Ursprung unter Umständen die Erinnerungsfähigkeit steigern, wie etwa maniakalische Zustände, Fieber, starke Gefühlsausbrüche, epileptische Vorerregung, gewisse Vergiftungen u. dgl. m. [3] Und es mag dann verlockend erscheinen, zumal die so häufige Übererinnerung Sterbender auf

[1] U. a. bei Fechner, Zend-Avesta, I. Aufl. III 28f. Üppige visionäre Entwicklung zeigt die weniger bekannte Erfahrung des Joh. Propheter (1773), bei J. F. v. Meyer, Blätter f. höh. Wahrheit, 2. SammI. (Frankf. a.M. 1820) 361 ff. Ebenso reich visionär der Originalfall bei Splittgerber, Schlaf, 2. Aufl., II 48ff.
[2] Vogt in ZH VII 337. Vgl. 'Panorama'-Erfahrungen als epileptische Aura: Féré 171 und Hughlings Jackson in Brain XLII 179, sowie das 'Herunterlesen des Sündenregisters' durch eine 'alles wissende' Stimme bei Dementia praecox-Kranken: Jung, Dementia 105 Anm.
[3] In maniakalischer Erregung: Clouston, zit. in Pr XI 354; Willis, zit. bei du Prel, Ph. d. M. 296; R. Hall, bei Dendy 240. - Im Fieber: Freeborn in The Lancet, 12. Juni 1902; Hamilton, Lectures I 344; Abercrombie 147; Carpenter, Princ. of Mental Physiol., 6. Aufl. 437. - Bei Vergiftung: Kiesewetter in Sphinx 1886 I 138.


Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 109)

physiologische, etwa Giftwirkungen zurückzuführen, [1] besonders im Falle Ertrinkender, also mit Erstickung Bedrohter; [2] denn Erstickung bewirkt ja Vergiftungsvorgänge in Blut und Geweben.

Indessen werden alle Hinweise auf rein physiologische Reizungen von 'Spuren' als Grundlage der gesteigerten Erinnerung natürlich entwertet durch die schon den obigen Beispielen zu entnehmende Tatsache, daß Übererinnerung auch unter Umständen auftritt, die eine physiologische Verursachung nahezu ausschließen und vielmehr eine psychologische Deutung empfehlen.

Kein Geringerer als Darwin hat ein panoramatisches Erlebnis berichtet, das er - während des Falles von einer nur wenige Fuß hohen Mauer hatte. [3] Ein anderer Zeuge sah 'alle Ereignisse seines Lebens', während er, zwischen den Schienen der Eisenbahn liegend, einen Zug über sich hinwegfahren lassen mußte; [4] und ein französischer Krieger, Namens Derepas, berichtet:

'Am 2. Dezember 1870 lag ich mit zerschmetterter Hand 50 Schritt vor den Preußen. Die Kugeln pfiffen so anhaltend um mich, daß ich meinen Tod als unausbleiblich ansah. In diesem Augenblick trat mein ganzes Leben bis in seine geringsten Einzelheiten mit außerordentlicher Klarheit vor mich. Ich glaube noch vor meinem inneren Blicke dies vollkommen scharfe und klare Bild zu sehen.’  [5]

Egger hat denn auch eine psychologische Deutung des Vorgangs vorgeschlagen: Jeder gewöhnliche Sterbende, meint er, überdenke und bespreche seine Vergangenheit, angeregt durch die 'Vorstellung des Todes', und gerade der plötzlich vor den Tod Gestellte habe ein 'lebhaftes Ich', [6] welches aus bedeutsamen und schnell verlaufenden Bildern 'bestehe'; der panoramatisch Schauende zeichne sich nur durch die halluzinatorische Deutlichkeit der Bilder und die Geschwindigkeit ihres Ablaufs aus; aber das seien Eigentümlichkeiten der Traumerlebnisse überhaupt, und sein Zustand sei der eines Träumers.

Die behauptete 'Zahllosigkeit' der Bilder, [7] ihre angebliche 'Gleichzeitigkeit' [8] seien wohl Übertreibungen; es werde genügen, von einer Mehrheit und raschen Folge zu sprechen. [9] Eggers Ausführungen machen auf mich den Eindruck, als sollte der Versuch gemacht werden, eine problemreiche Erscheinung durch Herabnivellierung und Banalisierung gleichsam zu entmannen.

Schon seine Bezweiflung der Gleichzeitigkeit - oder sagen wir: Beinahe-Gleichzeitigkeit - muß sich auf Widerspruch selbst bei medizinischen Beobachtern gefaßt machen. [10] Aber auch das oben hervorgehobene konstruktive und zielstrebige Element des Panoramas scheint Egger zu gering einzuschätzen,

[1] Allgemeine Beispiele prämortaler Hypermnesie: Abercrombie 149; Winslow 418ff.; Féré 171.
[2] Beispiele bei Egger, Le moi des mourants, RPh XLII (1896) 358 f.; Winslow, aaO.416f.; Abercrombie 389.
[3] Zit. v. Myers in Pr XI 354.
[4] Nach Egger in RPh.
[5] PS XXVIII 370.
[6] moi vif, RPh XLI 37.
[7] Ein Fall von Heim.
[8] Ein Fall von de Quincey (Confess. of an Engl. opium-eater).
[9] RPh XLII 367f.; XLI 37. 30.
[10] S. z.B. die merkwürdige hysteriologische Beobachtung bei Sollier I 133.


Kap IX. Komplexpsychologie der Erweckung.     (S. 110)

wenn er kurzhin von seiner (doch wohl rein assoziativ zu denkenden) Hervorrufung durch die 'Vorstellung des Todes' spricht. Schon die Form der Darbietung verrät ja häufig beträchtliche Ausgestaltung und Durcharbeitung von seiten im Verborgenen bleibender Seelenkräfte.

So berichtet Ludlow von einem Freunde ein Panoramaerlebnis von seltsamer Symbolik: Dieser 'sah im Finstern plötzlich eine Art von Lotterierad vor sich erst in langsame, dann in zunehmend schnelle Drehung geraten. Aus seiner Öffnung flogen 'Sinnbilder' heraus, die. .. in regelmäßiger Folge jede geringfügigste Handlung seines vergangenen Lebens angaben...

Sein ganzes Leben flog vor ihm wie Blitze in diesen flammenden Sinnbildern dahin. Vollkommen Vergessenes... und Gleichgültiges, selbst so bedeutungslose Handlungen, wie das Schneiden eines Weidenzweiges, alles flog vor seinen Sinnen vorüber mit Pfeilgeschwindigkeit; und dabei entsann er sich ihrer als wahrer Vorkommnisse und erkannte ihre Anordnung innerhalb seines Lebens.' [1]

Überhaupt fällt ja auf, daß das 'Panorama' nie oder fast nie in einem Wiederdurchleben des Frühererlebten, also einem assoziativen Ablaufen wirklich so oder so dagewesener Vorstellungsgruppen besteht, sondern in einer Folge in sich geschlossener Bilder von selbständiger Anlage - 'charming pictorial sketches and paintings' - sagt ein Gehängter, der vor dem Abschneiden sein Leben bis ins Kleinste vorüberziehen sah [2] - Bilder, in denen der Sehende sich selbst 'objektiv wie einen Anderen' wahrnimmt. [3]

Dieser Bilderablauf ist auch bald biographisch vorwärts-, bald rückwärts-gerichtet; [4] er enthält bald angeblich 'alles' (was wir ja stets bezweifeln werden), bald eine Auswahl einzelner Bilder; und gerade diese Auswahl hat, wie wir gesehen haben, für das Bewußtsein des Sehenden meist einen Sinn: sie soll ihn lehren und sittlich aufklären. Mindestens aus diesem Grunde auch hüllt sich die Erinnerungsleistung so oft in das Gewand gewaltiger jenseitiger Bilder, von deren Anschauung das Subjekt im Tiefsten erschüttert, mitunter auf Lebenszeit gewandelt zu sich zurückkehrt. [5]

[1] Ludlow 112.
[2] Winslow 414.
[3] M. L... von sich, bei Egger, RPh XLII 632; vgl. Seckendorfs Fall bei du Prel, Ph. d. M. 316f.
[4] Z.B. Egger aaO.; vgl. den Fall PS XXVIII 371 (Sturz in einen Brunnen).
[5] Vgl. o. 108 Anm. 1 Splittgerber, Schlaf II 45. Dies unterscheidet sie von Dr. Marcinowskis biographischen Träumen (0. 105) und noch mehr von der 'Reminiszenzenflucht' gewisser Neurasthenischer: O. Binswanger, Die Neurasthenie 115.

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