Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap VIII. Automatismen.    (S. 81)

Tatsächlich sind nun aber solche hypothetische Deutungen nicht der einzige Ausweg aus dem unbefriedigenden Zustand unserer Vergleichung von Ekstase, außerbewußtem Heiligungskomplex und Teil-Ich. Aus der Darstellung der seelischen Spaltungen wissen wir bereits, daß der 'zweite' Komplex nicht nur durch seinen 'Eintritt' (unter Verdrängung des Ich) sein Dasein erweisen kann, sondern auch durch Einmischung in das fortbestehende Ichleben, durch Automatismen.

Daß Automatismen im geistlichen Leben häufige Vorkommnisse seien, müßte nun geradezu gefordert werden, wenn die Voraussetzung richtig ist, daß seine Entwicklung unter der Leitung eines außerbewußt reifenden Komplexes steht. Diese Erwartung wird durch die Beobachtung bestätigt, und wir erhalten in den Automatismen des religiösen Lebens nicht nur eine allgemeine Stützung der bisher vorgetragenen Anschauung, sondern auch einen neuen Maßstab für die innere Reifungsstufe des religiösen Komplexes.

Denn in der Tat zeigen sich diese Automatismen nicht bloß als unpersönliche zerstreute 'Rinnsale', als vereinzelte Antriebe oder Einfälle (wo sie sich dann natürlich in die banalsten Formen außerbewußten Mitlebens verlieren), sie durchlaufen vielmehr alle Stufen bis zur zusammenhängenden Äußerung einer selbstbewußten, charakterbestimmten, zielstrebigen zweiten Ich-Persönlichkeit, mit der eine Unterredung geführt werden kann, wie zwischen Leonie I und Leonie II, oder zwischen Sally und Miss Beauchamp in einem ihrer Zustände. Schon diese Spanne vom Rinnsal bis zur Persönlichkeit liefert eine beträchtliche innere Mannigfaltigkeit der Erscheinungen; und doch natür-


Kap VIII. Automatismen.    (S. 82)

lich nicht die einzige, die uns am Leben des religiösen Automatismus fesselt. Die Art z.B., das Mittel, man könnte sagen: die Sprache seiner Äußerung ist eine wechselnde; denn fast jedes Sinnesgebiet und jede motorische Bahn steht zu seiner Verfügung und kann in den mannigfachsten Graden technischer Vollendung gehandhabt werden.

Sein praktischer Inhalt, seine innere Zielstrebigkeit von Fall zu Fall ist nicht minder beachtenswert; denn wenn er natürlich auch stets - der Voraussetzung nach - dem religiösen Nutzen des Betreffenden dient, so ist es doch nicht unwesentlich, ob er unmittelbar der ursprünglichen 'Bekehrung', der asketischen Entselbstung, der moralischen Einzelberatung, der allgemeineren Lebensführung, der Lenkung einer ganzen Gemeinschaft, der dogmatischen Belehrung, der Erbauung oder was sonst noch dient.

Es wäre pedantisch und doch verwirrend, diese einzelnen Gesichtspunkte in gesonderten Übersichten durchführen zu wollen; die Wirklichkeit der Tatsachen wirft sie natürlich unlösbar durcheinander. Vielmehr will ich die kurze Darstellung, die ich dem Leser schulde, in eine Ordnung bringen, die bald dieses, bald jenes Interesse in den Vordergrund rückt und doch im allgemeinen von früheren und einfacheren zu späteren und reicher entwickelten Erscheinungen fortschreitet.

Ich beginne mit einem kurzen Hinweis auf Automatismen, die soz. die Berufung zu jenseitigem Leben verkörpern.

Von der berühmten Bourignon werden Automatismen - und zwar innere Einsprachen in der Ich-Person; wir können vermuten: in Form von schwach entwickelten Halluzinationen, oder vielleicht von zwangsweisem Halbsprechen - aus ihrer Jugend berichtet, da ihre geistliche Entwicklung jedenfalls erst in den Anfängen war. Man wird vielleicht Zweifel in die Berichte setzen, wie ja die Bourignon überhaupt von der neueren Kritik sehr hart verdächtigt worden ist.

Immerhin fallen die bedenklichen Züge in die späteren Abschnitte ihres bewegten Lebens, und was die Automatismen ihrer Jugend anlangt, so dürfen wir nicht nur bei der hochbegabten Frau genügend klare Erinnerung für eine zutreffende Darstellung voraussetzen, sondern der Typ dieser Erfahrungen an sich ist auch hinreichend verbreitet, um diese Darstellung glaubhaft erscheinen zu lassen.

Wie dem auch sei, es wird von ihr berichtet, daß Gott schon in ihrer Kindheit, 'soweit sie sich zurückerinnern konnte', 'ganz gemeinsam' mit ihr umging und im Herzen redete, so daß sie damals der Meinung war, daß alle Menschen diesen nahen Umgang mit Gott besäßen.

Dieser innere Unterredner nun scheint bei ihr geradezu das Mundstück von Entwickelungen gewesen zu sein, die auf ihre Berufung und völlige Vergeistlichung hinarbeiteten.

'Verlaß alles Irdische; sondere dich ab von der Liebe der Geschöpfe; verleugne dich selbst,' spricht er zu ihr, worauf sie zunächst erschrickt und in Angst gerät, weil sie sich durch die Liebe der irdischen Dinge gefesselt fühlt. Noch als sie später zu besonderer geistlicher Arbeit berufen werden soll, weigert sie sich dessen und tritt der inneren Stimme mit Zweifeln und Einwürfen entgegen; z.B.: Er: 'Willst du denn nicht arbeiten in meinem Weinberge?' Sie: 'Ich bin nicht geschickt dazu; gebrauche lieber jemand anders als mich.' - Als sie in ein Augustinerkloster gebracht wird, damit


Kap VIII. Automatismen.    (S. 83)

die Unruhe sich lege, die ihre gesteigerte Religiosität um sie her entfachte, fragt sie Gott, ob dies der Ort sei, wohin er sie gerufen habe; was er verneint: sie müsse seinen evangelischen Geist wieder aufrichten; der Klöster, darin dieser herrsche, sei jetzt noch keines auf Erden; sie werde davon die Ursache und der Anfang sein. 'Gehe von hier; ich habe mit dir etwas anderes vor'. 'Höre du auf', sagt er ihr später, um sie vom mündlichen Gebet zur Kontemplation zu führen, 'Ich will alles tun.' [1]

Die 'Bekehrung' selbst ist von Manchen als ein Automatismus bezeichnet worden, und nicht ohne Sinn, sofern sie oft den ersten entscheidenden Einbruch aus dem außerbewußt reifenden Komplex ins Ich darstellt. Auch wir haben schon erfahren, daß sie häufig von einzelnen greifbar automatischen Erlebnissen - vor allem Gesichten und Einsprachen - begleitet wird. [2]

Wie nun aber die 'Bekehrung' durchaus nicht die abschließende Vereinheitlichung des Lebens zustande bringt, sondern höchstens den Komplex zu entscheidender Mitherrschaft heranführt, so ist in jeder praktischen Hinsicht meist erst der Fortgang des geistlichen Lebens das Hauptfeld der automatischen Führung, und an den Formen dieser Führung, die von so vielen Erweckten dankbar gepriesen worden, läßt sich in der Tat die ganze innere Formentwicklung der automatischen Phase beobachten.

In vielen Religiösen beschränkt sich diese innere Lenkung des WilIens auf die unbestimmten Formen der Neigung oder des EinfalIs, wie sie jeder Mensch in Augenblicken erfährt, da er die Zügel persönlichster Selbstbestimmung ein wenig schießen läßt. Sind ja doch gewisse Magnete immer unter Oberfläche unsres Bewußtseins tätig.

Doch scheint es, daß der geistliche Mensch dieser Art der halb passiven Selbstlenkung besonders gründlich unterworfen ist, schon weil er gewohnheitsmäßig den 'eigenen' Willen geringschätzt und zu vernichten sucht. Anderseits ist seine Natur gerade infolge der Bekehrung viel mehr auf einen Akkord gestimmt und seine Handlungsweise in jeder Lage durchschnittlich eindeutiger bestimmt als die des Weltmenschen.

Er hat darum meist gute Gründe, sich der ungewolIt auftretenden ZielvorsteIlung wilIig hinzugeben. Dies ist der 'leise innere Zug', das 'Flüstern der Stimme des Geistes Gottes', auf die der Religiöse hinhorcht, während er vor einem Entschlusse stilIhält.

'Zu gelassenen', d. h. entselbsteten Seelen sagt Gott: 'Denke du für mich, so will ich für dich denken.' 'Ohne [diese] Anregung Gottes,... ohne seine Sendung unternimmt [eine solche Seele] nichts, auch nicht ein gutes Werk.' 'Nur reine, stille Seelen fühlen diese zarten Züge und Eindrücke,' durch die sie erleuchtet und

[1] BouIignon, Leben 5. 19f. 48. 54f. 61f. Vgl. über S. Franziskus: Vita trium soc. c. II (Ende); über die automatisch-unwiderstehliche 'Berufung' des geborenen 'Schamanen' z.B. AR VIII 467ff.; XIV 235. Indisch: Oman, aaO. 230f.
[2] Das sonderbarste mir bekannte Beispiel einer von Automatismen begleiteten und gleichsam erzwungenen Bekehrung bietet M. Fontaine, Staatssekretär unter Ludwig XV. S. Calmeil I 331ff. (aus Montgeron) und vgl. die Bekehrung des Quäkers J. Gilpin, bei Ideler I 34ff.


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Kap VIII. Automatismen.    (S. 84)

geleitet, aber auch bestraft, gebessert, gestärkt, verwandelt werden. Der eigene Wille ist dabeI nicht notwendig abgeschnitten, wohl aber in einem Zustande der überleichten Biegbarkeit, die ihn zum gefügigen Werkzeug jenes innern Zuges macht.

'Man muß rudern, aber nicht gegen den Wind. Wir müssen tun und wirken, aber nach dem Triebe des Heiligen Geistes, der sich von geübten Seelen wohl fühlen läßt, die nur wirken, weil sie von Gott bewegt werden und also seine Bewegungen wohl kennen.' [1] - Wieweit diese Führung in kleinen und kleinsten Dingen ausgenützt werden kann, ersehe man etwa aus folgenden Angaben über den amerikanischen Sektierer Prince: 'Bedurfte er einen Stuhl in seinem Zimmer, so fragte er den Geist um Erlaubnis, sich einen zu kaufen.

Nicht einen neuen Rock zog er an, nicht einen Regenschirm nahm er in die Hand, ohne zum Gebet seine Zuflucht genommen zu haben. Ja sogar in den allergewöhnlichsten Dingen gab er auf, selbst zu denken, und folgte nur noch den Eingebungen des Geistes, wie er es nannte, auch wenn sie ihm gegen sein eigenes Bestes zu gehen schienen.' [2]

Zuweilen mag eine gewisse Plötzlichkeit, oder überraschendes Auftreten, oder besondere Bildhaftigkeit, oder aber ein gewisses Abliegen von dem Jüngstbewußten, oder das Eintreten auf Gebet hin den Augenblick der inneren Leitung von dem übrigen innern Erfahren abheben und den Frommen veranlassen, sie in besonderer Weise 'Gott' zuzuschreiben.

'Während ich’, erzählt z.B. Finney, 'in Brownville war, offenbarte mir Gott, daß er seinen Geist in Gouverneur ausgießen werde, und daß ich dorthin gehen müsse und predigen... Ich hatte an den Ort seit Monaten nicht gedacht; aber im Gebete wurde mir die ganze Sache gezeigt, klar wie der lichte Tag, daß ich mich aufmachen müsse und in G. predigen.' [3]

Große Steigerungsmöglichkeiten der Deutlichkeit und Stärke besitzt der Automatismus zunächst nach der Seite der sinnlichen Ausprägung hin, in der Art, wie er sich 'sensualisiert', wie sich (um das Beispiel der Führung beizubehalten) die Zielbegriffe zu innerlich gehörten Befehlen, zu vorwärtstreibenden Gesichten, also zu Halluzinationen heranbilden; über alle jene verschiedenen Grade der Entwicklung hin, die uns die Psychologie der Halluzinationen kennen gelehrt hat: von der Halbwahrnehmung-Halbvorstellung bis zur völlig nach außen versetzten und verörtlichten, von der Wirklichkeit nicht unterscheidbaren Sinnestäuschung.[4]

Seit den Zeiten des Sokratischen Daimonion hat manches berühmte und unberühmte Wesen einen namenlosen Warner oder Ansporner in Gestalt einer 'inneren Stimme' bei sich geführt. Aber der Eindruck besteht (der sich freilich nicht zur Gewißheit erheben läßt), daß religiös Erweckte in dieser Hinsicht bevorzugt sind. [5]

[1] Bernieres-Louvigni 43. 27. 32. 42; vgl. 14off.
[2] Dixon 239f.; Apostelgesch. 16, 6. 7.
[3] Finney 93. 97ff. Vgl. Gertrud I 117; Chasle 49.
[4] Dr. M'Dougall hat gegen Myers' Einordnung von Halluzinationen unter die Automatismen eingewandt, daß sie, als bewußt, dem normalen Bewußtsein angehörten. Aber auch motorische Automatismen können ja beobachtet werden und somit ins Bewußtsein fallen; dagegen ist ihre Erzeugung ebensosehr außer Zusammenhang mit den 'bewußten' Vorgängen, wie diejenige völlig irruptiver sensualer Automatismen.
[5] Die Gründe werden uns noch beschäftigen.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 85)

Wer Belege sucht, durchblättere etwa das Leben George Fox', des ersten Quäkers, [1] oder die seltsamen Taten und Erlebnisse Radajews, eines russischen Mystikers, dem die Stimme ganz wie dem Sokrates zuraunt: 'Geh nicht', wenn er aufbrechen will, oder: 'Du gehst ins Verderben', da er einer Vorladung folgt. [2]

Prof. Coe erwähnt einen Bekehrten, der seinen Namen zu hören pflegte, wenn er im Begriff war, 'irgendeine Sünde zu begehen'; [3] was an die alten, aber durchaus glaubwürdigen Bekenntnisse jenes Frommen erinnert, der Gott ein Jahr lang um einen guten Engel oder Führer gebeten hatte, und schließlich, seitdem er einmal die Worte gehört: 'Ich werde deine Seele erretten', bei jeder bösen Tat am rechten, bei jeder guten am linken Ohr sich berührt fühlte, und entsprechend bei der Annäherung ihm übel- oder wohlwollender Personen.' [4]

Heilige, die in der asketischen Selbstvervollkommnung begriffen sind, erhalten oft durch halluzinatorische Automatismen ins Einzelne gehende Anweisungen darüber, wie sie ihren Zwecken am besten dienen.

Marie von den Engeln hat gelegentlich ein Gesicht, das ihr zwei Wege zeigt, von denen der eine, dornenreich, zu einem Garten, der andere, glatt und eben, zum Abgrund führt, und hört eine Stimme: 'Die sieben Jahre sind vorüber; du mußt dein Leben (deine Lebensweise?) ändern’. [5]

Bei Evan Roberts, dem Walliser Erweckungsprediger, interessiert sich die Stimme vor allem für die religiöse Bewegung, an deren Spitze ihn Umstände und Gaben gestellt hatten: 'Du mußt gehen, du mußt gehen', sagt sie, - nämlich nach Loughor, dessen Bild ihm sogleich erscheint, und stellt ihn damit so sehr unter die Herrschaft eines inneren Zwanges, daß jeder Widerstand ihn erzittern läßt. [6]

Ein solches Interesse der führenden Stimmen oder Gesichte an dem Schicksal und der religiösen Politik geistlicher Gemeinschaften erscheint uns natürlich bei der beherrschenden Stellung, die dem automatistisch Begabten oft schon wegen dieser Besonderheit von seiner Umgebung eingeräumt wird.

S. Angela hat symbolische Gesichte, in denen ihr der religiöse Wert eines jeden ihrer geistlichen Söhne gezeigt wird. [7] In der Urgeschichte der Mormonen findet sich ein Bericht, wonach Joseph Smith einmal, als er auf seinen Stein im Hute blickte (wo ihm seine Übersetzungen halluzinatorisch buchstabiert zu werden pflegten), statt der Buchstaben des 'Buches' den Befehl erhielt, an einen Mann Namens David Whittner, der in Waterloo lebe, zu schreiben und ihn eilig mit einem Gespann herbeizubitten, um Smith und Oliver nach seinem Hause zu fahren und so einem geplanten Mordanschlage zu entziehen, der das Werk Gottes zu hindern trachte. [8]

Ein Beispiel durchweg geführten Lebens bietet Franz Schlatter, eine sonderbare Prophetengestalt der Neuen Welt.

[1] Fox, Autobiography 44.
[2] Grass 214.
[3] A. Coe, in PR VI (1889) 495.
[4] Aus Bodin (erster Hand) bei Magnan, Halluc. bilaterales 342 und Gurney I 478.
[5] Labis 48. Vgl. damit Davis, Staff 199. 211. 29. 324. 328. 363ff.
[6] Phillips 162f.; vgl. Fursac 37. 100ff.
[7] Angela 152 (c. XLVI); 154f. (c. XLVII). Vgl. Görres I 451f. Andere, auf religiöse Bewegungen bezügl. Visionen s. S. Teresa I 412 (Leben c. 40); Gertrud I 86; Bourignon, Leben 30; Phillips 224.
[8] Riley 199.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 86)

Im Elsaß geboren, in Amerika als Handwerker lebend, hatte er mit 30 Jahren eine Art Bekehrung erlebt. Am 25. März 1893 nämlich, 'um 3 Uhr', hatte er visionär die Dreieinigkeit geschaut und seitdem eine Stimme vernommen, die ihn aus seinem seßhaften Leben auf eine an Schrecknissen reiche Pilgerfahrt zwang.

'Folge mir', sprach sie, 'komm hervor, ein Einzelner in eine Welt des Wahns, so will ich dich zum größten Heiler seit den Zeiten Jesu machen und dir einen neuen Namen geben.' Durch die Wüstenei des mittleren Westens zog er barfuß, immer von seiner Stimme getrieben, prophezeiend, predigend und heilend, mehrfach seines herumtreiberischen Wesens wegen eingesperrt und gestraft, was er aber geduldig ertrug als Leiden, die der Menschheit zugute kommen müßten.

Er lehrte die Seelenwanderung und richtete, ein Schüler John Burns', die heftigsten Anklagen gegen die herrschende Korruption, die Macht des Geldes, die babelhafte Verwirrung der Welt, den Kleiderunsinn, den Schwindel der Gelehrsamkeit u. dgl. m. Dafür verkündigte er soziale Kriege und danach den Anbruch eines idealen anarchischen Zustandes, worin jede irdische Gewalt verschwunden sein und Jeder der göttlichen Stimme in ihm unmittelbar gehorchen werde. Beträchtliches Aufsehen erregte er durch seine Heilungen vermittelst Handauflegen und Gebet, ehe er von der Bildfläche verschwand - niemand wußte wohin! [1]

Aber Stimmen, Gesichte und andere Halluzinationen bilden nur eine Ausdrucksmöglichkeit des automatistischen Komplexes. Kaum weniger häufig bemächtigt er sich des Bewegungsapparates, und anstatt Ermahnungen, Ratschläge oder Prophezeiungen zu hören oder zu sehen, spricht der Erweckte sie zum Erstaunen des eigenen, mehr oder weniger erhaltenen, Bewußtseins aus.

Auch hier beobachten wir alle Stufen von leichten Bewegungsreizen bis zu vollkommenster Artikulation, anderseits von einer bloßen Entlastung der willkürlichen Sprechleistung durch ein mehr unwillkürliches Strömen - bis zur völligen Absonderung des redenden Komplexes vom wohlerhaltenen Ich.

Auf Erfahrungen eines solchen strömenden Halbautomatismus deutet z.B. Finney hin: 'Ich hatte mir, schreibt er, keinerlei Gedanken darüber gemacht, was ich predigen sollte. Der Heilige Geist beschattete mich und ich fühlte die Gewißheit, daß ich es wissen würde, wenn der Augenblick gekommen wäre. Der Geist Gottes überkam mich mit solcher Gewalt, daß es war, als hätte ich eine Kanonade gegen die Versammlung eröffnet.

Während mehr als einer Stunde kam das Wort Gottes durch mich zu ihnen in einer Kraft, die, wie ich bemerken konnte, alles vor sich hertrieb.' [2] - Und ähnlich Dr. Torrey, der bekannte Erweckungsprediger, der erst durch solche Erfahrungen über eine quälende Kanzelfurcht hinweggelangt war. 'Manchmal ist mir, als müßte ich mehr schreien als predigen, denn ich weiß, daß der Heilige Geist allein dabei beteiligt ist. Meine einzige Sorge ist es, mich selbst auszulöschen, damit er die Leistung vollbringen könne.' [3]

[1] Ein Auszug seiner kaum auftreibbaren Selbstbiographie (The life of the Harp in the Hand of the Harper) in Borderland IV 44Iff. - Ich sah einen angeblichen F. Schlatter in San Franzisco öffentlich 'heilen'.
[2] Finney 51; vgl. Hayes, A short study of the Edwardian Revivals in AJP XIII (1902) 566, über Barber.
[3] Vgl. J. Kennedy Maclean, Torrey and Alexander. The Story of their lives (London o. J.) 27; briefl. Äußerungen E. Roberts' bei Phillips 353, und Bucke 287 über Traubel.


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Kap VIII. Automatismen.    (S. 87)

Diese Steigerung der Kraft und Geschwindigkeit nach ist ja ein typisches Merkmal der unterbewußten Leistung, und die Babisten hatten daher recht, wenn sie 'rapide Konzeption und fließende Diktion neben grammatischer Korrektheit und Stilreinheit' als Erkennungszeichen des echten Propheten forderten. Sollte doch der Bab selbst 'tausend Verse in fünf Stunden rezitiert haben, ohne eigene Reflexion und ohne die Feder abzusetzen - das ist sicher von Gott.' [1]

Eine der sorgfältigsten und scharfsinnigsten Beobachtungen über voll ausgebildetes automatisches Sprechen verdanken wir Robert Baxter, einer der bedeutendsten Persönlichkeiten in Edward Irvings Apostolischer Kirche in London zu Beginn der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Über das erste Auftreten der 'Zunge' bei ihm selbst berichtet er, [2] daß er im Anhören der prophetischen Rede Anderer in tiefer Erregung sein Innerstes bloßgelegt gefühlt und mit tiefen Seufzern um Vergebung geschrien habe’: in diesen Seufzern bereits meint er nicht mehr ganz im Besitz des eigenen Willens gewesen zu sein.

'Ich war mir', schreibt er, 'während dieses Schreiens [zu Gott] einer Kraft der Äußerung bewußt, die mich über den natürlichen Ausdruck meiner Gefühle hinausführte,. .. einer erzwungenen Äußerung, die nicht mein eigen war, und einer Kraft und Gegenwart des Geistes, die auf natürliche Weise ganz unaussprechbar gewesen wäre’. [2]

Die Geburtswehen soz. der gründlicheren Aussonderung des automatischen Komplexes beschreibt dann Baxter in fesselnder Weise. 'Ich schwieg, aber, so gefaßt mein Geist war, mein ganzer Körper wurde krampfhaft erschüttert und während mehr als zehn Minuten war ich gleichsam durch ein Zittern meiner Glieder gelähmt, wobei meine Kniee aneinanderschlugen (und krampfhafte Seufzer mit entstiegen).

Während dieser Zeit hatte ich kein anderes Bewußtsein, als das des körperlichen Aufruhrs und eines unaussprechlichen Zwanges, der auf dem Geiste lastete, was mich zwar gefaßt und alles meines Tuns bewußt bleiben ließ, aber jede Äußerung verhinderte und mir als einzig klares Ziel den Wunsch eingab, um Einsicht in Gottes Willen zu beten. Sprich, Herr, Dein Knecht höret.'

Dies scheint denn auch geholfen zu haben, die zur ungehinderten Äußerung des Komplexes nötige passive Einstellung herbeizuführen; denn Baxter bricht nun ohne seinen Willen in einen pathetischen Wortstrom von alttestamentlicher Färbung aus, währenddessen er, wie er sagt, einen 'so schmerzhaften Zwang erleidet, daß jedes Wort, das ich aussprach, gleichsam mir abgerungen wurde.

Mein Geist war nie so völlig vom Geiste erfüllt, daß er willig fortgerissen worden wäre; vielmehr bestand durchweg ein Ankämpfen meiner natürlichen Kräfte gegen die zwingende Gewalt des Geistes.' Dies unterscheidet Baxters Erfahrung von den soeben angeführten. Er war, wie er angibt, stets bei Bewußtsein, sich selber reden hörend und nachträglich imstande, über seine Äußerungen wie die eines Andern zu berichten.

Von der ihn beherrschenden Erregung unterschied er stets deutlich die fremde Kraft, die auf ihn einwirkte, von der Erregung völlig gesondert war und sogar innere geistige Ruhe und Kraft mit sich brachte. Die Rede selber drang in seinen Geist ein, unerwartet, ohne Überlegung, Plan oder

[1] Roemer 31. Ahnliches bei Gobineau, Les religions et les philosophies dans l' Asie centrale, 3. Aufl. (Par. 1900) 462 Anm. I.
[2] Baxter, Narrative 147ff.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 88)

Anordnung von seiner Seite, das Werk des Augenblicks: 'Ich war wie das passive Werkzeug einer Kraft, die von mir Gebrauch machte.' In dieser Art nun predigte, betete, las er wiederholt 'im Geiste' oder 'in der Kraft'. Bald waren es Prophezeiungen im biblischen Stil über die Zukunft der Kirche und des Volkes Gottes, Androhungen göttlicher Strafgerichte über die treulosen Hirten, oder Ansagungen bevorstehender Ereignisse aus dem Bereich der letzten Dinge; bald waren es Predigten über Texte, die ihm selbst erst von der Kraft angewiesen wurden, oder Gebete um die Gaben des Geistes, um Erlösung von fleischlicher Schwäche, für Kirche und Volk, den König, seine Ratgeber.  [1]

Die Geschichte der Sekten zeigt uns Beispiele gläubiger Scharen, die, unter dem Einfluß eines oder einiger 'inspirierter' Redner, in allen Einzelheiten ihres Verhaltens beraten und bestimmt werden; wie etwa die pietistischen Amana-Kommunisten unter Christian Metz.

Diesem wurde im Jahre 1842 offenbart, daß alle seine Anhänger gesammelt und in ein fremdes Land geführt werden sollten. Später wurde ihnen Amerika als dieses Land der Zukunft gezeigt und die auszusendenden Kundschafter bezeichnet, ebenso gelegentlich Personen, die sofort, ohne Prüfungszeit, zur vollen Mitgliedschaft zugelassen werden sollten.

Neben Metz dienten hier noch Andere als 'Werkzeuge', die aber alle in Demut und kindlichem Gehorsam sich Gottes Regungen unterwerfen und ohne Menschenfurcht in Gottergebung wandeln mußten. [2] - Von den durchweg ähnlich geführten Kamisarden des frühen 18. Jahrhunderts bezeugte einer der bedeutendsten, Elie Marion: 'Unsere Inspirationen waren es, die uns ins Herz gaben, unsere Blutsfreunde und das Liebste auf der Welt zu verlassen, damit wir Jesu Christo nachfolgten...

Sie waren es, die unsern wahrhaft Inspirierten den Eifer um Gott und um die reine Religion mitteilten,. . . den Geist der Eintracht und Liebe, der unter uns herrschte, und die Verachtung der Eitelkeiten der Welt... Sie sind es allein, die unsre Kriegshäupter und Offiziere gewählt und geführt haben. Sie sind unsre Kriegszucht gewesen.

Sie haben uns gelehrt, das erste Feuer unsrer Feinde kniend auszuhalten und sie dann unter Psalmengesang anzugreifen... Sie haben die Traurigkeit aus unsren Herzen vertrieben, in den größten Gefahren vor dem Feinde, wie in den Wüsten und Höhlen der Erde, wo Kälte und Hunger uns mit Untergang bedrohten.' [3]

Aber nachgerade fast die wichtigste Art der automatischen Leistung Erweckter ist die Schrift, deren Erzeugnisse sich nicht nur zu größeren Zusammenhängen ansammeln, sondern auch dauern. Im übrigen beobachten wir auch beim automatischen Schreiben der Religiösen, wie beim Sprechen, alle Stufen seelischer Zerlegung: vom gesteigerten ungewollten Strömen bei halbgelöschtem Ich-Gefühl - bis zur bewußt beobachtbaren, scheinbar maschinenmäßigen Sonderleistung eines völlig

[1] aaO. 148. 5f. 8f. 13f. 15 ff. 43f. 55ff. 66f. VgJ. Eph. 6, 18; Jud. 20; Jac. 5..13; WeineI 82f.; Kappstein 214f.; Riley 191 Anm. 37 (Amesa Potter in Picton; aus Faith promoting Series No. 12 79); Mrs. Oliphant, The Life of Edw. Irving, 2. Aufl. (Lond. 1862) II 231. Vgl. allg. noch: E. Lombard, De la glossolalie chez les premiers chrétiens... (Lausanne 1910) und ZRP I 323ff
[2] Vgl. den Bericht über den 'Pilger' bei Riley 46.
[3] Misson 80f.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 89)

abgespaltenen Komplexes. Der erstere Typ dürfte indes in den berühmten überlieferten Fällen der vorherrschende sein.

So wenn Philo aus 'zehntausendfacher Erfahrung' berichtet, daß er zuweilen, wenn er 'leer [im Geist] an die Arbeit gegangen, plötzlich voll geworden; indem Gedanken auf eine unsichtbare Weise über mich ausgeschüttet und von oben her mir eingepflanzt wurden; so daß ich durch den Einfluß göttlicher Eingebung heftig erregt worden bin und mir weder des Ortes bewußt war, an dem ich mich befand, noch derer, die anwesend waren, noch meiner selbst, noch dessen, was ich sagte, noch dessen, was ich schrieb, wohl aber eines Reichtums der Auslegung und Erleuchtung,... die auf meinen Geist eine Wirkung hatten, wie der klarste Augenbeweis auf die Augen haben würde.' [1]

Ähnlich scheint Jakob Boehmes Zustand gewesen zu sein, der von seinem inspirierten Schreiben sagt, 'daß ich selber nicht weiß, wie mir geschieht, ohne daß ich den treibenden Willen habe; weiß auch nicht, was ich schreiben soll. Denn so ich schreibe, diktiert mir's der Geist in großer wunderlicher Erkenntnis, daß ich oft nicht weiß, ob ich nach meinem Geiste in dieser Welt bin, und mich des hoch erfreue... .' [2]

Unter den seit altersher zahlreichen Erzeugnissen des ungewollten Schreibens befinden sich lange Abhandlungen, die zu den namhaftesten des mystischen Schrifttums gehören. Mme. Guyon z.B. verdankt die Geschwindigkeit und Massenhaftigkeit ihres schriftstellerischen Schaffens zum guten Teil ihrer automatistischen Befähigung, und ihre außerordentliche Gabe der Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung verleiht ihren Angaben dabei besonderen Wert.

Diese Art des Schreibens trat bei ihr zuerst in Paris vor ihrer Abreise nach Gex andeutungsweise auf und entwickelte sich rasch, seitdem sie unter Lacombes Einfluß stand. Von der Abhandlung über den Glauben, die sie bei den Ursulinerinnen von Tonon schrieb, sagt sie selbst: 'Ich wußte weder, was ich schrieb, noch was ich geschrieben hatte,' und dies sei charakteristisch für alles, was sie seitdem geschrieben. Sie nennt dies 'durch den innern Geist und nicht durch meinen Geist' schreiben.

'Griff ich zur Feder, so wußte ich nicht das erste Wort von dem, was ich schreiben wollte... [Die Schrift] kam dann mit seltsamem Ungestüm. Was mich am meisten überraschte, war, daß das gleichsam aus der Tiefe [meines Wesens] hervorströmte [3] und nicht den Weg durch meinen Kopf nahm...

Ich habe nie einen Gedanken bewußt gebildet, habe auch niemals achtgegeben, wo ich stehen geblieben war; und trotz beständiger Unterbrechungen habe ich nie etwas übergelesen, außer gegen das Ende, wo ich eine oder zwei Zeilen überlas wegen eines halbgeschriebenen Wortes, das ich stehengelassen... Der Kopf war mir derweil so frei von aller Mitwirkung, daß er wie völlig ausgeleert war; ich war so abgesondert von dem, was ich schrieb, daß es mir gleichsam fremd war.'

Die außerordentliche Schnelligkeit, die so häufig für automatische Leistungen charakteristisch ist, beobachtete sie auch an sich. 'Den Kommentar zum Hohen Liede', sagt sie, 'schrieb ich in eineinhalb Tagen; und dabei empfing ich noch Besuche. Die Geschwindigkeit, mit der ich schrieb, war so groß, daß mein Arm

[1] Bei Clissold 66f.
[2] Claassen I 108; vgl. 5. Teresa I 117 (Leben C. 14); Görres 11 206f. (S. Thomas Aquinas).
[3] couloit comme du fond.


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Kap VIII. Automatismen.    (S. 90)

anschwoll und ganz steif wurde.' Auf diese Weise verfaßte sie nicht nur eine Anzahl umfangreicher lehrhafter Schriften, sondern auch Briefe und Gedichte. [1]

Ebenso deutlich rein automatisch scheint die Niederschrift bei Edward Maitland, einem neueren Mystiker, gewesen zu sein, dessen Erfahrungen überhaupt eine Fülle des Lehrreichen enthalten.

M. fühlte sich zu einer Zeit seines Lebens wie besessen von einem 'neuen Einfluß', dem er sich nur hinzugeben hatte, um zu finden, 'daß die Welt meinen Blicken offenlag. .. Der Geist schien seine Beschränkungen verloren zu haben und der Schleier hinweggezogen zu sein, der das Endliche und Unendliche scheidet...

Keinen Augenblick verlor ich die vollkommenste geistige Selbstbeherrschung, war vielmehr durchweg imstande, gleichsam neben mir selbst zu stehen und zuzuschauen, während ein Geist, der nicht mein eigener war, sich durch mich aussprach... Der Stoff kam in Strömen, die ich anzuhalten weder die Kraft noch den Willen hatte.' [2]

Schon die vorstehenden Bilder ließen Entwicklungen des Automatismus zu immer reicherem Ausdruck, weitergesteckten Zielen, gesteigerter innerer Festigung und Gliederung erkennen. Schreitet diese Entwicklung fort bis zur Bildung außerbewußter Sonderpersönlichkeiten? Diese Frage beschäftigt uns schließlich am lebhaftesten.

Eine wichtige Grundlage solcher Bildung ist bereits in der Tatsache angedeutet, daß der Automatismus von Mal zu Mal seines Auftretens einen gedächtnismäßigen Zusammenhang verrät. Mme. Guyon braucht, wie wir sahen, nach beliebiger Unterbrechung das zuletzt Geschriebene nicht durchzulesen, um den abgebrochenen Zusammenhang wieder aufzunehmen.

Wir kennen dieses genaue Wiederanknüpfen bereits als Eigentümlichkeit wiederkehrender 'zweiter Zustände', [3] und von religiösen Automatisten wird es nicht selten hervorgehoben. [4] Die Bildung einer Sonderpersönlichkeit, die auf solcher Grundlage möglich wird, ist in den bisherigen Beispielen vielleicht dort schon angedeutet, wo ein häufig auftretender Automatismus das normale Ich als ein 'Du' bezeichnet und behandelt.

Aber auch die weitere Mindestforderung, daß er sich seIhst als ein Ich bezeichne und behandle, ist in der automatischen Führung zahlloser Mystiker beiderlei Geschlechts erfüllt. Wie Medien ihren 'Kontrollgeist', so haben jene ein zweites 'Ich' in sich, das natürlich das Gebiet ihrer Glaubens- und Heiligungsvorstellungen vertritt, meist in der Maske - persona - eines Gottes, oder Heilandes, oder Engels. Diese Rollen beansprucht die innere Stimme mehr oder minder ausdrücklich. 'Ich bin es', hörte die hl. Teresa zu sich

[1] Delacroix 155; Guyon. Vie II ch. I § 2; das. 118; Opuse. 246. 263 (Torrens II, 3,6; I, 3).
[2] Maitland 72ff. (sehr gekürzt). Vgl. über J. William Lloyd bei Bucke 284f.; über Suso bei Vaughan I 345.
[3] S. oben 54.
[4] S. Auger 180 (nach Pomerius) über Ruysbroeck, wobei freilich die reichlich laxe Gedankenfügung seiner Schriften nicht vergessen werden darf. Vgl. Gertrud I 137; Drane II 119ff.; Dialogue de S. Catherine de Sienne... trad. E. Cartier (Par. 1855) I S. XXXf.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 91)

sprechen, und wußte wohl, daß damit Christus selbst gemeint sei. [1] Bei Angela von Foligno, einer der leidenschaftlichsten aller Himmelsbräute, führte sich der Heilige Geist mit größter Bestimmtheit während einer gott-begeisterten Wanderung ein, die sie selbst geschildert hat.

'An jenem Orte der Straße zwischen Spello und dem engen Wege, der gegen Assisi ansteigt, wurden die folgenden Worte zu mir gesprochen: Du bittest meinen Diener Franziskus, aber ich will dir einen anderen Boten senden. Und ich bin der Heilige Geist und komme zu dir, um dir solche Labung zu gewähren, wie du noch nicht geschmeckt hast.

Und ich will dich in deinem Innern begleiten, den ganzen Weg bis zur Kirche des hl. Franz, und Wenige werden ahnen, wen du in dir hast, und den ganzen Weg über werde ich mit dir ohne Aufhören reden, und du sollst nichts anderes hören können, als mich, denn ich habe dich gebunden, und bis du zum zweiten Male zur Kirche S. Francisci kommst, will ich dich nicht verlassen, so du mich lieb hast. - Und um mich anzufeuern, ihn zu lieben, begann er die folgenden Worte zu mir zu reden: Meine Tochter, Süßwerte, meine Tochter, mein Tempel, meine Tochter, meine Wonne, liebe mich, denn je mehr du mich liebest, je mehr bist du von mir geliebt. . . ' [2]

Die Personenhaftigkeit solcher inneren Stimmen drückt sich dann ganz natürlich in der Möglichkeit aus, daß der Fromme mit ihnen in ein Zwiegespräch gerate: sie erwidern ihm auf Fragen, auf Bitten, auf Einwände.

S. Margareta von Cortona, deren Leben in Lust und Leidenschaft begonnen hatte, gelangte später dahin, daß sie 'Gott innerlich reden und Antwort auf ihre Fragen erteilen hörte, wie wenn er wirklich vor ihr stünde.' Er hatte sie anfangs paupercula - arme Kleine - angeredet, und sie flehte ihn darum an, daß er sie Tochter nenne.

Worauf sie die Antwort erhielt: 'Du wirst nicht Tochter genannt, weil du noch in Ketten der Sünde bist. Wirst du dich aber durch eine Generalbeichte vollkommen von deinen Sünden gereinigt haben, dann wirst du unter die Töchter aufgenommen werden.' Die Folgen dieses Gesprächs sind beachtenswert.

Auf ein Gebet hin werden ihr alle ihre Fehler bis auf den kleinsten hell und klar vor Augen gestellt, und nach der nächsten Kommunion hört sie die süße Stimme Jesu, der sie Tochter nennt, wird mehrmals verzückt und erfährt darin jene Wonne, die wir als häufiges Merkmal fortschreitender Heiligung kennen. [3]

Im übrigen übernimmt auch der 'persönliche' Automatismus jede Rolle, die dem gelegentlichen und anonymen zufallen kann: die Führung des geistlichen Lebens, die Gewissensschärfung, die Beratung in Fragen asketischer Methodik, der kirchlichen Politik, des täglichen Lebens.

Der Marie von den Engeln sagt Jesus innerlich: 'Ich habe dich erwählt in deinen Schmerzen; sei unbesorgt, du wirst meine Vielgeliebte sein... In dem Maße, als du fortfahren wirst, dich selbst zu überwinden und dir Gewalt anzutun, wirst du wachsen in meiner Liebe.’ [4] Der Margareta von Cortona macht er durch innere Ansprache die Ankündigung: 'Jenen angenehmen Genuß, den du von mir

[1] Vgl. den im Maskulinum redenden Geist der Montanistin Maximilia, bei Bonwetsch 73; Weinel 83ff. 92f. (Ich-Form).
[2] Thorold 123.
[3] Margar. Cortona, 22. 39f.
[4] Labis 68.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 92)

suchst, behalte ich dir auf das Fest meines geliebten Evangelisten Johannes vor. Denn an diesem Tage wirst du am Altare deines Vaters (Franziskus) eine Süßigkeit erfahren, wie du sie noch nie erfahren hast.' [1] Und die verhältnismäßige Selbstständigkeit dieser führenden Persönlichkeit erweist sich dabei mitunter durch den Widerspruch, in den sich ihre Äußerungen mit den bewußten Wünschen oder Erwartungen des Frommen setzen.

'O Tochter', spricht Christus angeblich zu der eben erwähnten Heiligen, 'solange du lebst, wirst du diese volle Sicherheit des Glaubens, die du mit Tränen verlangst, nicht haben.' [2] - Für die helfende und beratende Überwachung des praktischen Lebens, der tausend Entschließungen, die die Arbeit des Mystikers in der Welt erfordert, bieten die Stimmen der hl. Teresa zahlreiche Beispiele.

Aus der Zeit ihrer Klosterstiftungen erzählt sie, daß während der Vorbereitungen zur Einsetzung des Konvents zum hl. Joseph, als sie mit der Kleinheit des gewählten Gebäudes unzufrieden war und auf ein anderes ihre Augen warf, wozu indes ihr Geld nicht reichte, der Herr nach dem Abendmahl zu ihr sprach: 'Ich habe dir schon früher gesagt, du solltest in das Haus ziehen, wie du könntest.

Und gleich als schrie er zu mir, sprach er weiter: O der Begierlichkeit des menschlichen Geschlechtes! Meinst du etwa, es werde dir noch an Erde mangeln? Wie oft habe ich unter dem freien Himmel geschlafen, weil ich keine Stätte hatte, wo ich mich hinlegen konnte! - Ich entsetzte mich,... ging in das kleine Haus hinein, teilte es ab und fand, daß es, so klein es auch war, sich dennoch zu einem Kloster eignete.' [3]

Margareta von Cortona wiederum erhält vom Heiland gelegentlich nicht nur eingehende Vorschriften über Einzelheiten des Prediger- und Priesterlebens und der Predigttechnik, sondern auch Anweisungen über die Besetzung von geistlichen Ämtern, bis hinab zum Ministranten.' [4]

Ein völlig anderen Kulturkreisen entstammendes und dabei zeitlich uns sehr viel näher liegendes Beispiel mag uns die wesentliche Übereinstimmung mystischen Erlebens in allen Breiten bestätigen. Ich denke an Ramakrishna, den bekanntesten Heiligen des modernen Indien, dem eine der berühmtesten Federn Europas eine Lebensbeschreibung und eine der feinsten eine Charakterschilderung gewidmet haben. [5]

Sein Leben, im Großen überblickt, erweckt ohne Zweifel den Eindruck einer von inneren und schließlich persönlichen Mächten ausgehenden Führung, die auf einen Schlußzustand als ihr Ziel zutreibt, in welchem sich der Heilige als vollendet, als auf dem Gipfel eines langen Anstiegs erscheint.

Ramakrishna war durch innere Stürme und Krisen von ungewöhnlicher Heftigkeit hindurchgegangen. In seiner inneren Welt verloren, hatte er der äußeren das Schauspiel grenzenloser Asketik geboten, während er in Wahrheit den Genuß der Dinge um sich her und die Rücksicht auf seinen Leib weit mehr vergaß, als unterdrückte.

Während dieser Jahre eines verzehrenden Dranges nach religiöser Erleuchtung und Vollendung hatten ihm seine Ideale in der Gestalt der bengalischen Göttin Kali Verkörperung angenommen, unter deren furchtbaren Symbolen sein Auge die Merkmale der zärtlichen, alles

[1] Margar. Corton. 48; vgl. 42. 90f. 136ff. 142f. u. oft.
[2] Das. 124; vgl. 155. 170. 185.
[3] S. Teresa 1319 (Leben c. 33).
[4] Margar. Corton. 202ff. Die Glaubwürdigkeit der Berichte im einzelnen ist natürlich nicht zu bestimmen; doch behaupten sie nichts, was nicht in neuzeitlichen Berichten glaubwürdiger enthalten wäre. S. z.B. Chasle 44f. 47ff. 94. 320.
[5] Max Müller und Sister Nivedita (Engländerin), Kali the Mother (Lond. 1900).


Kap VIII. Automatismen.    (S. 93)

(S. 93) Kap VIII. Automatismen.

hegenden Mutter zu erkennen meinte. Nach langer heißer Verehrung dieser Gestalt scheint er ihre Stimme in sich gehört und vertraute Zwiesprache mit ihr getauscht zu haben. 'Mein Sohn,’ sagte sie zu ihm, 'wie könntest du hoffen, die höchste Wahrheit zu erlangen, wenn du nicht die Liebe zu deinem Leibe und deinem kleinen Ich aufgibst?'

In solchen Augenblicken, berichtet er, überkam mich ein Strom geistigen Lichtes, das meinen Geist überflutete und mich vorwärtstrieb (auf der inneren Bahn). Mutter, rief ich aus, ich vermöchte nie von diesen irrenden Menschen zu lernen; aber von dir und dir allein will ich lernen. Und dieselbe Stimme erwiderte: Ja, mein Sohn. [1]

Am Ende und auf dem Gipfel seiner Entwicklung wird er als ein Mensch geschildert, dessen Eigen-Ich verschlungen war in eine Menschlichkeit und Süße, die allem Lebendigen mit vollem Herzen und innerstem Verständnis entgegentrat. Er sprach sogar, heißt es, nie mehr von Ich oder Mein, sondern zog es vor zu sagen: Er, der hier wohnt, dabei auf sein Herz weisend, oder gewöhnlich: meine heilige Mutter.

Gelehrte und Mächtige, die sich in seiner überschlichten Stube drängten, zusammen mit den Ärmsten und Schwächsten, fertigte er ab ausschließlich nach dem Maß ihres menschlichen Wertes oder Unwertes. Durch gelegentlich ausgestreute Worte der Lebensweisheit, durch den Zauber seiner eigenartigen Persönlichkeit, seiner harmlos kindlichen Fröhlichkeit, seines tiefen Humors, seiner glühenden Andacht, seiner Milde, seiner unermeßlichen Lauterkeit und Aufrichtigkeit erzog er sich unwillkürlich und unmerklich eine Schar von Jüngern und eine weite Gemeinde von Verehrern, zu der die Besten und Gebildetsten des Landes sich zählten. [2]

Der persönliche Automatismus halluzinatorischer Natur, in welchem der innerlich führende Komplex sich verkörpert, kann aber seine sinnliche Ausbildung noch einen Schritt weiter treiben, indem er nämlich die religiöse 'Persönlichkeit', deren Stimme bisher gehört wurde, auch als äußere Gestalt dem Auge des Geführten - häufig oder dauernd - sichtbar werden läßt. Zahlreiche Heilige haben z.B. in ständigem Umgang mit einem 'Schutzengel' gestanden, der sich für ihre Wahrnehmung von einem wirklichen Wesen nicht unterschied. [3]

Die durch Brentano bekannt gewordene Anna Katharina Emmerich sah - nach Art guter Halluzinantinnen - 'meist zuerst einen Glanz, und dann tritt (die Gestalt des Schutzengels) plötzlich leuchtend aus der Nacht'. Bald schwebt sie vor, bald neben ihr, aber stets ohne die Füße zu bewegen, leidlich reglos, der lange Talar vom Haar überflossen, durchsichtig und glänzend und schwer anzublicken.

Da er sehr schweigsam ist, antwortet er meist nur durch Neigen des Kopfes oder Bewegungen der Hand. Immerhin ist er mitteilsam genug, um ihr alle bedeutsameren Ereignisse im voraus anzuzeigen oder doch anzudeuten, Weisungen über ihr Verhalten andern Personen gegenüber - bis auf das einzelne Wort - über ihre Arbeiten und Geschäfte zu geben, u. dgl. m.' [4]

Zuweilen schweift die Rolle dieser Schutzengel beträchtlich in die Gebiete des praktischen, wenigstens des klösterlichen Lebens ab; an

[1] Ramakrishna 41.
[2] Nach der Charakteristik bei S. Nivedita, bes. 57-71.
[3] S. z.B. Imbert I 235; Dazza, Kap. 8, auch S. 94f. 270.
[4] Emmerich I 67. 69f. II 37f.


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Kap VIII. Automatismen.    (S. 94)

Vergessenes erinnernd, an Pflichten gemahnend usw., [1] und dann haben wir Tatsachen vor uns, die offenbar mit den bekannten 'Führern' der älteren Somnambulen und den Haupt-'Kontrollen' so vieler Medien wesentlich gleichartig sind. [2]

Die vollendete und würdigste Ausgestaltung dieses Typs läßt sich wohl am besten in dem berühmten 'Leopold' der Mlle. Smith beobachten, den wir in Flournoys meisterhaft zerlegender Beschreibung unschwer als die Verkörperung gewisser Wesensseiten und Neigungen des Mediums erkennen.

Leopold, der bald ins linke Ohr sprach, bald durch automatische Schrift, bald als gesehene Gestalt sich äußerte, kam und ging nach Belieben, häufig gegen die Wünsche des Mediums, spendete Trost, Ermutigungen, Mahnungen, gab Ratschläge und Befehle finanziellen, aber auch vor allem ärztlichen Inhalts, z.B. um die Unpäßlichkeiten des Mediums nicht mit Flournoys Versuchen zusammenstoßen zu lassen, u. dgl. m. [3]

Doch hier verlieren sich die Erscheinungen vollends ins Profane, wo wir sie erst weiter verfolgen wollen, wenn die Probleme psychologischer Deutung sich uns noch entscheidender zusammenballen.

Der gesehene und redende Schutzengel bildet nun natürlich bloß die unterste Stufe einer Hierarchie solcher Führer und Begleiter. Die ganze Bewohnerschaft des Himmels steht bereit, ihn zu ersetzen; Heilige beiderlei Geschlechts, wo solche geglaubt werden; und zuletzt die Götter und der höchste Gott selber. In christlichen Landen übernimmt am häufigsten der Gottessohn die Rolle des sichtbaren Führers und Beraters.

S. Katharina von Siena teilte es ihrem treuen P. Raymund als 'eine gewisse Wahrheit' mit, daß sie 'nie, weder von Mann oder Weib, das Gesetz des geistlichen Lebens gelehrt worden sei, sondern allein von meinem Herrn und Meister Jesus Christus, der es mir zu wissen gab nicht nur durch heimliche Eingebung, sondern auch indem er offenbarlich mir erschien und zu mir sprach, gleich wie ich jetzt zu euch spreche.’ [4]

Die vereinzelten Auftritte verdichten sich aber meist zu einem ganzen Roman, in welchem der sichtbare, redende Heiland als Führer in der Heiligung, als Bräutigam der Seele und als Berater des täglichen Lebens auftritt.

Das visionäre Leben der seI. Marguerite-Marie Alacoque, deren Gesichte die Einführung der Andacht zum Herzen Jesu bewirkten, kann dies so gut verdeutlichen, als irgendein anderes Beispiel. Sie hatte sich früh zum religiösen Leben hingezogen gefühlt und ein Gelübde ewiger Keuschheit abgelegt. Gebet und Askese in kirchlichen Formen hatten aber die Reste weltlicher Neigungen nicht zu ersticken vermocht, während sie schon von den 'glühenden Pfeilen der göttlichen Liebe' sich getroffen fühlte und den Heiland als einen eifersüchtig Liebenden empfand,

[1] Betr. kleinster Angelegenheiten des Lebens z.B. Ribet II 101f. (Agnès de Jésus).
[2] Die Entstehung einer solchen Führergestalt zeigt die Magd. Wenger: Perty, Myst. Ersch. I 311.
[3] Flournoy, Des Indes 127ff. Verwandte Beispiele: Perty, aaO. I 331ff.; ATM X 3. St. I (Somn. Dürr); Davis, Statt 283.
[4] Drane I 40.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 95)

der sie gänzlich seinen Idealen dienstbar zu machen suchte. Um diese Zeit scheint er indessen nur innerlich zu ihr gesprochen zu haben - man vermöchte kaum genau zu entscheiden, in welcher Form. So sagte er z.B. eines Tages zu ihr: 'Ich habe dich zu meinem Gemahl erwählt und wir haben uns Treue versprochen, da du mir das Gelübde der Keuschheit abgelegt hast.

Ich war es, der dich antrieb, es zu tun, ehe die Welt irgendwelchen Anteil an deinem Herzen hätte; denn ich wollte es rein und unbefleckt von jeder irdischen Neigung.' - Ihr eigentliches Liebesleben mit dem Heilande begann sich zu entwickeln, als sie, ein Mädchen aus gutem Stande, das heiratsfähige Alter erreicht hatte und für sie die so häufig in religiösen Biographien wiederkehrenden Kämpfe mit der Familie um die Wahl eines Gatten begannen (vor dem sie den Abscheu der Geschlechtslosen empfand), oder aber eines Klosters, nach dem ihr innerstes Sinnen stand.

'Eines Tages nach der hl. Kommunion, erzählt sie selbst in einer ausführlichen Aufzeichnung, ließ mich [der Herr] sehen, daß er der schönste, der reichste, der mächtigste und vollkommenste aller Liebenden sei... Ich entschuldige deine Unwissenheit, sagte er schließlich, weil du mich noch nicht kennst; aber wenn du mir treu bist, so sollst du mich kennenlernen und ich werde mich dir offenbaren.'

Diese Ankündigung verwirklichte sich, sobald sie in Paray-Ie-MoniaI das geistliche Kleid angelegt hatte. Der Herr erschien ihr bald beständig und andauernd. 'Ich sah ihn, berichtet sie, ich fühlte ihn mir nahe; ich hörte ihn weit besser, als ich mit leiblichen Sinnen vermocht hätte... Er beehrte mich mit seinen Unterhaltungen zuweilen wie ein Freund, oder wie ein leidenschaftlich liebender Gemahl, oder ein von Liebe für sein einziges Kind verwundeter Vater.'

Er ermutigte sie in ihren Schmerzen, er tröstete sie in ihren Opfern; er tadelte ihre geringsten Verfehlungen. Eines Tages, da sie sich zu irgendwelcher Nachlässigkeit hatte hinreißen lassen: 'Erfahre,' sprach er zu ihr, 'daß ich ein heiliger Gebieter bin, der die Heiligkeit lehrt. Ich bin rein und kann nicht den geringsten Flecken dulden.' Und das sagte er in einem Tone, daß sie jeden Schmerz und jede Strafe einem solchen Vorwurf vorgezogen hätte.

Von jetzt ab vertrat er bei ihr vollkommen die Stelle des Beichtigers und geistlichen Beraters, dessen ins einzelne gehende Anordnungen sich streng an die kirchlich herkömmliche Ordnung hielten. 'Du irrst dich,' sagte er ihr z.B., da sie sich einmal mehr Bußübungen auferlegte, als ihr von Obrigkeits wegen gestattet waren, 'wenn du mir durch dergleichen Handlungen und Abtötungen zu gefallen meinst.

Ich würde eher zugestehen, daß eine Seele sich aus Gehorsam kleine Erleichterungen gönnte, als daß sie aus eigenem Willen sich mit Kasteiungen und Fasten überhäufte.' Nicht minder führte er sie durch den ganzen Bereich der geistlichen Erfahrungen.

Als sie ihn bat, ihr gewisse geistliche Freuden zu entziehen und sie 'lieber die Bitternisse seiner Leiden und Ängste kosten zu .lassen, erwiderte er mir, ich solle mich nur seiner Führung unterwerfen; später würde ich schon einsehen, ein wie weiser und geschickter geistlicher Führer er sei.' Und hier ist es ein aufschlußreicher Zug, daß sie alle von außen ihr aufgenötigten Andachtsübungen völlig unbrauchbar fand und nur dasjenige lernen und behalten konnte, was ihr göttlicher Meister sie lehrte. -

Nachdem sie (am 6. November 1672) die vollen Gelübde ihres Ordens abgelegt, erschien ihr Jesus und sprach: 'Bis hierher war ich nur dein Verlobter; von heute ab will ich dein Gemahl sein.' Er versprach ihr, sie nie mehr zu verlassen und hinfort wie seine Gemahlin zu behandeln; und dies tat er denn auch 'in einer Weise, die ich außerstande bin, in Worten zu beschreiben.'


Kap VIII. Automatismen.    (S. 96)

Übrigens setzte sich der führende Komplex auch hiermit wieder vielfach in einen gewissen Gegensatz zu ihrem bewußten Wollen und Wünschen. [1]

Solche Christus-Romane sind in gleichen Formen zumal von weiblichen Frommen sehr oft gelebt worden, und eine Häufung von Beispielen würde nichts wesentlich Neues liefern. Nach einer verbreiteten Ansicht, auf deren Gründe zurückzukommen sein wird, ergehen sich männliche Mystiker entsprechend in visionärem Verkehr mit weiblichen Gestalten: Göttinnen oder Heiligen.

Selbst die biblische Sophia des 'Buches der Weisheit' ist unter diesen zu finden; in Heinrich Seuses Leben u. a. spielte sie eine Rolle, und GichteI, der bekannte christliche Theosoph des 17. Jahrhunderts, wurde seit Weihnachten 1673, nachdem er sie lange geliebt, regelmäßig von ihr in Einsprachen oder Gesichten besucht, beraten und geführt, ging eine geistliche Ehe mit ihr ein, erhielt ihr Versprechen der Treue und der ständigen 'Einwohnung in dem leuchtenden inneren Grunde' und als ihre Mitgift 'den wesentlichen, substantiellen Glauben, Hoffnung und Liebe' - lauter Einzelzüge, die das Zusammenfallen jener Gestalt mit dem erwecklichen Komplexe deutlich machen. [2]

Ein letzter Schritt der Entfaltung bleibt auch dem Ich-Automatismus hiernach noch zu tun: die Ergreifung auch des Bewegungsapparates als Mittels der Äußerung, d.i. natürlich vor allem der Sprechwerkzeuge. Ein Beispiel dieser Art bietet Elie Marion, der erwähnte Führer der Kamisardenbewegung, dessen selbst berichtete Erfahrungen den Eintritt der automatischen Äußerung ziemlich deutlich als Folge einer unverkennbaren Bekehrung zeigen. Zugleich bekundet sich die völlige Spaltung darin, daß er dem eigenen Reden mit Bewußtsein folgen kann.

Am 1. Januar 1703, während der Familienandacht, hatte er plötzlich eine große Hitze sein Herz ergreifen und durch den ganzen Körper sich ausbreiten gefühlt. Eine Empfindung der Bedrückung preßte ihm schwere Seufzer aus. 'Einige Augenblicke darauf ergriff mich eine Macht, der ich nicht länger widerstehen konnte, und zwang mich, laute Schreie auszustoßen, unterbrochen von starkem Schluchzen.'

Dann kam ihm 'eine entsetzliche Vorstellung aller seiner Sünden, die ihm schwarz, häßlich und unendlich an Zahl erschienen und seinen Kopf wie eine Last zu Boden drückten'. Doch inmitten der Angst und des Grauens, die ihm sogar das Beten unmöglich machten, fühlte er 'etwas Gutes und Glückliches, das ihn vor Verzweiflung bewahrte'.

Sein Bruder, der in Ekstase gefallen war, hielt ihm nun seine Sünden in langer Liste vor, angeblich 'als lese er in seinem Herzen, ohne irgend etwas zu vergessen'. Marion fühlte sich danach sehr erleichtert, konnte freudig und laut zu Gott beten; aber nach einer friedlichen Nacht kehrten andern Tags die heftigen Bewegungen wieder, und zwar nunmehr einige Wochen hindurch drei- bis viermal täglich, 'und Gott legte mir ins Herz, diese Zeit in Fasten und Gebeten zu verbringen.' Aber die innere Ruhe wuchs an, und er trat allmählich in den Genuß einer seligen

[1] Bougaud 88. 92. 142. 145-7. 149. 156. 169.
[2] Zit. in Lucifer III 126ff. Vgl. über Weigel und J. Leade: Corrodi I 404. II 311; über Muhameds 'Gabriel': Muir 53. 55; über des Parmenides Liebesgöttin als Offenbarerin aller Wahrheit: H. Diels, Parm. 14 ff.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 97)

Befriedigung. 'Ich fand mich völlig verwandelt. Was mir das Angenehmste gewesen, ehe mein Schöpfer mir ein neues Herz gegeben, wurde mir widerwärtig, sogar unerträglich. Und endlich war es eine neue Freude für meine Seele, als nach diesem Monat stummer Ekstasen ... es Gott gefiel, meine Zunge zu lösen und sein Wort in meinen Mund zu legen...

Ich fühlte und hörte durch meinen Mund einen Strom von heiligen Worten fließen, von denen mein Geist nicht der Urheber war.' Diese Worte traten nun sogleich, und hinfort durchweg, in der Ichform und als selbstbewußte Persönlichkeit gegenüber dem Ich des Redners auf. 'Ich versichere dich, mein Kind,' so lautete gleich die erste Äußerung, 'daß ich dich für meine Herrlichkeit bestimmt habe vom Mutterleibe an.'

Die Rede befahl ihm dann, sich mit den Waffen zu seinen schon seit Monaten kämpfenden Gesinnungsgenossen zu begeben. Er tat es und verblieb auch als Glaubenskrieger dauernd unter der Führung der Rede. Dabei war der Anspruch der Rede, von der höchsten Person des christlichen Glaubens auszugehen, der denkbar ausdrücklichste: 'Ich bin dir nicht fern, hieß es einmal,... bereite dich vor, doppelte Gnaden zu empfangen...

Schenk mir dein Herz, mein Kind,... bereite dich durch Fasten und Gebet,... bin ich nicht der, der Himmel und Erde gemacht hat? Habe ich nicht alle Dinge für den Menschen geschaffen? Und der Mensch läßt mich im Stiche. Ich werde ihn vernichten...' [1]

Ich schließe die Reihe mit einem Beispiel, das eine Vereinigung von mancherlei Arten der personhaft unterbewußten Führung und Belehrung aufweist. Man wird unter neueren Lebensbeschreibungen jenseitig Veranlagter nicht leicht eine finden, die unter dem Gesichtspunkte des geführten Lebens genauerer Erforschung wert wäre, als die der hoch begabten Dr. Anna Kingsford, die in enger Gemeinschaft mit Edward Maitland einer gewissen Richtung der heutigen angelsächsischen Mystik das Gepräge gegeben hat.

Schon vor ihrem jugendlichen Materialismus wurde sie durch Erfahrungen gewarnt, die wir einstweilen als Äußerungen ihres personhaft gestalteten Unterbewußtseins deuten müssen: nämlich unter 'spiritistischen' Formen von ihrem verstorbenen Vater. [2] Dann begannen Träume eine zunehmend führende Rolle in ihrem Leben zu spielen.

Drei Traumgesichte, in denen ihr Maria Magdalena erschien, wiesen sie, die protestantische Freidenkerin, in die römische Kirche; ein Schritt, durch den sie auf ihr später anzukündigendes Lebenswerk vorbereitet werden sollte. [3] Mythische Gestalten, wie Hermes und Apollo, der Erzengel Gabriel oder der alte Wundertäter Apollonius von Tyana traten in Träumen als ihre Lehrer und Erleuchter auf und teilten ihr nach und nach Gedanken mit, die sie in lehrhaften und dichterisch-prophetischen Werken niederlegte. [4]

Maitland selbst hat sie vielleicht auf dem Wege dieser Traumschöpfungen vorwärtsgedrängt, indem er die erste derartige Aufzeichnung, die sie zufällig hervorholte und ihm zeigte, für inspiriert erklärte.' - Neben diesen geordneten und dramatisierten Traumerzeugnissen, die sie nach dem Erwachen ebenso geordnet aufzuzeichnen vermochte, wurden ihr die mystischen Lehren auch in unmittelbarerer Weise eingegeben,

[1] Aus Avertissements prophétiques 9 bei Calmeil II 296.
[2] Maitland I 12.
[3] Das.  I15.
[4] Das. 22f. 299. 295f.
[5] Das. 55f.


Kap VIII. Automatismen.    (S. 98)

nämlich stückweise, etwa Vers für Vers, 'in ihr Bewußtsein projiziert'. Dies stückweise Liefern trat namentlich in einer Zeit des Kränkelns ein, während welcher ihr sehr geschwächtes Gedächtnis das gleichzeitige Behalten und Aufzeichnen von mehr als winzigen Bruchstücken unmöglich machte - ein Umstand, der eine gewisse zweckbewußte Selbständigkeit der automatistischen Phase anzudeuten scheint.

Ihre gesamten Geisteserzeugnisse innerhalb dieses Rahmens stellen sich als zusammenhängende geplante Leistung dar, von deren Zusammenhängen und Planung sie im 'bewußten' Zustande (schon wegen gelegentlicher anfänglicher Unordnung des Dargebotenen) keine deutliche Vorstellung haben konnte.

Darum erhielt sie von der inneren Führung nicht nur ihre Gedanken, sondern auch die genauesten Vorschriften über Anordnung des Stoffes, Kapiteleinteilung des entstehenden Buches u. dgl. m. [1] - Neben allem diesem erschien sie zuweilen auch im Lichte eines 'Schreibmediums', das angeblich im Namen bestimmter Abgeschiedener automatisch Mitteilungen niederschrieb.

Eine dieser Persönlichkeiten war der berühmte Swedenborg, dessen Bibliothek sie in ihren Gesichten wiederholt betreten hatte und der durch ihre automatisch schreibende Hand Mitteilungen machte von Unterredungen, die er in seiner Bibliothek mit ihrem Engel gehabt habe, der ihm (Swedenborg) von seiner Führung und seinem Verkehr mit Maitlands Engel berichtete. [2]

Dieses letzte Beispiel enthält nun freilich gerade in seiner Überfülle eine Warnung. Wir suchen im Gebiete der religiösen Erfahrung nach unterbewußten Komplexbildungen, deren 'personhafte' Reife mit der von 'zweiten' (alternierenden oder gleichzeitigen) Persönlichkeiten der Profanpsychologie verglichen werden könnte.

Daß eine solche Menge der Gestalten, wie Frau Kingsford sie erzeugte, mit den Sally oder Leonie II und III auf eine Stufe zu stellen sei, ist von vornherein mehr wie unwahrscheinlich. Damit entsteht aber der allgemeinere Zweifel, ob die Ichform der automatischen Äußerung überhaupt einen dauernden zweiten Komplex verbürge.

Dieser Zweifel wird durch die Beobachtung unterstützt, daß solche Ich-Automatismen mitunter als Einzelheiten innerhalb massenhaften und mannigfaltigen Halluzinierens auftreten oder aber ganz vorübergehend, gleichsam krisenhaft; daß sie also häufig weit eher Äußerungen vereinzelter unter- oder hinterbewußter Gedanken, als zusammenhängende und selbstbewußte Komplexe zu sein scheinen. [3]

Immerhin darf anderseits bei der Beurteilung vieler religiöser Ich-Automatismen ihre große Dauer, ihre innere Einheitlichkeit, ihre Einzigkeit (der Person nach) nicht unterschätzt werden. In diesen Hinsichten sind sie wirklich, wie gesagt, jenen 'Führern' und 'Kontrollgeistern' ebenbürtig, die man bei manchen Somnambulen und fast allen Medien antrifft, die ihren eigenen Namen führen, ihren ausgesprochenen Charakter haben

[1] Maitland I 326. 291.
[2] Das. 359f.
[3] Ein Beispiel einer einzigen, langen Unterredung mit dem (gehörten) Gott in einer Krankheitskrise, wobei völlige Willensunterwerfung gefordert und schließlich geleistet wird, berichtet A. T. Fryer in JSPR XII 184 ff.'


Kap VIII. Automatismen.    (S. 99)

(der meist von dem des Mediums beträchtlich absticht), die sich durch alle Arten des halluzinatorischen und motorischen Automatismus äußern, oder in der Ekstase des Trans als echte alternierende Zustände mit nachfolgender Erinnerungslosigkeit hervortreten, und deren 'subjektive' Natur, deren Ursprung und Ende innerhalb des Mediums doch in den meisten Fällen gar nicht bezweifelt werden kann.

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