Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungenen.    (S.  29) 

Die ''Tugenden', die somit an die Stelle der entsprechenden Fehler und 'Sünden' treten, sind offenbar die gleichen, denen die asketisch-willkürliche Selbsterziehung nacheiferte. Nur treten sie eben jetzt in einer Stärke, Reinheit verhältnismäßigen Dauerhaftigkeit hervor, durch die sie meist eine wesentlich verjenseitigende Wirkung entfalten.

Diese Wirkung beruht, wie gesagt vor allem auf einem sehr gesteigerten Abfallen der Eigenliebe, im Sinne persönlich-sinnlicher Bedürfnisse; einem wachsenden Hervortreten allgemeiner Menschenliebe an ihrer Stelle, die insofern 'unpersönlich' ist, als sie nicht mehr Erwiderung und damit 'persönliche' Befriedigung fordert; endlich und vor allem in der Hinwendung der Liebesfähigkeit auf jene ideale Persönlichkeit, welche nach der Überzeugung des Mystikers in den Augenblicken geistlicher Erfahrung erlebt und erkannt wurde.

Hinsichtlich jeder dieser Erscheinungsformen der mystisch-moralischen Verjenseitigung seien noch einige bildhafte Verdeutlichungen gestattet, nachdem bisher im wesentlichen ihr unmittelbares Hervorgehen aus den erwecklichen Erfahrungen belegt wurde.

Die nach außen zumeist in die Augen fallende ist natürlich das gesteigerte  Schwinden der  Ich-  und  Mir-Haltung, nicht nur in ihren gewalttätigen, sondern auch in ihren vielen gemilderten Formen: der vorsichtigen Eingezogenheit und Trockenheit des Wesens, der Abstandsempfindung, der kühlen ''Gerechtigkeit' usw., und anderseits das Anschwellen aller selbstvergessenen, ausströmenden, ab- und hingebenden Gefühle und Handlungsweisen. [1] 

Damit ist natürlich nur das zum beherrschenden Grundzug des Wesens entwickelt, was die Stunde des Höchsterlebnisses vor allem kennzeichnete. 'Wenn die Liebe rein ist', sagt Angela von Foligno, 'so hält sich die Seele nach solchen Gefühlserlebnissen für völlig tot, und sieht, daß sie nichts ist'. In völliger Demut vor Gott 'erinnert sie sich nicht mehr an irgendwelches Lob oder an irgendwelches eigene Gute'. [2]

Negativ erblickt also der Erweckte seine vorzüglichste, nie genug zu preisende Tugend in der Demut, dem äußersten Gegensatz zu allen Neigungen,

[1] Rein psychol. Analyse der hier in Frage kommenden moralischen Tatsachen bei A. Horwicz, Psychol. Analysen auf physiol. Grundlage (Magdeb. 1878) II.T.a. Hälfte 271ff.
[2] Angela 185, c. LIV; 'mit einem Schlage': Deutsche Theol. 27.


Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen.    (S. 30)  

die Selbstgenuß und Selbstdurchsetzung auf Kosten Anderer fordern: Entspannung des Machttriebes, des Stolzes, und seiner Karikatur: der Eitelkeit. Und da er ja, an seinem Ideal von selbstloser Liebe und an seinen Höchsterlebnissen gemessen, immer noch einen Zukurzschuß in sich entdeckt, so gibt ihm selbst die Erinnerung an sein Bestes stets einen Anlaß zu Selbstverurteilung und vermehrter Demut.

Jedes empfangene Lob wird daher als Kränkung empfunden, jede ehrerbietige Behandlung durch Andere als ein Schmerz, und ein zuvorkommender Gruß mag den mystisch Liebenden treffen, wie eine Ohrfeige den Weltmenschen.[1]  Weit eher sucht er die geringe Meinung, ja Verachtung und Hohn der Welt, selbst um den Preis, in seinem Eigensten mißdeutet zu werden.

'Für den Freund (d. i. Gott) trag ich selbst Spott mit Wonne', singt Rumi, und S. Philipp Neri ließ sich aus Scherzbüchern vorlesen, wenn 'Bewunderer' zu ihm kamen, damit sie daran Anstoß nehmen sol1ten. [2]  Als den Geringsten der Geringen hat sich mehr als ein Heiliger der Kirche bezeichnet, deren Oberhaupt sich heute noch prahlerisch den Knecht al1er Knechte nennt. [3]

Dieser Demut als 'Selbst'verachtung und -vergessenheit entspricht natürlich ein asketischer Selbstvernichtungstrieb, dessen Willkürlichkeit nun kaum noch über die veränderte Sachlage täuschen kann: wo früher Willensanspannung war, herrscht jetzt ein freudig befolgter Drang, das Ich durch Opfer und Schmerz zu verkleinern und damit zugleich die letzten Regungen der Selbstberücksichtigung zu vernichten. Wie ein Falter in die Flamme, so drängt nun, nach einem beliebten Vergleich der Sufi-Dichtung, die Seele zur Vernichtung in Gott. [4]

'Nur einmal,' schreibt S. Katharina von Genua, 'eh' ich sterbe, möchte ich sagen können, wie diese Liebe in mir wirkt, und was sie von mir will. .. Mit einem glühenden, flammenden, durchdringenden Strahl trifft sie das Herz, versengt und verzehrt darin jegliche Liebe, jegliche Neigung, jegliche Lust, jegliche Begierde, die es jemals an Dinge dieser Erde banden oder noch binden könnten.. .

Gern würde das also ergriffene Geschöpf von ihren Flammen sich verzehren lassen. Die Anschauung der heißen Liebe; die Gott zu ihr trägt, verursacht ihr unsägliche Qual, und sie kann in diesem Gefühle nichts mehr in sich dulden, was Gott mißfallen könnte. Sie legt deswegen nicht nur alle ihre Fehler bis auf die geringsten ab, sondern auch alle ihre Unvollkommenheiten und unnützen Gewohnheiten.' [5]

Diese Reste des Selbst - die 'Splitter', welche die Liebe mit durchdringendem Blicke täglich ans Licht zieht [6] - sind jetzt der Gegenstand eines 'tödlichen Hasses' geworden; [7] denn diese Reste sitzen tief und fordern Selbst-

[1] So von sich S. Alphonso Rodriguez 6r..
[2] Bacci I 295. S. Bemhatd, Serm. XVIII § 6: non est qua se immisceat vanitas, ubi totum occupat charitas.
[3] Beispiele besonderer Demut s. Kanne I 62f. (Beate Sturm); Görres I 423ff. (Juana Rodriguez). über Demut als 'Fundament' aller jenseitigen Tugenden s. Ruysbroeck 23ff.
[4] Ahnliche Ausdrücke: Guyon, Opusc. 159 (Torrens, p. Ich. 4 § 10); S. Jean 11 20 (Sub. I. I c. 2).
[5] In 'Theol. der Liebe', I. III c. 4 (Görres I 477>.
[6] Ein Ausdruck der muham. Chuan. (M. Ch. Bros- selard, Les Khouan (Alger 1859) Ir..
[7] Molinos; vgl. Guyon, Opusc. 28 (Moyen Court, ch. 9 § 2).


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Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen.    (S. 31)  

täuschung heraus. Die Weisheit der WeltIeute über die versteckte Selbstsucht der Liebe findet ein nachdenkliches Echo bei aIIen, denen es mit der Entselbstung Ernst ist. Nach Jahren hochgespannten religiösen Lebens erst glaubt S. Angela durch besondere Gnade 'die Gabe wahrer Armut' erlangt zu haben. [1]  Sehr deutlich bringt diesen Endkampf der Entselbstung ein Bekenntnis der schon erwähnten Marie de I'lncarnation zum Ausdruck:

'Es vollzog sich ein furchtbarer Kampf zwischen diesem innern Geiste der Selbsterniedrigung und den Gefühlen meines natürlichen Menschen; ... es ist unmöglich auszudrücken, was man bei dieser inneren Kreuzigung der tiefsten Instinkte und Gefühle der Natur empfindet, ... noch auch wie sehr die göttliche Liebe furchtbar, durchdringend und unerbittlich in diesen Dingen ist.

Diese göttliche Reinheit ist unverträglich mit dem natürlichen Sinn. Aber dieser Sinn ist so verschlagen, daß wenn man ihn vernichtet glaubt, er noch lebt; denn die Natur hat unbegreifliche Winkel, Schleichwege und Irrgänge. Da sind kleine Bosheiten, Ausweichungen, Versteilungen, die sich mit einem Anschein von Heiligkeit, Liebe, Eifer, Frömmigkeit und selbst Eifer für die Ehre Gottes verdecken.' [2]

Und gerade fortgesetzte erweckliche Erfahrungen nötigen auf solche Weise den Heiligen auf einer Bahn ständig wachsender und ins Kleinste und Letzte gehender Entselbstung fort. 'Was die VoIIkommenheit einer Stufe ausmacht, bildet stets die Unvollkommenheit und den Anfang der nächst- folgenden'. [3] 'Jeder Schritt fordert ein neues Selbstopfer, eine tiefere innere Erforsch\mg der eigenen Ziele und Beweggründe', ein tägliches und täglich erweitertes moralisches 'Sterben'. [4]  -

Nur die natürliche Kehrseite der Abkehr vom Ich nun ist die Zuwendung zum "Außer-Ich. Des Gottverähnlichten ganzes Innere und sein Fühlen, sagt Ruysbroeck, 'ist ein Ausfließen und Geben'; er selbst ist 'allgemein' geworden, [5] d. h. das Fremde (das Andere) steht ihm über dem Eigenen. Sein Herz ist 'ganz Liebe zu jedem Ding und jedem Menschen'.

Der Andern Unglück ist es jetzt, was den Heiligen schlaflos macht, und deren Anliegen trägt er mit Seufzen vor den höchsten Thron. [6] Selbst dem Feinde, dem Böses Zufügenden, erwidert er mit Güte und Liebe, weil (nach dem Ausdruck der Theologia Deutsch) er eben nichts anderes hat und ist, als Liebe. [7]

In dieser 'Minne an sich' hat der Heilige 'das Fundament und den Grund aller Tugenden' und aller 'neuen Tugendwerke', in die 'das Einstrahlen oder Einwirken Gottes, das uns nach innen zieht, jene quellende Ader, die auf dem Grunde der fühlbaren Minne lebt, uns ausfließen macht'. [8] Denn die Liebe Gottes, wie Gregor Lopez sagt, ist ganz und gar in Werken.

[1] Thorold 123. Vgl. als Beispiel Finney 3IOf.; de Cort, p~ II cant. X u. XI.
[2] Chapot I 2I7f., II 244 (esprit de la nature) 247. S. auch Dorothea Trudel, or the Prayer of Faith (London o. J.) 47. 49.
[3] Guyon, Vie II 86 (II, 8. 11). Ahnlich Lechner I02f. Vgl. Cas. sians Wort (Instit. 1. XI c. 5) vom Zwiebel bau der Selbstsucht (Eitelkeit).
[4] Thomas L. Harris, The Redeemed Body.
[5] Ruysbroeck 30.98.
[6] Wesley, Short Account 181.
[7] Deutsche Theol. 50.
[8] Ruysbroeck 110. 133. Ahnlich S. Jean III 460 (N. O. 1. II C.2I).


Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen    (S. 32)  

Nach dem Äußeren macht sie den Heiligen im höchsten Grade zum freigebigen Schenker; kein Besitz gilt ihm mehr als die Wonne, die in Hingabe und Mitfreude beschlossen liegt.[1] Fletcher, der nach seinem eigenen häufigen Ausspruch nie glücklicher war, als wenn er den letzten Pfennig im Hause fortgeschenkt hatte, und der gelegentlich sein ganzes Zinngeschirr einem Armen gab, weil ihm ein Holzteller geradeso gut dienen könne; [2] Angela von Foligno, die ihr ärmliches Kopftuch verhandelte, um Speise für Arme zu kaufen; [3]

S. Katharina von Siena, die einem Bettler, dem sie kein Geld geben konnte und der sie auf ihren Mantel verwies, nun diesen willig hinreichte; [4] Jakob Jansz, der fast sein ganzes reiches Einkommen an Arme verteilte und selbst dem Diebe, der seinen Mantel raubte, noch Geld dazu antrug, weil er's wohl aus Not täte [5] - sie alle 'gaben' noch nicht einmal so viel, wie S. Dominicus oder S. Vincent de paul, die, wie es heißt, sich zeitweilig selbst in die Sklaverei begaben, um andere daraus zu lösen, oder gar wie der mystische Chr. Hoburg, der seine Seligkeit für 'verirrte Brüder' hergeben wollte, d. h. die Hölle erben, um Andere vor ihr zu bewahren. [6]  -

Aber natürlich: in den Dingen des Herzens und Geistes vor allem sucht der Geisterweckte auszuströmen: darum sucht er zu den eigenen Erfahrungen Jedem den Weg zu weisen, um ihn an den gleichen Seligkeiten teilnehmen zu lassen. [7] Wie sehr auch Schüchternheit und Scheu zuvor seinen Mund verschlossen haben mögen: wer die Liebe Gottes innerlich erfahren, drängt sich zum Amte des Seelenfischers, das er - darin sind die großen Prediger aller Jahrhunderte einig - erst jetzt imstande ist auszuüben.

Denn erst seit dieser Erfahrung ist er, nach einem Ausdrucke S. Bernhards, nicht mehr bloß 'Kanal', sondern 'Sammelbecken': 'man gibt nur von der eigenen Überfülle'. [8] Und in neuester Zeit hat einer der erfolgreichsten Erwecker die Lehre aufgestellt, daß erst eine 'zweite Segnung', eine Art der Geistestaufe, den Menschen überhaupt zur erwecklichen Arbeit an Andern befähige.'

Die diesseitsabgewandte Überspannung der moralischen Einstellung, die völlige Ablösung vom sinnlichen Eigenselbst ist in allem diesem bereits unverkennbar. Indessen kommt die jenseitige Haltung des Erweckten in ihrer vollen Stärke erst dadurch zustande, daß er seine erwecklichen Erlebnisse auf die übersinnliche Persönlichkeit Gottes bezieht.

Von Recht oder Unrecht dieser Deutung ist hier noch nicht zu reden; ihre Natürlichkeit dagegen ist schon nach dem Bisherigen leicht zu verstehen. Die überlieferungsmäßige Verknüpfung des Sittlichen (und das Erlebnis wirkt ja im 'sittlichen'  Sinne) mit dem Religiösen mag eine ihrer Grundlagen bilden.

Hierzu aber kommt die durch das Erlebnis vertiefte Entwurzelung der Ich- und Welttriebe und jene Nachinnenrichtung des ganzen Geisteslebens, die wir mehr und mehr als Eigentümlichkeit des Jenseitigen begreifen. Seiner gesteigerten

[1]  Eckehart I 100.
[2]  Seed 97; Wesley, Short Account 175f.
[3]  Angela 164, c. L.
[4]  Drane I 36.
[5]  G. H. Schubert, Altes u. Neues a. d. Gebiet der inneren Seelenkunde, 2. Auf!. (Lpz. 1825) I 276. 278. Vgl. Kanne I 257; james,Varieties 282. (Beispiel des biblischen Darbietens der 'andern Backe').
[6]  Kanne 11 249. Häufiges Gebet darum: Drane I 123; für Feinde: Thorold 167.
[7]  Beispiele dieses Mitteilungs- und Missionsdranges:  S. Gertrud I 85; S. Teresa I 180, IV 148; Guyon, Opusc. 163.168; Finney 22; E. Vine Hall, Same aspects of the Welsh revival, APS I (1905) 323.
[8]  Serm. XVIII c. 2ff.
[9]  Second blessing: R. A. Torrey, The baptism with the Holy Spirit (Lond. 1896) 13f. 17. 19. 24.


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Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen.    (S. 33)  

Fähigkeit zur Liebesglut ist ein Gegenstand nunmehr um so angemessener, je geistiger, 'kopfiger', innerlicher, unsinnlicher er ist. Der Erweckte findet ihn ohne weiteres im Bereich seiner sittlichen Idealwelt. Eine weitere Erforschung dieser Vorgänge mir vorbehaltend, stelle ich hier nur die Tatsache fest, daß die Liebe des Erweckten sich in erster Linie auf 'Gott' richtet, weit mehr als auf alle Menschen, zusammengenommen oder einzeln.

'Nichts ist dem Menschen natürlicher als Liebe, .. . und gibt es etwas der Liebe Würdigeres, als Gott, den allschönen, allguten, allweisen, allvollkommenen?' [1] Dies ist die Logik aller Mystiker. Sie erleben ihr letztes Instinktideal mit größter Unmittelbarkeit im eigenen Innern, ja - wir sahen es - als 'gegenwärtig' und 'anwesend'; sie rechtfertigen es dann, indem sie es in einem geglaubten Wesen dauernd verkörpern, das ohne ihr Erlebnis blutlos bliebe.

'Die reine und lautere Liebe. .. will Gott selber, den ganz Reinen, Lauteren und Erhabenen.' [2] Die praktische Lehre ergibt sich nun von selbst: 'Wer irgend etwas mehr als Gott oder gleichzeitig mit Gott liebt, der liebt Gott nicht, denn Er muß und will allein geliebt sein, und wahrlich, nichts sollte geliebt werden, als Gott allein.' [3] Ist es doch ohnehin 'gegen das Wesen der Liebe, sich zu teilen.

Geteilt, verliert sich ihre Größe und Macht, wie ein aufsteigender Wasserstrahl an Kraft verliert durch ein Leck in der Zuleitung.' [4]  'Liebe mich - fordert daher Gott - mehr als alles Deinige, mehr als die Deinen, mehr sogar als dich.' [5]  'Das Maß, Gott zu lieben, ist, ihn ohne Maß zu lieben.' [6]

Wie diese 'reine Liebe' in dafür begabten Seelen glüht, mögen einige Worte der Heiligen von Genua andeuten: '0 zärtliche Liebe, wenn ich dächte, daß nur ein Schimmer von dir mir noch fehlte, wahr und gewißlich, ich könnte nicht leben.' Denn 'nie kann Liebe zur Ruhe kommen, bis sie ihre letzte Vollendung erlangt hat.'

Und zu einem Ordensbruder sagte sie: 'Wenn ich glaubte, daß euer Gewand meine Liebe auch nur um einen Funken vergrößern könnte, ich würde es euch mit Gewalt entreißen, dürfte ich es nicht auf andere Art erlangen'. [7]

Diese überwältigende Liebe zu Gott ist es nicht zuletzt, was den Heiligen in einem Maße ins Gebet zieht, das dem Unerweckten natürlicherweise fremd ist: denn welcher Liebende wollte nicht, wenn möglich, jeden Augenblick seines Lebens im Umgang mit dem geliebten Wesen verbringen?

Welcher unerweckte Geistliche selbst wäre auch nur imstande, auf offener Kanzel, wie Evan Roberts gelegentlich tat, anderthalb Stunden im stillen Gebet zu verharren? [8] Von S. Philipp Neri heißt es, daß er durch unangenehme Bücher sich abends vom Beten fortzwingen mußte, um überhaupt schlafen zu können.

[1] de Cort 8If. (A. Bourignon).
[2]  Lechner 174; vgl. das häufige 'Die Liebe ist Gott', zB. bei Albertus Magnus, De adhaerendo Deo; psychologisch lehrreich auch S. Bernhard,
Tract. de diligendo Deo, und Brief an S. Bruno, Vacandard I I8Sf.
[3]  Deutsche Theol. 73; vgl. de Cort 91. J
[4]  Juan de los Angelos bei Rousselot 119; ähnlich S. Jean 11 74 (Sub. I. I c. 10).
[5]  Utme ames ... plus quam tua, plus quam tuos, plus quam etiam te: S. Bernhard, Serm. LXXVI c. 8.
[6]  Modus diligendi Deum est diligere sine modo: ders., Tract. de dilig. Deo c. I.
[7]  Vita (Boli.) 23a. 51 b (bei Hügel I 279). Vgl. Ruysbroeck 141f.
[8]  Phillips 85. IS8f. 162.  


Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen.    (S. 34)  

'Eine wahrhaft gottliebende Seele, meinte er, gelangt dahin, daß sie bitten muß: Herr, laß mich schlafen; und der habe schwerlich den wahren Geist des Gebetes, der nicht unmittelbar nach dem Mittagsmahl beten könne.' [1]

Man sieht nun wohl, daß Gott dem mystisch Begnadeten in der Tat so persönlich und wirklich ist, wie nur je ein Geliebter dem Liebenden; dies ist die Regel in fast aller Mystik, und zwar ist es oft eben das geistliche Erlebnis, was diese persönliche Anhänglichkeit an ihn als Persönlichkeit begründet.

Man findet das zB. deutlich ausgesprochen in dem bekannten 'Memorial', das Pascal in seinem Wamse eingenäht trug und in welchem die ihn erschütternden Augenblicke seiner ersten Gnadenergreifung In stammelnden Worten festgehalten waren. Pascal hatte lange vorher eine Art intellektueller Bekehrung erlebt, aus deren freudloser Frömmigkeit er aber, bei sich bessernder Gesundheit, zu den geselligen Freuden der Welt zurückgekehrt war.

Die neue Ablösung von ihr begann erst unter dem Eindruck der religiösen Entwicklung seiner geliebten Schwester Jacqueline und der Nichtbefriedigung seines Herzens durch die abstrakten Wissenschaften, ungeachtet glänzender Erfolge in ihnen. Ein Ekel vor der Welt ergriff ihn; die alten calvinistischen Überzeugungen seines Jansenismus ließen ihm keine Ruhe.

Aber es dauerte lange, ehe er seinem leidlich begrifflichen Gott gegenüber zu völliger Selbstübergabe gelangte. Am 23. November 1654 erfolgte der Durchbruch, worüber im Memorial u. a. folgende Sätze: 'Von etwa zehn einhalb Uhr abends bis etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht 'FEU' (kann heißen: Feuer, Licht, Liebesglut). Gott Abrahams, Gott lsaaks, Gott Jakobs, nicht [Gott] der Philosophen und Gelehrten.

Vergessen der Welt und Alles, außer Gott. Ich habe mich von ihr geschieden.. ich bin ihr entflohen, habe ihr entsagt, sie gekreuzigt. .. Gewißheit, Gewißheit, Gefühl, Freude, Friede, Freude, Freude, Tränen der Freude. Völlige und süße Entsagung'. [2]

So sieht die seelische Tatsache der Gottesliebe aus, wo sie sich am heftigsten äußert. Damit nun ein so gründlicher Monismus der Liebe mit der - wie wir sahen - fast allgemein bezeugten Menschenliebe der Begnadigten sich verbinden könne, muß diese offenbar als ein Abgeleitetes der Gottesliebe selbst gefaßt werden.

Die Einsichten und Äußerungen des Mystikers aber weisen mehr als einen Weg, diese Ableitung vorzunehmen. Schon seine Theologie lehrt ihn ja, daß Gott den Menschen geliebt habe und liebe; 'es ist aber eine Eigentümlichkeit der Liebe, daß man liebe, was von dem Geliebten geliebt wird'. Der Gottliebende liebt also die Menschen, weil er sich in Gottes Liebesherz hineinversetzt.

Eine vielbenützte Prägung erhält dieser Gedanke in einer innern Unterredung der Genuesischen Katharina mit ihrem Gotte. 'Du befiehlst mir,' sprach sie zu ihm, 'ich solle den Nächsten lieben, und ich kann doch nur Dich allein lieben. .. : wie soll ich also tun?' Da ward ihr die tröstliche Antwort im Innern gegeben: 'Es ist genug, daß du stets bereit bist, für das Wohl des Nächsten in bezug auf Seele und Leib zu

[1]  Bacci I 172. 13.
[2]  H. Petitot, Pascal, sa vie religieuse et son apologie du christianisme (Par. 1911) 26. 31. 45. 61; bes. 68f. und 7off.


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Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen.    (S. 35)  

tun, was notwendig ist. Diese Liebe ist gesichert vor sinnlicher Anhänglichkeit,   weil da der Nächste nicht in sich, sondern in Gott geliebt wird.' [1] 'Der Mensch wird darum auch ohne' Ansehen der Person', nicht um persönlicher Eigenschaften und Eigentümlichkeiten willen geliebt, nicht als Freund 'Oder Feind, Anverwandter oder Fremder, sondern allein und 'völlig um Gottes Willen', unter 'Bevorzugung' nur etwa derjenigen, 'in denen Gott vorzüglich lebt und wirkt'. [2]

Auch kann das Liebesverhältnis zu Gott sich vornehmlich mit Hilfe des Menschen praktisch erweisen. 'Gott selbst können wir nicht erreichen; deshalb will er, daß wir die Dienste, die wir ihm nicht unmittelbar erweisen können, dem Nächsten erweisen.' [3] 

Und so sicher glaubt der Religiöse der ganz besonderen und von menschlicher Zuneigung durchaus verschiedenen Natur dieser Nächstenliebe 'in und durch Gott' zu sein, daß er nicht ansteht zu behaupten, 'jedes Wohlwollen und jeder Edelmut, [Liebe und Mitleid] den Menschen gegenüber, die nicht von einer Liebe zu Gott begleitet sind, die völlig über ihnen steht und der sie untergeordnet und von der sie abhängig sind, hätten nichts von dem Wesen wahrer Tugend oder Religion in sich'; sie entsprängen nur der Eigenliebe, selbst wenn sie sich auf alle Menschen erstreckten!' [4]

Wird man bezweifeln, daß eine solche Liebe zu Einzelmenschen 'in Gott' und Gottes 'im Nächsten' möglich sei? Die Heilige von Siena bezeichnet mit Scharfsinn einige Proben, durch die sie etwa von natürlicher Liebe zu unterscheiden wäre.

'Ich weiß,' schreibt sie an Br. Hieronymus von Siena, 'du liebst die Geschöpfe nur geistlich in Gott. Aber zuweilen, wie du sehr wohl weißt, aus einer oder der anderen Ursache lieben wir geistlich und finden doch in dieser Leidenschaft ein Vergnügen und eine Freude, so da3 unsere minder geistliche Natur auch auf ihre Rechnung kommt.

Fragst du mich, wie du entdecken magst, wann dieses stattfindet, so erwidere ich: Wenn du siehst, daß die geliebte Person dich irgend enttäuscht, nicht länger in der alten Weise mit dir verkehrt, oder jemand anders besser als dich zu lieben scheint, und wenn du dann bekümmert und verstört bist und deine eigene Liebe infolgedessen abnimmt. dann sei gewiß, deine Liebe sei unvollkommen.' [5]

Daß hier eine besondere Gattung von Liebe wirklich gegeben sei, wird man schwerlich in Abrede stellen können; ihre genauere Erforschung wird uns freilich erst noch beschäftigen müssen. Hier abschließend nur die rein tatsächliche Feststellung, daß diese Art des Liebens ausgesprochen jenseitig ist, sofern sie nicht nur den sinnlichen Affekt,

sondern selbst den individualisierenden einem abstrakten und ins Unsichtbare hinausgreifenden opfert. Vervollständigt wird diese Jenseitigkeit noch, indem die Liebe Gottes sich meist nicht nur als Kehrseite der triebhaften Entichung erweist, sondern häufig eine ebenso triebhafte Vorliebe für Leiden und Schmerzen dulden mit sich führt. Man vergegenwärtige sich einmal die seelischen Nachbarschaften und die Leichtigkeit der Übergänge in der Zustandskette: Gotterlebnis, Ich- Ent-

[1]  Lechner 110 (nach Marabotto c. 23); vgl. IJrane I 44f.
[2]  de Cort 4f. Vgl. Dialog über die Psychol. des theist. Gottesglaubens in ZRP VI (1913) 262f.
[3]  S. Katharina v. Siena, Dialog c. VII; vgl. de Cort 12.
[4]  AIex. V. G. Allen, Life & Writings of Jona- than Edwards (Edinb. 1889) 322f.
[5]  Drane I 179 (132. Brief). Vgl. Fichte, WW V 548.                                                                


Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen.    (S. 36)  

spannung, Selbsthingabe, Opferdrang, Schmerzverlangen. Das Erlebnis der Heiligkeit Gottes ließ zB. die seI. Marg.-Marie Alacoque 'in einer Art Betäubung erschauern im Anblick solcher unendlichen Majestät, und erfüllte sie mit einem kaum beschreibbaren Gefühl der Vernichtung und Demütigung, das in ihr den Wunsch erregte, sich in dem Abgrund ihres Nichts zu verbergen.

Sie wagte nur noch auf den Knien zu liegen vor dieser erschrecklichen Majestät [1] Wer so erst auf den Knien liegt, wird bald einen willkommenen Fortschritt in der Richtung der Ichverkleinerung darin finden, daß er auch noch die Geißel schwingt, oder den selbstsüchtigen Leib durch Fasten und Schlafentziehung schwächt, durch harte und enge Kleidung peinigt.

Ein 'theologisches' Motiv tritt natürlich hinzu, dem die Gnadenerfahrung unendlich vermehrte Werbekraft verliehen hat. Nichts lieben, als Gott wird bald: 'nichts lieben, als den gekreuzigten Jesus', der 'sich für uns am Stamme des Kreuzes hingab, als wäre er berauscht und toll vor Liebe zu uns'. [2] Diesen Rausch der Liebe hat der Mystische nun selbst erfahren; in diesem Rausche besaß er also wohl die Liebe des Gekreuzigten.

Aus diesem selbst schon häufig schmerzlich süßen Rausche [3] blickt ihn nunmehr das Antlitz des Leidensmannes an mit der Frage, die manchen Heiligen zur Raserei getrieben hat: Dies tat ich für dich, was tust du für mich? Und die Antwort liegt in der Gier nach Leiden um der Liebe Gottes willen.

Dies ist in wesentlichen Zügen das Charakterbild nach seiner Willens- und Gefühlsseite, zu dem schon die bisher geschilderten geistlichen Erfahrungen den Grund legen. Ganz ersichtlich ist dies Charakterbild die Fortbildung, Vereinheitlichung, wenn nicht Vollendung desjenigen, das durch die angestrengte Selbsterziehung zur Heiligkeit' geschaffen wurde, nur eben in einer sittlich geteilten Persönlichkeit und darum gegen größere oder geringere  Widerstände.

Eben darum bilden die früheren und die späteren Zustände dem Inhalt und Wesen nach eine einheitliche, wenn auch nicht ohne 'Rucke' fortschreitende Reihe. Ein solcher 'Ruck' oder 'kritischer Punkt' mag oft schon dort gelegen haben, wo die entscheidende Wendung zur willkürlichen Selbstheiligung genommen wurde; ein anderer wird sicherlich durch die ersten erwecklichen Erfahrungen bezeichnet werden.

Da diese sich in wechselnder Stärke während des geistlichen Lebens wiederholen können, und stets mit entsprechend verjenseitigenden Wirkungen, [4] so mögen auch weitere kritische Punkte während der späteren geistlichen Entwicklung anzusetzen sein.

Man hat die ersten dieser kritischen Wendungen meist als 'Bekehrung' bezeichnet. Nach dem, was ich soeben über die innere Kontinuität der ganzen Reihe gesagt

[1]  Bougaud 143. Vgl. Molinos 103: S. Teresa IV 14.
[2]  S. Kathar. v. Siena: Drane 1179.
[3]  Vgl. u. K. XXIV.
[4]  Vgl. S. Jean II 32of. (Sub. I. II ch. 26); Eckehart 27: 'Je öfter diese Geburt [der Vereinigung] in der Seele geschieht, um so mehr wird sie mit Gott vereinigt'. Ähnlich Gichtei, Theos. IV 2467. Vgl. Torrey, aaO. 13f. 17. 19.24 über second blessing after regeneration.


Kap  III.  Auswirkung erwecklicher Erfahrungen.     (S. 37)  

habe, wird man verstehen, weshalb ich diesen Begriff der Bekehrung nicht (wie so oft in der Religionspsychologie geschieht) in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt habe. Die 'Bekehrung' der Religionspsychologen ist recht eigentlich, was man in der Pathologie ein Syndrom nennt, eine Verkettung und Zusammenballung von Symptomen, die häufig oder meist zusammengehen, die aber auch gesondert auftreten und einzeln erforschbar sind.

Ihr Zusammengehen mag Licht werfen auf das Wesen der einzelnen Symptome; aber auch jedes für sich muß begriffen werden. Überdies ist die Bekehrung ein Syndrom, an dem nicht nur der Konstruktionstrieb der Wissenschaft, sondern auch die künstliche Züchtung der religiösen Praxis nicht völlig unbeteiligt ist.

Betrachten wir es aber genau, wo es in klassischer Form sich darzubieten scheint, so zerlegen wir es mühelos in jene Zustände und Erlebnisse, die bisher einzeln beschrieben wurden und tatsächlich in beliebiger zeitlicher Verteilung ihre Entwicklungsreihen bilden können. Je nach der Macht des Geistes oder der Inbrunst des Glaubens wird eine große Taufe oder Ausgießung des heiligenden Geistes genügen, oder werden mehrere erforderlich sein.[1]

Gestand doch selbst Wesley zu, daß in Ausnahmefällen die Heiligung in einem Augenblick erfolgen könne,[2] und damit die bloß relative Gültigkeit von Erweckung, Bußkampf, Bekehrung, Rechtfertigung, Wachstum in der Gnade, Heiligung. Das Wesen des Weges bleibt immer dasselbe, die dynamischen Verhältnisse seiner Zurücklegung wechseln von Fall zu Fall.

Da schließlich der Begriff der Bekehrung nicht eindeutig ist, indem er ja oft auch irgendeinen ersten Anstoß zum willkürlichen Versuch der Selbstheiligung bezeichnen soll, so gehen wir jedenfalls den sichereren und einfacheren Weg, wenn wir uns unmittelbar an die typischen Bestandteile jedes Heiligungs-'Ruckes' halten.

[1] sanctifying spirit: Fletcher, Perfection 254
[2] Wesley, Short account 115. 155.

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