Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap IV. Vergottung.    (S. 37)

Die Relativität, die hiermit allen 'Rucken' und Haltestrecken auf dem Wege der Heiligung zugeschrieben ist, eignet nun aber auch den stärksten der bisher betrachteten Gnadenerfahrungen. Ihre Wirkungen erscheinen überwältigend gegenüber denen der angestrengten Selbstheiligung; und doch stellt die religiöse Erfahrung sie als ungenügend hin.

Im Rausch der Gnadenergreifung erscheint der alte Mensch erstorben; sein Wiedererstehen nach der Ernüchterung zeigt, daß er nur gelähmt war; ein Teil von ihm mindestens lebt wieder auf, und der Kampf, wenn auch auf höherer Ebene, setzt sich fort. 'Gott' ist noch immer nicht alles im Menschen, der Mensch noch immer nicht völlig sich selbst entsunken. -

Richtet sich dieser Einwand der Erfahrenen schon gegen die Vieldurchglühten des dauernden mystischen Liebeslebens, wieviel schärfer gegen den, welcher die einmalige Erschütterung einer ersten 'Bekehrung' erfahren hat! Je oberflächlicher diese Erschütterung war, desto mehr ist sein nachfolgendes Leben Schwankungen der Höhenlage ausgesetzt, desto mehr er selbst von der ständigen Bestärkung durch eine wesens-


Kap IV. Vergottung.    (S. 38)

verwandte Umwelt abhängig; [1] desto mehr droht ihm: wird er sich selbst überlassen, der völlige Rückfall in die frühere Art. Auf Unselbständigkeit und Rückfälligkeit lauten die ständigen Klagen Aller, die in der Praxis der 'Erweckung' im großen Stil bewandert sind. [2] Und selbst wo ein leidlich dauerhafter Zustand durch die Bekehrung erreicht wurde, ist er fast immer noch weit entfernt von jener wurzeltiefen Ichlosigkeit und Gotterfüllung, die das innerste Ideal der großen Stunde ausmachte.

Diesen ersehnten Endzustand bezeichnen die Mystiker nach seiner positiven Seite als Vergottung, [3] und bekunden seine wesentliche Verwachsenheit mit der ihm zustrebenden Entwicklung durch die Forderung einer Methodik der Erreichung, die schon bei allen vorausgehenden Zuständen die vornehmste Rolle spielte. Immer lag ihr Sinn in der Forderung 'völligerer, tieferer Aufgabe des Eigenwillens und Hingabe an Gott’.

'Wer durch sich selbst handelt, verhindert je nach dem Maße seiner Kraft die Mitteilung Gottes; ... es ist das, was man mit gutem Recht als Ersticken des Geistes bezeichnet'. 'Es ist notwendig, daß alle Vermögen unserer Seele still seien, damit wir das reine Licht des heiligen Geistes empfangen mögen.’ Der Zugang zur Vergottung geht durch eine Vertiefung dieser Stille, eine Steigerung des Selbstopfers: durch Glauben und Selbstübergabe an Gott.

Die letzten Bande, die Eigenwunsch und Eigenliebe an irdische Güter, selbst an irdische Liebe, fesseln, [5] müssen durchschnitten werden: dann erst kann, wie bisher, die 'Gnade' ein Übriges tun und die Reste des Ich hinwegschwemmen.

Was die Beschreibung des Vergottungszustandes selbst betrifft, so mögen sich die Ausdrücke der Mystiker in geschichtlich begründeten Zufälligkeiten unterscheiden; in der Sache erhorcht der Psychologe unschwer die Übereinstimmung; ob nun der alte Syrer Hierotheos, in einer vielfach mythisch verbrämten Darstellung, von mystischem Begräbnis, Abstieg, Auferstehung und Identifizierung mit Christus redet; [6] oder Tauler von einem Zustande noch über der Gnade, darin Gott unmittelbar in der verwandelten Seele wirkt, Gott alles, der Mensch nichts ist, und darum kein persönliches Verdienst mehr besteht; oder der russische Sektierer von geheimnisvollem Tod und geheimnisvoller Auferstehung, die durch völlige Selbstentäußerung, Hingabe und

[1] Vgl. Fursac 27. 42.
[2] z.B. R. Southey, Life of John Wesley 196. Ansätze zu einer Statistik der Rückfälligen: Starbuck 355ff.; McIlwaine 454. 197; Fursac 130f. - Einzelbeispiele: Kanne II 123f. (de Raadt); Starbuck 166. 248. 359.
[3] Der Begriff schon dem Altertum in wenigstens verwandtem Sinne 'vertraut’, wenn auch unter Betonung der 'Unsterblichkeit' in der Göttlichkeit (deificatio der Mysterien). Augustin (in Psalm. XLIX) nennt gewisse Menschen gratià [Dei] deificatos. Athanasius' 'Gott ward Mensch’, ... wiederholt sich fast wörtlich z.B. in der Deutschen Theol. 6 (vgl. S. Jean II 131 [Sub. 1. II c. 5]: die Seele 'Gott durch Teilnahme'; und ganz im hier allmählich zu verdeutlichenden Sinne nannte Tauler die Seele 'gottförmig', in der 'Gott alle Dinge wirkt' (Preger III 207).
[4] S. Jean III 55 (Sub. III, 12); de Cort 46.
[5] In einem Falle (Starbuck 378) bilden 'Familienbande' die letzte Fessel, nach deren Durchschneidung die 'Gnade' ihr Werk tun kann.
[6] S. Frothingham, Stephen Bar Sudaili (Lond. 1886), bes. 99ff. (Christ is nothing but the mind purified).


Kap IV. Vergottung.    (S. 39)

Selbstvernichtung erlangt würden; [1] oder der amerikanische Methodist von der Stufe der Heiligung - sanctification -, auf welcher der Bekehrte, allmählich oder plötzlich, durch vertiefte Selbsthingabe - consecration – ein völligeres Einwohnen des Geistes Gottes im Herzen und völlige Einheit mit ihm erreiche. [2]

Ähnlich stellt chinesische Weisheit noch über den Weisen - den Heiligen oder vollkommenen Menschen, der 'wie die Geister', ohne Anstrengung, ruhig und gelassen das 'Gesetz des Himmels' übt. [3] Der Sufi preist den Vollendeten, der wie ein Schreibrohr in Gottes Hand ist ; [4] dem damit Gnade geschieht, daß er nicht selber wählt, indem er vom göttlichen Willen abhängig ist; dessen Handlungen notwendig sind, weil er in Gemeinschaft mit Gott ist.

'Wer sich von jeder Spur der Menschennatur reinigt, in den zieht der Geist Gottes ein; ... und alles, was er tut, ist Gottes Tat', sagt Hallag, der Märtyrer der persischen Mystik. [5] Und Ramakrischna, der jüngst verstorbene brahmanische Heilige, stimmt ein mit den Worten: 'Wie trockne Blätter vom Winde umhergeblasen werden und keine eigene Wahl noch Mühe haben: so bewegen sich die, welche von Gott abhängen, im Einklang mit seinem Willen, und können weder eigenen Willen haben, noch eigene Anstrengungen machen.' [6]

Die genaueste Darstellung verdanken wir auch hier der geistvollen und scharfsinnigen Guyon, die in immer neuen Wendungen und Vergleichen die abschließenden Stufen des Ich-Absterbens und die Auferstehung des völlig vereinheitlichten Selbstes in Gott zu bezeichnen weiß. Die letzten Todeszuckungen des alten Menschen beschreibt sie in Worten, die der Leser einer dramatischen Übertreibung verdächtigen mag, denen aber doch die Theorie vielleicht später Anregungen entnehmen wird.

'Ein gewisses Etwas, welches im Innersten stützt und hält, ist dasjenige, was zu verlieren am schwersten fällt und was die Seele am heftigsten sich zu erhalten strebt; denn je feiner und unfaßbarer es ist, desto göttlicher und notwendiger erscheint es ihr: .. .dies Zeugnis auf dem Grunde, daß sie ein Kind Gottes ist... Indessen muß man auch dies wie alles übrige verlieren...

Und das erst bewirkt in Wahrheit den mystischen Tod: ... vor Schwachheit umsinken, in das Elend und in den Schmutz fallen, das ist es, worein man nicht willigen kann, weil man nie darein willigen darf. Hier ... fassen die Schrecken und Ängste des Todes das Herz, das nur noch Leben zu haben scheint, um seinen Tod zu fühlen.' -

Ist diesem mystischen Tode noch 'Begräbnis', 'Verwesung' und 'Veräscherung' des alten Ich gefolgt; ist die Seele geworden 'wie eine Person, die nicht mehr ist und nie wieder sein wird'; hat sie selbst das Grausen vor dem eigenen Zustande verloren und mit der Vernichtung die Ruhe des Staubes erlangt, so fühlt sie einen neuen Lebenskeim allmählich sich regen. 'Ihr seid erstaunt, daß eine geheime Kraft sich euer bemächtigt... Ihr befindet euch in einem neuen Lande... und fühlt eine angenehme Überraschung.'

[1] Grass 217f. (über Radajew); 213 (über St. Iljin); 186f. (über Porphir Katasonow). Vgl. das. 189 und Pfizmaier 121.
[2] Starbuck 376. 377. 378.
[3] Joly 5.
[4] Dschellâl ed-dîn Rûmi
[5] Tholuck, Ssufismus sive Theosophia Persarum panteistica (Berl. 1821) 249; Kremer 70.
[6] Ramakrishna 345.
[7] Ce je ne sais quoi, qui soutient dans le fond...


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Kap IV. Vergottung.    (S. 40)

Das 'neue Land' aber ist das Leben in Gott, ohne sich selbst. 'Alles ist Finsternis und Dunkel hinsichtlich meiner; alles ist Licht von seiten Gottes; .. es gibt da weder Schmerz, noch Leiden, noch Vergnügen, noch Ungewißheit: sondern nur einen vollkommenen Frieden; nicht in sich, sondern in Gott: keinerlei Teilnahme für sich selbst, keinerlei Erinnerung an sich, noch Beschäftigung mit sich selbst. ... [1]

Vermutete man irgendwelches Gute in mir, so irrte man sich und täte Gott unrecht. Alles Gute ist in ihm und für ihn. .. Der Wille und die Instinkte sind verschwunden: Armut und Nacktheit ist mein Teil. Ich habe weder Vertrauen, noch Mißtrauen, mit einem Worte nichts, nichts, nichts.' - Gott also, dem man ursprünglich wie einem Andern [2] nachstrebte, den man dann in gewissen Stunden feurig in sich eingreifen fühlte, Gott ist jetzt das Ich des Menschen, das Leben seines Lebens geworden.

Und in einem ihrer Briefe [3] gibt sie die schlagende Formel: Man dürfe im strengen Sinne nicht von mystischer 'Auferstehung' sprechen, denn der Auferstandene lebe desselben Lebens wie zuvor: 'hier aber lebt der Wille nicht länger des ersten Lebens, er ist verzehrt, verdaut, verwandelt: so daß Gott alles in dieser Seele will; er will aber in einer absoluten Weise'. [4] 'Alles ist hier Gott, [die Seele] lebt, wirkt nicht mehr durch sich selber, sondern Gott lebt, handelt und wirkt.'

Oder in einem anderen theologischen Begriffspaar ausgedrückt: Was vordem 'Gnade' war - die Gnadenerweisung einzelner Augenblicke -, ist jetzt völlig, abschließend, und weit gründlicher als durch die Erweckung, 'Natur' geworden. Man wird nicht mehr von Gott berührt, beraten, gemodelt; man ist Gott geworden - 'par participation', versteht sich. [5] 'Mein Ich ist Gott; ich bin Gott', dies Wort hat der Mystiker auf der Stufe der Vollendung nie gezaudert auszusprechen. [6]

Diese völlige Vereinheitlichung der Natur und die Abwesenheit aller inneren Widerstände bedingen nunmehr einen solchen Zustand der Ruhe, daß der Vergottete 'mit Herz und Eingeweiden äußerlich und innerlich in ein Meer des tiefsten Friedens versenkt zu sein glaubt, aus welchem er nimmer herausgeht, was immer ihm in diesem Leben zustoßen mag'. [7]

Vor allem fehlt ja nunmehr die Möglichkeit innerer Enttäuschungen; 'denn jedes Verlangen ist hinweggenommen: im Ganzen, im Mittelpunkt ruhend, verliert das Herz alle Neigungen, alles Streben, jeden Hang, jede eigene Tätigkeit, wie es auch alles Widerstreben verliert'. [8]

Mit dem letzten inneren Widerstreit aber entfällt nun auch vor allem die bisher so quälende Selbstverurteilung, die negative Wertung von Teilen des Ich. Es ist darum nur folgerichtig, wenn der Vergottete den Anspruch erhebt - ohne alle Selbsterhebung, aber mit der Bestimmtheit schärfster Erkenntnis -,

[1] Guyon, Opusc. 215. 189. 230. 227. 225f. (Torrens, p. I ch. 7 § 41.4; ch. 9 § 3; ch. 8 § 20. I4f.) Selbst der Wunsch nach der ewigen Seligkeit müsse geschwunden sein: Vie I 180, III 239f. Die 'geheime Kraft' ist offenbar jene, die 'zuvor am Grunde schlummernd und stützend empfunden wurde’.
[2] quelque chose de distinct d'elle, Opusc. 321 (Torrens I, 9, 6).
[3] Lettres (éd. Dutoit, Paris 1789ff.) II 18.
[4] par elle-même. (Opusc. 255f.)
[5] Die übrigen Nachweise s. Vie p. 11 ch. 4 § 2; Torrens 1,9,11.16.
[6] Guyon bei Delacroix I43. Ebenso S. Kathar. v. Genua, Marabotto c. 14; Mechthild v. Hackeborn (Preger I 119); sufisch: M. Buber, Ekstatische Konfessionen 18. Vgl. zum Vorstehenden noch Tauler über die äußerste 'Vernichtigung' (Preger III 204ff.); de Gort 122f. (p. I conf. XXI); Kremer  270.
[7] Lechner 188,
[8] Guyon, Opusc. 233 (Torrens I, 9, 9).


Kap IV. Vergottung.    (S. 41)

daß er nunmehr der Sünde abgestorben sei und ein Leben der Vollkommenheit lebe. Zu sagen, daß nur mehr Gottes Wille in ihm wirke, und: daß er nicht mehr sündige, muß ihm natürlich als ein und dasselbe erscheinen. Diese Behauptung ist durchaus psychologisch zu nehmen. Eine äußerlichere, magisch-sakramental denkende Religiosität hatte etwa in den Anfängen des Christentums den getauften Büßer für entsündigt und forthin sündlos erklären können. [1]

Auch ist die alte Zeit erfüllt von Vorstellungen, in denen Begriffe äußerlich mitgeteilter Vollendung und innerlich erworbener Heiligkeit schwerfaßlich ineinander spielen; - ich denke etwa an den Vollkommenen, den .... der hellenistischen Mystik, in dem die Gnosis zum dauernden Zustand geworden, und der - ganz mystisch - als in der Gnosis Lebender [2], den polaren Gegensatz zum Weltkinde bildet, das ihn verlacht und haßt; [3] oder an den Zaddik der hebräischen Mystik, der selbst in sich Gebote und Thora vorstellt und niemals irrt, 'weil er die personifizierte Vollkommenheit ist', 'ganz durchgeistigt, ja ein Teil von Gott, nämlich der Geist Gottes'. [4] -

Ich entscheide nicht, wie weit in solchen Behauptungen der Sündlosigkeit der klare Begriff vorweggenommen sei, den wir nach allem Vorausgegangenen uns bilden müssen: der Begriff der Abgestorbenheit jener Selbstregungen, deren Vernichtung der ganze 'mystische Weg' erstrebt. Alle oben genannten Zeugen für die Möglichkeit der Vergottung - und ihre Zahl könnte vermehrt werden - ziehen jedenfalls die Schlußfolgerung vom Ich-Tode auf die sündlose Vollkommenheit.

'Das Böse, so lehrte schon persische Mystik, ist die Entfernung von Gott; wer sich Ihm nähert, ist immer weniger des Bösen fähig; er muß dahin gelangen, daß er nicht mehr Gut und Böse unterscheidet und in der Folge Taten der Liebe vollbringt ohne Anstrengung, gleichwie der Duft ohne Mühe von der Blume ausgehaucht wird.' [5] Vom geheimnisvoll Gestorbenen hatte auch der russische Sektierer behauptet, daß er 'Leidenschaftlosigkeit und Heiligkeit erlange und für immer frei von der Sünde' werde. [6]

Und nicht minder deutlich der protestantische Erweckte, der die Entwicklung seines bekehrten Zustandes mit der 'Sanktifikation' abschließt: 'Alle Sünde war aus meinem Herzen genommen.' 'Ich fühlte mich so rein, daß ich aus Glas zu sein wünschte, damit Jeder in mein Herz blicken könnte.' 'Ich weiß, daß die Heiligung [selbst] alle Wurzeln von Neid, Eifersucht, Arglist, Gehässigkeit, falschem Stolz, Bitterkeit und Ungeduld aus meinem Herzen nahm.'

'Versuchungen von außen fallen mich noch an; aber im lnnern ist nichts mehr, was auf sie eingehen könnte.' So und ähnlich in vielerlei Wendungen lauten Selbstbezeugungen, die der gewissenhafte Psychologe gesammelt hat. [7]

Von der Schärfe der Guyon dürfen wir ohnehin die größte Ausdrücklichkeit auch dieser Anerkennung erwarten.

[1] Vgl. H. Windisch, Taufe und Sünde im ält. Christentum... (Tüb. 1908), ref. in AR XV 522
[2] ....
[3] Corp. Herm. IX 4. bei Reitzenstein 114. 115.
[4] Den Gegensatz des Talmid Chacham, des Gesetzeschinders. Vgl. Horodetzky in AR XVI 145. 155 f.
[5] Probst-Biraben, Contrib. du Soufisme à l'étude du myst. univ., in RPh 1906 I 524 f.
[6] Grass 2I3 (Stephan IIjin).
[7] Starbuck 378. 379. 383. 384.


Kap IV. Vergottung.    (S. 42)

Das neue Leben nennt sie 'vollkommen mit der Vollkommenheit Gottes', wie es 'reich mit seinem Reichtum und liebend mit seiner Liebe' sei; die Seele sei 'in vollkommener Unwissenheit des Bösen und gleichsam unfähig, es zu begehen, ... denn nur die Eigenhaftigkeit kann Sünde erzeugen: was aber nicht mehr ist, kann nicht sündigen.’ [1]

Und dergleichen Worte bedeuten ihr nicht nur Lehre, Behauptung, Theorie; denn in ihrer Selbstbiographie beschreibt sie in sich selber 'eine Arglosigkeit der Seele, die ich nicht auszudrücken vermag, eine unbegreifliche Unschuld, die niemand kennen oder verstehen kann, der noch in sich eingeschlossen ist', und beansprucht 'unfehlbares Handeln', 'indem ich keine andere Quelle des HandeIns habe, als die unfehlbare'. [2] Und mit feiner Folgerichtigkeit leugnet sie selbst die Tugendhaftigkeit des HandeIns in solchem Zustande.

Denn tugendhaft sei der menschliche Wille, der sich mit Hilfe der Gnade einem gewissen Ideal unterwirft. Aber die Handlungen, die man aus einem göttlichen Prinzip verrichte, seien göttliche Handlungen, [3] und eben darum - füge ich bei - dem Wertmaß menschlicher Handlungen nicht unterworfen. Mit der Zweiheit der Natur hat ja auch die innere Gegensätzlichkeit aufgehört:

'Es ist bei [der Seele] kein Ankläger mehr'. sagt Mme. Guyon einmal. Man ist (könnte man auch sagen) ganz Gewissen geworden, und hat darum keines mehr; wie man ganz 'göttliche Natur', wie die 'Gnade' einem zur 'Natur' geworden ist.

Solche Worte einer Heiligen vom Schlage der Guyon mögen dann auch gestatten, in ähnlich anomistisch, ja amoralisch klingenden Äußerungen minder durchschaubarer Herkunft den Ausdruck von Erfahrungen nach Art der Vergottung zu vermuten.

'Verschwunden die Gedanken, die nach Gut und Böse fragen', singt der gottbegeisterte Sufi, [4] und der Gulshan Ras drückt den gleichen Gedanken in den Worten aus: 'Wer kein Dasein hat, das ihm eigen sei, der kann durch sich selbst weder gut noch böse sein. [5] 'Der vollkommene Weise mag, so lange er lebt, nach Belieben Gutes und Böses tun, ohne sich zu beflecken; solcher Art ist die Wirksamkeit einer Kenntnis des Selbst.' [6]

Und erst in der Romantik spielt der Gedanke lebhafter zwischen Mystik und Libertinismus hin und wieder, wie etwa in Novalis' schillerndem Wort, daß 'dem echt Religiösen nichts Sünde sei', oder in Blakes Schwärmereien von der Herrlichkeit des reinen Triebes im Gegensatz zur gefallenen Natur. [7]

Hier erheben sich augenscheinlich Fragen; doch ist ihre Beantwortung noch nicht dieses Ortes.

[1] Opusc. 230. 253; vgl.268 (Torrens I, 9, 3; 11,2,2; 4,2).
[2] Vie 11 133. 33; vgl. Opusc. 256 (Torrens 11, 2, 7). Daher das Aufhören aller Abtötungen; Lechner 64f. (Marabotto c. 5).
[3] Opusc. 54 (Moyen Court ch. XXI § 6).
[4] Dschellâ ed-dîn Rûmi (bei Vaughan  II 14). Vgl. E. Trumpp in ZDMG XVI 243.
[5] Probst-Biraben, aaO. 525. Über die spanischen Alombrados s. Heppe 42.
[6] D.i. hier: des göttlichen Ich. Änandagiri bei A. E. Gongh, The Philosophy of the Upanishads... (Lond. 1882) 61; vgl. auch Brihadâranyaka-Upan. 4, 3, 22f. (Deussen, Sechzig Up. 480.)
[7] Novalis' WW hrsg. von B. Wille IV 375; über Blake s. O. v. Taube, William Blake, die Ethik der Fruchtbarkeit (Jena 1907) bes. S. XXXlIIf.
[8] Ich übergehe die Frage eines noch weiteren Fortschritts des Vergotteten in Gott (sogar durch 'Grade ohne Zahl': Guyon, Opusc. 212. 228. 264; vgl. Deutsche Theol. 88; Palmer 20; Carra de Vaux, Gazali [Par. 1902] 197; im Zusammenhang mit dem Zugeständnis gewisser leichter Unvollkommenheiten auch des Vergottungszustandes und der Unmöglichkeit völliger Sündlosigkeit. S. z.B. J. H. Noyes, Confessions... (Oneida Reserve 1849) 23 und Guyon, Opusc. 238f. (Perfektionistenstreit).

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