Konflikte:
Ursachen und Bewältigungsmöglichkeiten

(Gerhard Juchli - 14. Mai 2002)


Konflikte, Spannungen und Zerwürfnisse selbst in Gemeinschaften, die nach hohen Idealen wie zum Beispiel Freundschaft, Nächstenliebe und Wahrhaftigkeit streben? Im Laufe meiner langjährigen psychologischen Beratertätigkeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass solche Störungen der Harmonie und der Eintracht tatsächlich auch in solchen Kreisen vorkommen: manchmal offen, direkt und unverhüllt, gelegentlich eher unauffällig und unterschwellig. 

Inwiefern lässt sich rechtfertigen, dass die elementare Tatsache von Einheit und Zwiespalt unter Menschen in Webseiten, die sich mit Jenseitsforschung befassen, erläutert wird? Nun, es handelt sich hier um einen Sachverhalt von universaler Bedeutung, der Bewusstes und Unbewusstes und damit Diesseitiges wie Jenseitiges beinhaltet.

Letzteres insofern, als unsere Unbewusstes nach Auffassung ernsthafter Tiefenpsychologen mit Seinsebenen jenseits unserer normalen Wahrnehmung verbunden ist. Und es fehlt nicht an namhaften Forschern, die zumindest für Personenkreise, die nicht von rationalistischen Vorurteilen durchdrungen sind, glaubwürdig versichern, dass das normalerweise Nichtbewusste  auch in nachtodliche Existenzbereiche hineinragt.

Dort sei auf "unteren" Stufen das Trennende und Sich feindliche gleichermaßen ausgeprägt wie im irdischen Leben, wobei hingegen auf höheren Bewusstseinsebenen das integrative und selbstkritische Denken, Fühlen und Handeln die klar dominante Mentalität sei.

 Friede, Ausgleich und Verständigung bei schöpferischer Mannigfaltigkeit sowie Respekt vor der Individualität seien hier die vorherrschenden Leitbilder. Warum im Sinne einer Vorbereitung auf das Weiterleben nach dem Tod nicht schon im Hier und Jetzt eine angemessene Überwindung leidvoller Konflikte üben? 

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich das Leben innerhalb von Gegensätzen wie Liebe und Hass, Ruhe und Tätigkeit, Ratio und Gemüt, Materialität und Spiritualität usw. entfaltet, und offenbar gerade die Kräfte dieser Pole dazu bestimmt sind, die Weiterentwicklung zu fördern und ein Stehenbleiben zu verhindern, ist allerdings gerechtfertigt, Konflikte nicht ausschließlich als etwas Negatives zu betrachten.

Sie können unseren geistigen und gefühlsmäßigen Horizont erheblich erweitern und dazu führen, dass wir uns im Rahmen eines permanenten Balanceaktes ständig um ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus und anderen Polaritäten bemühen.

In den Beziehungen unter Ihnen dürften unterschiedliche Ansichten und Standpunkte schöpferische Auseinandersetzungen - solange sie nicht eskalieren - sinnvolle Kompromisse, überraschende Entdeckungen und fruchtbare Neuorientierungen sogar stark begünstigen.

Nur ist eben hierfür schon eine gediegene und wohlwollende Streitkultur erforderlich. Wir sollten durchaus reagieren, wenn etwas geschieht, das uns nicht passt oder unseren Überzeugungen von Recht und Ordnung widerspricht.

Andernfalls würden wir nicht der Wahrheit, sondern einer verlogenen Scheinharmonie dienen, die die Atmosphäre zwar subtiler, doch ansonsten gleichermaßen vergiftet wie aggressive Konfrontationen. Die Legitimität, die eigene Meinung zu vertreten und zu verteidigen, entbindet aber nicht der Pflicht, im Ton taktvoll und im Urteil vorsichtig und selbstkritisch zu bleiben.

In diesem Zusammenhang sündigen und versagen wir mitunter und verhalten uns hin und wieder mehr destruktiv als bewahrend oder aufbauend. Unter diesen Umständen ist es sicher kein luxuriöser Zeitvertreib, wenn wir uns einmal auf die Ursachen dieser Entgleisungen besinnen.

Alsdann sollten wir versuchen, durch Arbeit an uns selbst größere Zwistigkeiten zu vermeiden und andere nicht zu verletzen und zu entmutigen. Ferner gilt es noch zu berücksichtigen, dass sich unsere zeitweilige Lieblosigkeit keineswegs nur durch Impulsivitäten, sondern ebenso sehr durch ein ungerührtes und gleichgültiges Gebaren gegenüber in irgendeiner Weise Not leidenden Mitmenschen oder gar nahe stehenden Beziehungspersonen äußern kann.

Wie das ist, würden Sie, sofern Ihnen die diesbezügliche Erfahrung abgeht, spätestens dann selbst spüren, wenn Sie - niemand ist völlig dagegen gefeit - auf der Straße des Lebens plötzlich von einem herben Schicksal überfallen würden, geschunden am Boden lägen und die meisten Passanten wie im biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter achtlos an Ihnen vorbeiziehen.

Normalerweise erwarten Sie in einer solchen Situation vielleicht gar nicht in erster Linie eine praktische Hilfeleistung, sondern eine gewisse Begleitung oder wenigstens ein aufrichtiges Wort des Mitgefühls und der Anteilnahme.  

Wenn solche Fälle geringer Toleranz und mangelnder Solidarität gehäuft vorkommen und sich dadurch relativ viele Glieder des sozialen Körpers, den Gemeinschaften bilden, lediglich teilweise oder überhaupt nicht mehr wohl fühlen, funktioniert der Organismus als Ganzes nur noch begrenzt und büßt seine Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft ein.

Trotzdem wundern wir uns, dass für nicht wenige die Attraktivität für anspruchsvolle Ideale laufend abnimmt. Wenn sich die überwiegende Mehrheit in diesem sozialen Umfeld wirklich geschätzt, geschützt und zu Hause fühlte, ergäbe sich wahrscheinlich ein kontinuierliches Wachsen und erfreuliches Gedeihen humanistischen Gedankengutes nahezu von selbst.

Beschwörende Aufrufe der Verantwortlichen zu mehr Disziplin, Engagement und Begeisterung sind nutz- und zwecklos, wenn es fundamental an Nestwärme, Geborgenheit und an einer angemessenen Betreuung von Mitgliedern  in bedrängter Lebenslage fehlt. 

Aus meiner Sicht sind es Reifedefizite in gewissen Bereichen unserer Persönlichkeit,  die als auslösendes Moment für extremere Konflikte in Frage kommen. Sobald sich bei delikaten und schwierigen Diskussionen jemand allzu leidenschaftlich ereifert oder in kleinlicher Manier eine lebensfremde Perfektion fordert, so kann der eine weder sein lebhaftes Temperament noch der andere eine vorbildliche Korrektheit als glaubwürdige Entschuldigung anführen.

Von einem gewissen Punkt an spielt da der „dunkle Bruder“ in uns eine Rolle. Damit meine ich den seelischen Faktor, der von der Analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung als „Schatten“ definiert wird. Gerade in Gruppen, die sich nach besten Vorsätzen bemühen, sich ethisch zu profilieren, kann dieses Phänomen des Widerspruchs zwischen Leitbild und Wirklichkeit in zahlreichen Varianten beobachtet werden.

Vermutlich ist es sogar eine eigentliche Gesetzmäßigkeit, dass überforcierte und dem Menschen zu wenig angepasste moralische Anstrengungen früher oder später das Gegenteil der ursprünglichen Absicht bewirken. Sozusagen als Rückschlag unserer innersten Natur, die keine Einseitigkeiten und Vernachlässigungen duldet, mögen sie sich nach unserem Ermessen noch so sehr an edlen und großartigen Zielen orientieren.

Bei diesen Gedanken kommt mir ein Zitat von Dr. Georg Groddeck, einem Mitbegründer der psychosomatischen Medizin, in den Sinn. Seine Ideen haben mich schon öfters beschäftigt, und ich glaube, dass er nicht ganz Unrecht hat.

Er schrieb einmal: „Wer gut zu sein strebt, wird nie gut sein; wer aber sich selbst, alles Streben nach einem anderen, angeblich besseren Selbst verliert, wird sich selbst finden und ohne dass er es hindern kann, gut genannt werden und Sicherheit, Harmonie, Gesundheit in reichem Masse allen schenken, die fähig sind, sich schenken zu lassen.“ 

Doch nun zurück zum „dunklen Bruder“ in uns. Gemeint ist also damit der „Schatten“, unter dem man jene Teile unserer Persönlichkeit versteht, die wir verdrängen, nicht wahrhaben wollen, weil sie unserem Ichideal entgegengesetzt sind. Vielfach handelt es sich aber auch um wertvolle Anlagen und Möglichkeiten, die jedoch - weil unbewusst und unentwickelt - unreif, primitiv und undifferenziert geblieben sind.

Indessen besonders jene minderwertigen Eigenschaften, die wir trotz ihrer heimlichen Existenz überzeugt als nicht zu uns gehörig betrachten, können in unserem Seelenleben allerlei Spannungen, Ungereimtheiten und Maßlosigkeiten verursachen, vor allem aber den fatalen Mechanismus der so genannten Projektion auslösen, indem wir unsere eigenen Fehler auf die Umwelt abschieben, sie von dorther als Bedrohung erleben und entsprechend massiv bekämpfen.

Das ist ein gewaltiges Problem, das nicht nur unser individuelles Dasein, sondern auch das kollektive Schicksal der Menschheit stark mitbestimmt.

Man denke an die zahlreichen Konflikte zwischen vielen Völkern der Welt. Die Regierungen hüben und drüben beargwöhnen sich misstrauisch und übersehen, dass die vermeintlich bösen Absichten der anderen mindestens teilweise auf dem eigenen Mist gewachsen sind und projiziert werden.

Ein französischer Psychologe hat hierfür ein treffendes Wort gefunden: persécuteur persécuté. Auf Deutsch: verfolgter Verfolger.

Dieser tragische Mangel an Selbsterkenntnis wirkt sich auch im Kleinen des menschlichen Zusammenlebens aus. Wer kennt zum Beispiel nicht eingeengt und abschätzig moralisierende Personen, die sittlich freizügigere Naturen aufs Schärfste verurteilen und dennoch für die Ziele ihres Hasses eine seltsame Neugier entwickeln, ja von ihnen magisch angezogen werden?

Oder bekanntermaßen ichbetonte, rechthaberische und geltungssüchtige Menschen, die sich unter dem Deckmantel ihres vordergründig scheinbar sachlichen und bescheidenen Benehmens immer wieder über die Egozentrik, die Intoleranz und das Machtstreben ihrer Umgebung beklagen?

Die Liste für unbewusste und nach außen verlegte Unzulänglichkeiten ließe sich leicht verlängern, doch hätte sie erst von dem Punkt an Sinn, wo sie unseren persönlichen Standort, unser eigenes Böse- und Unvollständigsein tangierte. Um herauszufinden, wo uns der Schuh drückt, ist oft keine aufwendige Analyse erforderlich.

Die Erfahrung zeigt nämlich, dass jene Dinge, auf die wir überempfindlich reagieren, nicht selten mit unserem „Schatten“ zusammenhängen, also mit Wesenszügen, die in uns vorhanden, aber noch nicht wahrgenommen oder ausreichend eingeordnet worden sind. Dennoch besitzen wir offenbar eine tief liegende Resonanz den Leuten und Gegebenheiten gegenüber, die uns beunruhigen.

Andernfalls vermöchten wir ja verhältnismäßig gelassen und leidenschaftslos zu bleiben. Damit ist angedeutet, dass das verantwortungsbewusste Erkennen und Integrieren unserer Schwächen und unausgeschöpften Potentiale mit Sicherheit zu einer Verbesserung der mitmenschlichen Beziehungen sowie zu einer Reifung und Vertiefung unserer Persönlichkeit führt.  

Im Traumleben stellen sich übrigens die Schattenelemente unserer Wesensart häufig in einer hässlichen oder sonst wie unvorteilhaften Person gleichen Geschlechts dar. Ob wir es akzeptieren oder nicht, tritt da jeweils personifiziert eine ursprüngliche Seite von uns in Erscheinung, unser „dunkler Bruder“ oder unsere "dunkle Schwester", der/die wir im Tiefsten selbst sind.

Dadurch, dass wir ihn/sie durch Bewusstwerdung von seinem Schattendasein erlösen und ihn/sie angemessen überschauend in das Leben einbeziehen, verliert er/sie an Obszönität, Gefährlichkeit und Angst erzeugender Wirkung und wird - wie bereits angetönt - ein ergänzender und bereichernder Aspekt unseres Charakters. Freilich genügt es keinesfalls, dass wir uns oberflächlich gewisse Mängel und Limiten eingestehen.

Wir können auf dem Weg zu einem erfüllten, vernünftigen und ganzheitlichen Leben nur weiterkommen, wenn wir in der persönlichen Gewissenserforschung die neuralgischen Punkte zwar nicht gerade spitzfindig und masochistisch, aber doch konkret, ehrlich und ungeschönt beim Namen nennen und unsere Mitschuld an den Schwierigkeiten des Alltags wirklich einsehen. Das ist einerseits schmerzlich, andererseits heilsam und notwendig.  

Die Bewältigung unserer Konflikte im Zusammenleben oder Zusammenwirken mit anderen erfordert also vorerst einmal das demütige Eingeständnis, dass wir alle - der eine mehr, der andere weniger - mit Fehlern und Bewährungsnöten behaftet sind. Wenn wir aufgrund dieses Bewusstseins versuchen, zukünftig auf echte oder vermeintliche Beleidigungen ein paar Grade verständiger und damit weniger gereizt und unbeherrscht zu antworten, ist schon recht viel erreicht und gewonnen.

Außerdem sollten wir danach trachten, weder zu kritisch, zu festgelegt und zu eigenwillig zu denken und zu handeln noch unsere Persönlichkeit durch labilen Opportunismus und treulose Grundsatzlosigkeit aufzulösen. Weise wäre wohl ein von beweglicher Geformtheit und zugleich von geformter Beweglichkeit geprägter Stil, denn er versetzte uns in die Lage, der Umwelt ebenso prägnant wie situationsgerecht zu begegnen. 

Wie ich in einem anderen Essay schon einmal vermerkte, hat dieses Suchen und Finden unserer relativ ausgewogenen Mitte weder mit Mittelmäßigkeit noch mit Leidfreiheit und Mühelosigkeit zu tun.

Gemeint ist ja das beharrliche Ringen um jene gesunde, weil ebenso eigengesetzliche wie allseitig aufgeschlossene Lebensform, die ihre Kraft aus dem Zentrum unserer Individualität schöpft, - also aus jenem heilen, kreativen und erlösenden Herzensbereich, wo unsere begrenzte und zwiespältige Persönlichkeit verhältnismäßig geeint an das Unendliche, Allumfassende und Überraumzeitliche zu rühren scheint.  

Doch wie ist es praktisch möglich, dass wir es schaffen, zusätzlich zur unabdingbaren Selbsterkenntnis einigermaßen in Fühlung mit dieser Herzensmitte zu kommen, die wenigstens zeitweise Anschluss an jene Universalwirklichkeit gewährt, in der Kraft, Liebe und Weisheit vereint sind?

Für manche ist hierfür die Meditation geeignet, aber viele haben zu dieser Praxis der Innenschau keinen Zugang. Nun, es gibt auch andere Übungen, die da weiterführen. Sie weisen zwar auch einen meditativen Charakter auf, sind aber für nicht wenige Menschen passender, verständlicher und durchführbarer.

Ich denke unter anderem an die einfache Aktivität des Gehens. Wenn wir das Gehen - darauf kommt es wesentlich an - ausdauernd und regelmäßig so üben, dass wir unseren ureigensten Rhythmus finden, weder zu rasch noch zu langsam schreiten, den körperlichen Schwerpunkt bewusst in den Bauchraum verlagern und uns entsprechend elastisch und natürlich, gelöst und selbstvergessen und doch in standfester Haltung sowie tief, ruhig und unverkrampft atmend vorwärts bewegen, ergibt sich die Chance, dass wir vermehrt von einem Erlebnis ergriffen werden, das uns gemäß dem Geist-Körper-Seele-Einheitsprinzip und im Verein mit den anderen Bemühungen nach und nach zu reiferen und ausgeglicheneren Menschen verwandelt.


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