Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.737)

Indessen gibt es einen m. E. sehr viel gewichtigeren Hinweis darauf, daß die Quelle übernormalen Erkennens und diejenige erwecklicher Erfahrungen einem Quellgebiet angehören, als die Beobachtung ihrer gleichartigen Auslösung.

Weil uns die Tatsachen 'nachprüfbaren' magischen Erkennens letzten Endes eine unsichtbare Welt des seelischen Geschehens und der lebendigen Einflüsse gewährleisteten, konnten wir von der Vermutung nicht lassen, daß in den Offenbarungen der Mystiker irgend etwas Bedeutsames verborgen liege.

Nachprüfbare Überleistungen mußten den nicht-nachprüfbaren zuletzt als logische Stütze dienen: das war der Sinn unsres Gedankenganges. Daß nun der Mensch jener Offenbarungen in sehr vielen Fällen auch der Mensch der erwecklichen Erlebnisse ist, mag schon ein Vorurteil zugunsten metapsychischer Bedeutsamkeit der letzteren begründen.

Aber soviel gewisser die metapsychische Bedeutung der nachprüfbaren übernormalen Leistungen als die der 'Offenbarungen' ist, soviel stärker müßte das günstige Vorurteil sein, das durch ein persönliches Zusammengehen jener ersteren Leistungen mit erwecklichen Erlebnissen begründet würde.

Mit anderen Worten: wenn nicht nur Offenbarungen des mystischen Typs, sondern auch Leistungen des hellseherisch- prophetisch-spiritistischen Typs bei Heiligen und Erweckten sich besonders häufig zeigten, so läge es nahe zu schließen, daß auch das beherrschende Kennzeichen dieser Personen - ihre Heiligkeit oder Erwecktheit - auf einem besonderen Verhältnis zu jenen


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.738)

über individuellen geistigen Zusammenhängen beruhe, die das magische Erkennen erklären; denen gegenüber die Heiligen eben durch ihre überhäufigeIl magischen Leistungen eine besondere 'Offenheit' bekunden würden.

Noch anders ausgedrückt: wenn ein gewisser Menschentyp sich durch zwei Besonderheiten vom Durchschnitt abhebt, von denen die eine (seine überhäufige magische Tätigkeit) erweislich ins Übersinnliche greift, die andere (seine Erwecktheit) mit größter Schärfe des Selbstbewußtseins ihre Herkunft aus dem Übersinnlichen behauptet,

so ist es natürlich, nicht nur zu schließen, daß beide in der Tat einem Wurzelgebiet entstammen, sondern auch die übersinnlichen Voraussetzungen der einen Besonderheit versuchsweise auf die Deutung der andern anzuwenden.

Daß nun mit jener Überhäufigkeit tatsächlich zu rechnen sei, wird niemand bezweifeln, der die Biographik der Erweckten kennt.

Jedes typische Heiligenleben enthält entweder eine beträchtliche Zahl verstreuter Geschichten, wie sie das Herz des Metapsychologen erfreuen, oder geradezu einige besondere Kapitel, welche die Leistungen des Heiligen im Lesen geheimster Gedanken oder Erblicken des Verborgenen, seine Erscheinungen in der Ferne, seine magische Naturbeherrschung und andere verwandte Züge beschreiben.

Fraglich also kann zum mindesten nicht die biographische, sondern nur die wirkliche Überhäufigkeit derartiger Leistungen im Leben der Erweckten sein; denn - wie kaum wiederholt zu werden braucht - die Beweiskraft solcher Berichte ist ja in den meisten Fällen gleich null, und das Urteil der Wissenschaft und der Gebildeten hat sie darum auch stets als Ausgeburten des Aberglaubens, als nachgebildete Mythe oder als fromme Fälschung beiseite geschoben. -

Nun können wir allerdings nicht bezweifeln - nach allem seit der ersten Erwähnung dieser Tatsachen [1] Ermittelten -, daß dieses vernichtende Urteil weit übers Ziel hinausschießt.

Ganz abgesehen davon, daß die Beweiskraft einzelner der fraglichen hagiologischen Berichte eine beträchtliche, gelegentlich sogar starke ist, muß die kritische Erweisung völlig gleichartiger Geschehnisse außerhalb der Hagiologie das stärkste Vorurteil zugunsten wenigstens vieler jener Berichte erregen.

Sobald die berichteten: Tatsachen an sich einmal als Naturereignisse von wohlbekanntem Typ erwiesen sind, darf man auch die Zeugnisschwäche der hagiologischen Berichte milder beurteilen, indem man sie als natürliche Folge der kritischen Naivität ihrer Verfasser hinnimmt, die natürlich die Beweislast nicht voraussehen konnten, welche eine spätere ungläubige Zeit ihnen auferlegen würde.

Und schließlich darf nicht übersehen werden, daß die Hagiologie kein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit ist, daß vielmehr auch die Gegenwart - und dann zuweilen die Augen kritischerer und

[1] o. Kap. XXXVI.


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.739)

zeugnisfähigerer Zuschauer - das Beisammen von Heiligkeit und metapsychischer Überbegabung beobachten.

Eine Einengung der Grundlagen unseres Schlußverfahrens auf die wenigen glaubwürdigen - etwa modernen - Fälle hagiologischer Metapsychik würde also der geschichtlich-zufälligen Lage des Problems nicht im entferntesten entsprechen.

Um die Häufigkeit metapsychischer Leistungen innerhalb des erweckten Lebens richtig einzuschätzen, müssen freisinnigere Grundsätze angewendet werden. Einer der wichtigsten aber scheint mir hier in einer offenäugigen Zeugniszulassung der umfassenden, wenn auch soz. namenlosen Erfahrung der Menschheit zu allen Zeiten zu bestehen; keine verächtliche Instanz selbst neben der experimentellen Erfahrung einer beschränkten Zahl von Gelehrten neuerer Zeit.

Um nur wenige Kulturkreise zu streifen: Indien, nach allgemeinem Urteil ein klassisches Gebiet religiöser Erfahrung und metapsychischer Begabung, war sich seit Alters darin einig, bei den Heiligen und Jenseitigen auch die Fähigkeiten übernormalen Erkennens und Wirkens zu suchen:

die Lehre von den siddhis ist das bekannteste Zeugnis dafür. [1] - Bei den Juden sehen wir den Propheten großen Stils als 'religiösen Prediger' unmerklich aus dem nabi als (u. a.) gewerbsmäßigem Hellseher und Zukunftleser hervorwachsen, ja beide Typen noch vereinigt in Samuel, der um den Preis eines Viertelsekel wegen verlorener Esel und anderer Gegenstände seine Ratschläge erteilt, wie ein modernes Medium von Beruf. [2] -

Auch für das Griechentum - wo seine Religion aufhört, Verklärung des Diesseits zu sein - verband der göttliche Mensch (der theios anthropos) 'tiefstes Erkennen, Seher- und Wunderkraft und eine Art persönlicher Heiligkeit'. [3]

'Es gilt in der erzählenden Literatur als selbstverständlich, daß solche Männer die Zukunft vorauswissen, Kranke heilen, oder gar Tote auf Augenblicke wieder beleben können.' [4] -

Das Christentum zeigt sofort bei seinem Eintritt das Leben seines Stifters - darin das Vorbild aller seiner Heiligen - durchsetzt von Taten des Hellsehens und der Weissagung und anderen Wundern, [5] und seine älteste und verbreitetste Kirche macht die Heiligsprechung des Einzelnen vom Beweise nicht nur außerordentlicher mystischer Frömmigkeit, sondern auch einiger 'Wunder' abhängig. [6] 

[1] S. zB. Akankheyya-Sutta in Majjhima-Nikäya, bei Warren, Buddh. in transl. 303f.; reiches südind. Material bei Pillai, bes. 31-38; vgl. auch SBE XI, Numerical coll. III, 60 u. a. - Islamisch: zB. Asin 217; W. M. Patton in ERE XI 64b (Beisammen von Gotteinwohnen und übermenschlicher Erkenntnis u. Macht).     
[2] S. hierzu A. Sabatier, ReJigionsphilosophie 122ff. Weitere jüd. Lehrbehauptungen dieser Art bei Horodetzky in AR XVI 153f.     
[3] So formuliert von Reitzenstein 12.   
[4] Das. 13; vgl. 129. 151 (aus Lukan, Phars. V, 161ff.). Ähnliches bei Pythagoras, Empedokles u. a.: Joel, Urspr. der Naturphilos. 85f.   
[5] Zusammenstellung zB. bei Kreyher II 130ff. über Häufigkeit von Vorschau unter frühen Christen s. Origenes, Contra Celsum I c. 46.    
[6] Vgl. Prosp. de Lambertinis [später Papst Benedikt XIV], De servor. Dei beatificatione et beator. canoniz. (Bononiae 1734-8) IV 50ff. (I. IV c. V: de miraculorum necess. in causis beatific. et canoniz.). L. exemplifiziert überwiegend mit 'Heilungen' (c. VI1I-XVIII); sind ihm etwa die zahllosen hagiograph. Berichte über Hellsehen in Raum und Zeit u. ä. schon 'natürlich' erschienen? Für uns von Belang sind namentlich c. XXIV (Herrschaft üb. Elemente u. Tiere), XXVI (u. a. üb. Lichtentwicklung S. 360ff.), XXXII (üb. Erscheinungen, S. 450ff.). - Vgl. S. Jean II 326 über 'Unterscheid. der Geister' als Frucht des Reinwerdens. - Eine Bestätigung meiner allg. These finde ich bei Casartelli in ERE XI 60b.


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Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.740)

Noch heute bezeichnet unsere Sprache als Propheten ebensowohl den sittlichen Führer und Anwalt von Heiligkeit, als auch den gewohnheitsmäßigen Enthüller des Verborgenen und Zukünftigen.

Die Einfügung von metapsychischen Tatsachen in die Schilderung der Heiligen (im breitesten Sinne) steht nun aber in aller menschlichen Berichterstattung so gut wie einzig da.

Diese Einzigkeit wäre unerklärlich, wenn das Vorkommen solcher Tatsachen annähernd gleichmäßig auf alle Gattungen von Menschen verteilt wäre, die eine Berichterstattung überhaupt herausfordern.

Denn wenn eine unbedingte und ununterscheidende Neigung des Menschengeschlechts zur Verherrlichung seiner 'Helden' durch Andichtung solcher 'Wunder' bestände, so wäre nicht einzusehen, warum nicht jede Gattung von Helden - über eine gewisse Zahl von glaubwürdigen magischen Geschehnissen hinaus, die ihnen als bloßen Menschen zukäme - auch im gleichen Maße noch legendarisch mit solchen Geschehnissen beschenkt worden sein sollte.

Tatsächlich besteht diese Gleichmäßigkeit durchaus nicht. Die Berichte übernormaler Leistungen sind typisch für die hagiologische Biographik, und sie fehlen vergleichs- weise fast völlig in der nicht-hagiologischen.

Warum sind die Idealkriterien der Ritter- und Königschaft, des Entdecker- und Erfindertums, des gelehrten und künstlerischen Schaffens nicht im gleichen Maße, oder überhaupt in irgendwelchem nennenswerten Maße mit ähnlichen Forderungen verquickt?

Sie alle haben ihre Ansprüche an Übermenschlichkeit; aber diese ist von anderer Art, sie erweist sich fast durchweg auf den ersten Blick als rein legendarisch, und keine neue Wissenschaft hat je zu ihrer Verteidigung sich aufgeworfen.

Vom 'Könige" hat lange das volkstümliche Ideal eine übernatürliche Heilkraft gefordert; aber auch diese Forderung ging auf Zeiten zurück, in denen sich die königliche Würde noch nicht völlig von der des Priesters und Propheten gesondert hatte.

Gelehrte der alten Zeit haben oft einen magischen Schimmer um sich gehabt; aber soweit sie nicht eben Mönche und Asketen waren, hatte dies seinen Grund darin, daß sie ihrer Zeit voraus waren, so daß ihre Wundertaten zu den Kinderspielen erst sehr viel späterer Tage werden konnten. Und ähnliches wird von anderen Typen des Helden gelten.

Mag also viel von den massenhaften Wundern auch der Hagiologie in frommer Absicht erfunden sein (und nachweislich ist ja manches davon erfunden), so beseitigt dieses Zugeständnis doch nicht die Frage, warum gerade die fromme Erfindung so häufig diese Bahnen gewandelt sei, oder was dasselbe ist: warum die Zuschreibung metapsychischer Tatsachen sich immer an die Helden gerade des 'Geistes Gottes' geheftet habe.

Übertreibung schließt sich immer an einen Kern von Wahrheit an; und da, wo immer in einer und derselben Richtung erfunden wird, kann das Vorhandensein eines ständigen und wesentlichen Anreizes dazu mit Sicherheit vorausgesetzt werden.

Dies sind die Gründe, weshalb ich mich durch die geringe Beweiskraft der hagiologischen Einzelberichte nicht abhalten lasse, die verhältnismäßige


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.741)

Überhäufigkeit metapsychischer Leistungen bei Heiligen als Tatsache in mein Argument einzustellen; daraus dann aber, wie gesagt, den Schluß zu ziehen, daß auch Heiligkeit des Wesens einem metapsychischen Wurzelboden entsprieße, nämlich dem 'Anschluß' des Heiligen an ein übergreifendes geistiges Wesen.

Dabei wird eine Verschiedenartigkeit der 'Ausnutzung' jener übergreifenden Einheiten jenseits der menschlichen Individuation natürlich anzunehmen sein, da ja doch das Instinkt-Erleben des Mystikers nicht mit dem konkreten Erkennen übernormaler Herkunft inhaltlich übereinfällt.

Jene Ausnutzung bezieht sich im letzteren Falle auf das Über-Ich als Subjekt des umfassenderen Wissens um das Weltgeschehen; in der Erweckung dagegen erlebt der Mensch - so könnte man vorläufig annehmen - das Eingetaucht- oder Eingewurzeltsein in jenem umfassenderen geistigen Untergrund der Wesen in einer weit allgemeineren Weise, gleichsam als neues Klima.. als neuartige Lebensstimmung, als Durchstrahlung und Durchglühung eigener Art.

Das Über-Ich wird zu einer Quelle 'erweiterter' praktischer Instinkte, sofern es eben die Gesamtheit der Wesen unmittelbar in sich faßt und ihrem ganzen Lebenssinne nach vertritt, also nicht bloß imstande ist, das vorstellungsmäßige Wissen eines Einzelnen in dem Andern nachzuerzeugen, sondern auch die Interessen des Einen in dem Andern, oder Aller in dem Einen, in persönlich verarbeiteter Weise wiedererstehen und vertreten sein zu lassen.

Aber auch hiermit ist noch nicht alles gesagt. Gerade diejenigen psychologischen Tatsachen, die uns den Grundriß unserer metapsychischen Anschauungen von einem hierarchischen Aufbau des Geistes in immer umfassenderen Kreisen gaben, - gerade die Tatsachen der Ich-Spaltung vom 'konzentrischen' Typ [1] müssen uns anregen, dem umfassenderen Ich jeweils auch eigenpersönliche Artung zuzuschreiben.

Ein Über-Ich - das Wort in aller seiner Jeweiligkeit und Relativität gefaßt - stellt niemals bloß die Summe der in ihm enthaltenen Iche dar, sondern besitzt immer noch sein Eigenleben dazu, nicht nur in Hinsicht des Erkennens, sondern auch in praktischem Betracht.

Es sei mit aller Schärfe ausgesprochen, daß wir hier im zwingenden Zusammenhang induktiver Untersuchungen auf den Begriff des 'persönlichen' Gottes als einer metapsychologischen Hypothese stoßen, die wir 'nötig haben'. [2] Damit gewinnt der soeben vorgetragene Gedanke eine sehr erweiterte und vertiefte Fassung.

Tritt der Heilige, wie die Überhäufigkeit seiner metapsychischen Erlebnisse andeutet, in seinem erweckten Leben in einen engeren Zusammenhang mit dem Über-Ich, so bedeutet dieser Zusammenhang nicht nur den engeren

[1] o. s. 55 ff.
[2] Ich spiele natürlich auf Laplaces Wort vor Napoleon I. an. Hundert Jahre später bezeichnete ein führender deutscher Naturforscher 'im letzten Grunde... jedes Sonderproblem [als] einen Teil des Gottesproblems'. (H. Driesch, Philos. des Organischen, 2. Aufl. [Lpz. 1921] 508.)


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.742)

praktischen Zusammenschluß mit den übrigen Einzelwesen, sondern bringt den Erweckten auch in eine neuartige Verknüpfung mit persönlichem Wesen und Wollen jenes höheren Geistes: er wird 'heilig', weil er in eine Beziehung der praktischen Formung und Inspiration zu einem 'heiligen' Gotte tritt und an dessen Wesen teilzuhaben beginnt, in welchem alle Wesen im Innersten, der Erweckte aber in offenerer Weise, 'leben, weben und sind'. [1]

Die letzten Überlegungen gestatten uns dann auch, keinen Widerspruch gegen die vorgetragene Hypothese in der offenbaren Tatsache zu erblicken, daß die Fähigkeiten übernormalen Erkennens auch bei Lebenden von ausgesprochen unheiliger Art angetroffen werden, jedenfalls bei solchen, denen sonderliche religiöse Neigungen ausdrücklich abgesprochen werden. [2]

Es denkt zB. wohl niemand ernstlich daran, allen ernstzunehmenden Medien eine vom Durchschnitt der Menschen abstechende Heiligkeit und Geistigkeit  zuzuschreiben. [3]

Auch könnte es ja auffallen, daß gerade Heilige - also nach der Voraussetzung diejenigen, denen der Besitz übernormaler Fähigkeiten am wesentlichsten zukommt, so häufig diese nicht nur als unwesentlichen und zufälligen Besitz bezeichnen, [4] sondern auch mit Geringschätzung von ihnen sprechen, ja vor ihnen warnen und von ihnen befreit zu werden bitten.

Doch mag das wohl der Einsicht entspringen, daß diese vielbewunderten Leistungen einen Anreiz zur Eitelkeit und sor:nit eine Gefahr für die Entselbstung des mystischen Weges bedeuten; [5] oder aber die Sammlung stören, deren der Heilige zu den mannigfachen Übungen des inneren Lebens bedarf; [6] oder jedenfalls nur eine Durchgangsstufe zu den letzten mystischen Zielen darstellen, also nicht um ihrer selbst willen erstrebt werden dürfen. [7] -

Die Kirchen haben sich mit der Wundergabe der Bösen abgefunden, indem sie die angeblich übermenschlichen Einsichten und Kräfte nicht nur als Geschenk der göttlichen Gnade priesen, sondern auch als Eingebungen und Versuchungen des Teufels und der Dämonen für möglich erklärten, die durch gelegentliche wahre Offenbarungen etwa gar ihren gewöhnlichen Täuschungen erhöhtes Gewicht zu verschaffen suchten. [8]

Dieser Ausflucht wird sich die kritische Metapsychologie allerdings schwerlich anschließen können, so sehr sie die ihr zugrunde liegende Tatsache anerkennen muß. Denn was die Kirchengeschichte (im weitesten Sinn) zur Erscheinungslehre des Obernormalen beiträgt,

findet sich tatsächlich zum 'guten Teil nicht in den Urkunden des Heiligenlebens, sondern in denen der Exorzisten, in den Berichten über psychische Epidemien von vielfach bösartigem Charakter bis in die neueste Zeit, und in der weitläufigen Geschichte jener unheimlichsten aller mystischen Massenbewegungen: des Hexen- und Zauberer-Wesens. [9]

[1] Apostelgeschichte 17, 28.  
[2] So auch GutberIet, Lehrb. der Apologetik II 220; vgl. Zoepf 182. 185. Dr. Adlers 'Beobachtung' besonders häufigen Zusammengehens telepath. Fähigkeiten mit 'starkem Aggressionstrieb' (Fortschritte der Med. 1908 582) möchte ich allerdings als irreführend bezeichnen.  
[3] Vgl. zB. Pr XVII 70 (üb. Mrs. Thompson); APS VI 216 (üb: Eusapia P.).   
[4] zB. S. Bonaventura, De profectu religios. II, c. 76.    
[5] S. zB. de Cort S. LI; Ramakrishna 53.   
[6] S. zB. Keller, Yoga 19.
[7] Yogasutra III, 36.49; ebenso buddhistisch: Beckh II 17.   
[8] So S. Thomas Aquin., Summa theol. 2,2, q. 172, art. 5.    
[9] Reiche Belege bei Görres IV, Calmeil und in d. bekannten Sammelwerken. Ethnolog. Parallelen bei Westermarck II 650ff. u. ö. Hexenwesen als durchgehende Antithese des Christentums: Soldans Gesch. der Hexenprozesse (neu bearb. v. Heppe, Stuttgart 1880) I 313.


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Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.743)

Das römische Rituale nennt ganz allgemein als Merkmale wahrer 'Besessenheit' u. a. die Kenntnis künftiger Dinge, das Fernsehen im Raume, das Lesen von Gedanken, das Verstehen und Sprechen 'fremder' Sprachen. [1]

Wir mögen die Natürlichkeit der kirchlichen Klassifizierungen bestreiten und sie wissenschaftlich umtaufen, wie wir wollen: gerade wenn wir in Hexen, Besessenen und Zauberern wesentlich Hysterische sehen und in ihrem Massenauftreten hysterische Epidemien, so bleibt die Tatsache bestehen, daß typische Menschengruppen von vielfach boshaftem und unheiligem Wesen übernormale Fähigkeiten in Häufung gezeigt haben.

Denn natürlich haben wir, nachdem diese Fähigkeiten überhaupt einmal festgestellt sind, zur Leugnung ihres Vorkommens bei diesen Massentypen nicht bessere Gründe, als bei der typischen Gruppe der Heiligen, bezüglich derer wir uns bereits der uralten Erfahrung der Menschheit gebeugt haben.

Und alles dies bezieht sich nicht nur auf die Tatsachen der übernormalen Erkenntnis, sondern ebensowohl auf die der übernormalen Naturbeherrschung, wie wir sie in den metaphysikalischen Leistungen der Medien kennen lernten.

So alt und verbreitet wie die metapsychischen Begriffsbestimmungen der Besessenheit und des boshaft-zauberhaften Wissens ist auch die Behauptung einer 'schwarzen Magie' neben einer 'weißen', d. h. doch zunächst: einer boshaft betriebenen neben einer wohlwollend betriebenen; wenn wir wieder von der orthodoxen Behauptung absehen, daß jene durch teuflische und diese durch göttliche Kräfte wirke.

Ich glaube nun, wie gesagt, daß die Schwierigkeiten, die aus diesen Tatsachen erwachsen, sich überwinden lassen. Man kann zunächst denken, daß selbst jene starke Ich-Kontraktion, d. h. Absonderung vom 'allgemeinen' Leben und Betonung der Einzelheit-Instinkte,

welche den Egoismus der 'Bösen' ermöglichen, wenigstens zu Zeiten von einer Entspannung des Ich abgelöst werden könne, die vorübergehend eine ähnliche 'Offenheit' nach dem Über-Ich zu bewirken würde, wie die gründlichere und dauerndere Entspannung des wirklich Ent-Ichten;

oder aber, daß ein Eingriff vom Über-Ich her gelegentlich mit solcher Macht erfolge, daß er selbst die härtere Kruste des stärker verspannten Ich durchbreche; gleichwie bei starker 'Kontraktion' der Aufmerksamkeit ein heftiger äußerer Reiz sich bemerkbar macht, während dem schwachen der Eintritt ins Bewußtsein verwehrt bleibt.

Nur müßten solche 'offene' Haltungen dem Über-Ich gegenüber oder solche erfolgreiche Eingriffe vom Über-Ich her im Falle des härter abgeschlossenen Ich im allgemeinen viel seltener Platz greifen, als im Falle des tiefer Entspannten, und eben dies ist es, was die Erfahrung am menschlichen Durchschnitt wohl unbestreitbar lehrt und was wir als Überhäufigkeit magischer Leistungen bei Heiligen zur Grundlage unserer Hypothese machten.

Diese Gedanken würden freilich nicht genügen, um gewohnheitsmäßige übernormale Erkenntnisleistungen bei einzelnen wirklich Bösen

[1] Einzelbeispiele: Calmet I 157 (Nicola Aubry). 166ff.; Calmet; II 5. 29. 44. 56; Kreyher I 151 u. a. m.


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.744)

zu erklären. Und sollte auch Mancher bestreiten, daß dieser Fall in der Erfahrung gegeben sei, so liegt mir doch zuviel daran, die Schwierigkeiten in ihrer schärfsten Form zu erwägen, als daß ich mir diese Möglichkeit zunutzemachen wollte.

Setzen wir also den Fall des gewohnheitsmäßigen Hellsehers von augenscheinlich unheiligem Charakter als wirklich, so bleiben uns gleichwohl noch zwei Auswege. Entweder wir führen die übernormale Leistung auf Mitteilung seitens Unsichtbarer zurück, - wie wir wissen, in zahllosen Fällen die Alternative zu einer nicht-spiritistischen metapsychischen Deutung.

Dies entspricht der üblichen Unterscheidung des Mediums vom wertvoll Inspirierten: daß jenes im Grunde ein passives Werkzeug sei, dieser dagegen das Übersinnliche in die Tiefe seiner tätigen Persönlichkeit aufgenommen habe. -

Diese verbreitete Erklärung findet aber, wie wir wissen, ihre Grenzen: es sind die Grenzen der Zulässigkeit spiritistischer Deutung überhaupt. Darum müssen wir zweitens die Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit erheben, daß die Bosheit gewohnheitsmäßiger Hellseher nur eine mehr oder weniger oberflächliche Erscheinung sei: daß sich in ihnen Wach-Ich und Trans-Ich, Bewußtsein und Unterbewußtsein auch charakterologisch unterscheiden, indem diesem ein größeres Maß ich-entspannter Instinkte eigen sei, als jenem.

Aus der Psychologie der Vorbekehrungszeitl ist uns diese charakteristische Sonderartung des verborgenen Komplexes geläufig. Im Falle des bösartigen Hellsehers oder Mediums aber wäre dieser Komplex eben nicht zum Durchbruch gekommen; die sittliche Überlegenheit würde sich daher - wie zahlreiche Erfahrungen zu bestätigen scheinen - auf seine Transzustände beschränken.

Ein weiterer Gedanke vermag diese Überlegungen in allgemeiner und bedeutsamer Weise zu ergänzen. Es läßt sich nämlich vermuten, daß häufig ein übernormales Wissen bereits durch einen mäßigen anschlußgewährenden 'Aufstieg' in der Stufenleiter geistiger Zusammenhänge ermöglicht werde, ohne daß dabei die 'Höhe' (oder 'Tiefe') auch nur vorübergehend erreicht zu werden brauchte, in welcher die 'göttlichen' Quellen der Heiligkeit fließen.

Es ist ja ohnehin zu bedenken, daß der magisch wirkende Böse doch gleichsam nur an den 'äußerlichsten' Gaben der Überwelt teilhat, - äußerlich in dem Sinne, in welchem unser Wissen uns äußerlicher ist, als unser Charakter;

wurzeln aber die Charaktereinflüsse der Überwelt zutiefst, so würde auch eine viel tiefergreifende Ich-Entspannung, eine viel stärkere Lockerung der 'Decke', eine viel weitergreifende Verlegung des Ich-Zentrums 'nach unten zu' erforderlich sein, um den Menschen jener Einflüsse, anstatt bloß neuartigen Wissens teilhaftig zu machen.

So führen nach buddhistischer Lehre (und fast genau entsprechend nach der des Yogasutra) gewisse Versenkungen die Seele zwar zur höheren wahrhaftigen

[1] Vgl. o. S. 101 f. und u. Kap. LXXVI.


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.745)

Erkenntnis und zu jenen iddhis, in denen wir unsere metapsychischen und metaphysiologischen Leistungen wiederfinden (vibhuti im Yoga-System); aber erst eine fortgesetzte Konzentration, die - nach Beckhs Ausdruck - bis in das Gebiet des Unterbewußten hineinarbeitet und die samskaras zerstört -

jene latenten Bildekräfte', in deren Begriff die buddhistische Tiefenpsychologie so viele Rätsel des Metapsychischen zusammenfaßt [1] -, erst eine solche äußerste Versenkung gelangt zur Überwindung des endlichen Ich, zum Nirvana, zur Berührung mit der 'unsterblichen Sphäre', zum Bewußtsein der Befreiung, [2] - worin wir unstreitig das östliche Analogon der unio mystica zu sehen haben. [3]

Hiermit wäre allerdings nur erst die Möglichkeit magischen Erkennens, nicht aber die Möglichkeit magischen HandeIns bei sittlich Bösen erklärt. Aber dies letztere haben wir ja nie auf das Enthaltensein des Einzel-Ich im Über-Ich zurückgeführt; vielmehr müssen wir es künftigen Einsichten teils der normalen, teils der Metaphysiologie überlassen.

Das magische Handeln bildet ein an sich moralisch gleichgültiges Können, das erst in den Händen eines Charakters (als Zusammenfassung von Beweggründen) an sittlicher Beurteilung Teil nimmt. [4] -

Die erhobene Schwierigkeit vermag uns also nicht davon abzuhalten, in der Überhäufigkeit von übernormalen Fähigkeiten bei heiligen Personen einen Hinweis auf den metapsychischen Ursprung auch von Heiligkeit zu erblicken.

Diese Ursprungsherleitung aber ist die wesentlichste Rückanwendung aller unserer metapsychologischen Bemühungen auf die Tatsachen der religiösen Erfahrung im praktischen Sinne, deren Darstellung und vorläufig rein naturalistischer Deutung die ersten Kapitel dieses Buches gewidmet waren.

Auch scheint mir unleugbar, daß das, was wir - mit einiger geschichtlicher Lockerheit - als die mystische Weltanschauung bezeichneten, seit Alters den Grundgedanken dieser Hypothese vorweggenommen hat.

Ich wüßte zwar nicht, daß sie irgendwo oder -wann die hellseherische Einzelleistung durch ein unserer Hypothese gleichendes Dogma ausdrücklich erklärt hätte. Dagegen läßt sich nicht nur auf Lehren der mystischen Theoretik hinweisen, wonach die allgemeineren mystischen Einsichten und Schauungen von einer Teilnahme am Wesen Gottes abhängen, so daß 'je tiefer man in die Gottheit in seinem inneren Grund eindringet, je heller kann man alles sehen und klärer unterscheiden'; [5]

sondern auch das andere Glied unserer Vergleichung, die Erweckung, wird von der mystischen Weltanschauung leidlich ausdrücklich auf die Teilnahme des Einzelnen an einer übergreifenden geistigen Wesenheit zurückgeführt, in welcher die Einzelnen in höherem Sinne Eins seien, als durch alle Mittel normal-irdischen Verkehrs.

Eine Andeutung hiervon liegt ja schon in der Lehre, daß der Auf- oder

[1] Vgl. Beckh II 82 u. ö., und o. S. 735 ff.   
[2] das. II 16 (Yoga); 107 (buddh.); 112. 117.   
[3] Über den fraglos auch positiven Begriff des Nirvana vgl., außer Beckh aaO., Mohl in Journ. Asiatique, 5. sêr. VI 94f.; Hopkins, Rel. of India 427, u. a. m.    
[4] Auch das mana u. ä. der Naturvölker ist ja moralisch indifferent: R. R. Marett. On the threshold of religion (Lond. 1905) 120.   
[5] GichteI. Theos. II 1075.


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Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.746)

Abstieg des Menschen auf der Stufenleiter der möglichen Daseinsweisen abhänge von seinem 'moralischen' Charakter: eine bestimmte Art seiner Willensnatur hebt ihn empor, eine andere drückt ihn herab. [1] Erleuchtung und 'Tugend' rücken dadurch in engste Verwandtschaft.

Wer sich mit Gott in Harmonie setzt, d. h. sein niederes Selbst überwindet, darf ihn schauen. Daraus folgt aber die Umkehrung, daß wer im Zustande des Gottschauens, der Gottnähe ist, die höchste Tugend besitzen müsse, und des weiteren natürlich: daß das Gotteingetauchtsein geradezu die Quelle der höchsten Tugend sei.

Sofern dieser allumfassende Gott eine Tatsache auch in der Tiefenpsychologie des Einzelnen ist, setzt das System natürlich voraus, daß der moralische Aufstieg des mystischen Weges letzten Endes bloß erweckt, was bereits vorgebildet lag: in der verborgenen Einheit des Geisteslebens, an der jeder Einzelne teilnimmt.

Hierin begründet sich die Art, wie die Mystik von jeher die angeblich geschichtlichen Erlösungstatsachen der Religion in psychologiscne Erfahrungstatsachen umgedeutet hat. [2]

Dem zum Buddha gewordenen Prinzen Gotama stellt sie den verborgenen Buddha in jedem Wesen gegenüber, dessen Erweckung die Erlösung einleitet; dem geschichtlichen Christus Jesus - den mystischen Christus, den 'glimmenden Zunder göttlichen Lichtfeuers', der in jedem Menschen schlummere, durch dessen Enthüllung Christus immer wieder Mensch werde. [3]

'Denn Gott führet keinen neuen oder fremden Geist in uns; sondern er eröffnet [bloß] mit seinem Geiste unsern Geist, als das Verborgene der Weisheit Gottes, welche in jedem Menschen lieget." [4] Die heilige Seele [aber] ist ein Geist mit Gott.' [5]

In Gott wiederum ist sie mit allen Andern verbunden, wie die Reben durch den Weinstock, an dem sie hangen und in dem sie alle Eins sind, so wie der 'Vater' im 'Sohn' und der Sohn im Vater ist, und alle 'zur Einheit vollendet'. [6]

Als Lehre vom' Fünklein' und apex mentis zieht sich diese Lehre durch alle mystischen Systeme des Mittelalters und der letzten Jahrhunderte. 'Durch den höchsten Teil unserer Seele, den Ursprung unserer höchsten Kräfte, sind wir zum lebendigen Spiegel Gottes geworden, dem er sein Bild aufgedrückt hat. ..

Dieses Bild Gottes ist der Sohn, das Leben, die ewige Ursache aller Geschöpfe. .. Dieses Bild ist in allen Menschen wesentlich und persönlich; jeder hat es ganz und ungeteilt, und doch haben alle Menschen nicht mehr davon, als einer.

So sind wir alle eins, geeint in unserem ewigen Vorbilde, dem Bilde Gottes, das unser Aller und unserer Wesenheit Ursprung ist.' [7] - 'Gottes Kinder', sagt Boehme, 'sind in Christo nur Einer, der ist Christus in Allen.' [8]

Wer aber Christus, den 'Sohn' [9] hat, oder den Geist; - in wem - können wir übersetzen - der Wurzelzugang zu Gott frei und offen steht, der hat das 'ewige Leben', den neuen Geist, den Instinkt der Erweckten: die Liebe Gottes und des Nächsten in. dem entselbsteten Ich.

[1] S. zB. Proclus, Theol. Platon. I, 24ff. (Windelband, Gesch. d. Philos. 179).    
[2] VgI. o. S. 325.     
[3] J. Boehme, Von der Menschwerdung Christi.   
[4] Ders. an Caspar Lindner 10. Mai 1622, bei G. C. A. v. Harless, Jac. Böhme und die Alchemisten, 2. Aufl. (Lpz. 1882) 86.     
[5] Aurora II.    
[6] Ev. Joh. 17, 21-23.    
[7] So zusammengefaßt bei Engelhardt, Richard von St. Victor und Joh. Ruysbroek (Erlangen 1838). VgI. Preger II 124 (Egwint); Gichtel, Theos. I 63; Hügel I 265f.; Evans, Shakers 44f.; J. C. Vawdrey, The meaning of the communion of saints (Lond. 1904) 77.    
[8] Vom übersinnl. Leben § 21.- Über genauere Durchführung dieses Gedankens in mystischen Gemeinschaften s. zB. Guyon, Vie II 141; McCully 108; Mrs. Oliphant, Lawrence Oliphant 201. 244f. 383f.     
[9] In den hermetischen Schriften teilweise vertreten durch den xxxxx. S. zB. Zielinski in AR VIll 342.


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.747)

Denn die höhere Liebe im Menschen ist der Ausdruck seiner Wurzelung in Gott, ist der Gott in ihm, wie in allen Andern; woraus die Mystik unbedenklich die Schlußfolgerung zieht, in dem Nächsten liebe Gott sich selbst. [1]

'Liebe ist Gott selbst'; 'reine Liebe ist nichts anderes als Gott'; 'die göttliche Liebe ist nichts anderes als Gott, der sich durch seine eigene unermeßliche Güte in unsere Herzen ergießt'. [2]

'Die Liebe [unter den Menschen], schreibt ganz ebenso ein Mystiker unserer Tage, ist bloß ein anderer Name für Christus, welcher das Haupt des Leibes [der Gläubigen] ist; . ..

Christus ist es, der das ganze Menschengeschlecht zur Einheit macht; . .. er ist der gemeinsame Ursprung der Empfänglichkeit und Sympathie, der Jeden mit dem Andern verknüpft und aus Tausenden eine lebende geistige Einheit macht.' [3]

Natürlich bedeutet dieser mystischen Auffassung die Bekehrung, die Wiedergeburt, der entscheidende Eintritt der Instinktwandlung - den Durchbruch nach jener mystischen Einheit, dem Geiste Gottes zu; [4] wie ja nach mystischer Auffassung auch der Mensch Jesus erst Christus oder 'Gott' geworden ist, als er im 30. Lebensjahre den Geist empfing; [5]

aber auch umgekehrt der Wiedergeborene, die 'in der Liebe mit Gott vereinigte Seele, ein zweiter Christus ist'; [6] ward doch der Logos Gottes - Mensch, 'damit wir Götter würden'. [7]

In der Mystik des Islam erscheint dieser mystische Christus als 'Geist der Menschheit', [8] welcher Unsterblichkeit verleiht und dessen Aufbrechen im Einzelnen mit der Ausscheidung alles Tierischen, Grausamen und Teuflischen zusammengeht. [9]

Noch der moderne Babist spricht vom 'himmlischen Geist', der verbindend zwischen dem menschlichen und dem rein göttlichen oder heiligen Geiste stehe (wie der Sohn') und von allen Lüsten und Einbildungen der materiellen Welt löse;

durch den der Vollkommene die alles durchdringenden Kräfte des (kosmischen) Geistes erhalte, sich selbst als einen Teil des Absoluten erkenne und schon hienieden über Raum und Zeit erhaben werde. [10]

Liebe ist bei den Babis, wie bei den Sufis, als Wesen des reinen Geistes zugleich die Kraft, welche die Welt in Fugen hält. [11] Man kann wiederum kaum deutlicher die sittliche Erweckung auf die metaphysische Einheit der Wesen zurückführen, die zugleich den erkennenden Geist 'über Raum und Zeit erhaben macht'. [12]

Aber auch in die neuere Philosophie und Wissenschaft unseres Kulturkreises ist das Echo dieses alten mystischen Glaubens gedrungen. Bekannt ist Schopenhauers Rückführung des Mitleids und damit 'aller echten d. h. uneigennützigen Tugend und jeder guten Tat' auf die Erkenntnis, daß 'mein wahres inneres Wesen

[1] S. zB. Pastoralcorrespondenz . .. des Cardinals P. M. Petrucci (deutsch, Regensburg 1837) 164.  
[2] S. Catarina Gen., Vita (in A. S. Boli.) 53b. 67c.; vgl. Drane II 125 (aus d. Dialog).    
[3] John Watson [Ian Maclaren], In answer to prayer 35. Vgl. Emersons Essay The Oversoul, Abs. 4 Schluß; Driesch, aaO. 565f. und Tolstoi (zB. im Kunstwart XXV 374). Ähnlich schon Plato (bei Zeller, Philos. d. Gr. II, 1,3. Aufl. 513) und die Stoa: der Trieb nach Gemeinschaft zwischen den einzelnen Vernunftwesen stammt daher, daß die vernünftige Seele in Allen dieselbe ist (M. Aurel, Betracht. I, X, 9; XII, 30; Seneca, Ep. 95, 52).   
[4] zB. Tauler, bei Preger III 188f.   
[
5] S. Grass 256 (Chlysten); Mead, Fragm. of a faith forgotten 191.  
[6] Nach der Logik einer kirchl. Heiligen: s. Drane II 125. Ähnlich im MA. die Amalrikaner und Ortliebarier (Preger I 176. 193).    
[7] Athanasius, De incarn. Verbi Dei c. 54. Vgl. Evans, Skakers 44f., und o. S. 38 Anm. 3.   
[8] Spirit of humanity, bei Palmer 56.   
[9] das. 55.     
[10] 'Abbas' Effendi, bei Kremer 163.     
[11] E. H. Winfield, Masnavi i Ma'navi (Lond. 1887) Introd.   
[12] Vgl. Probst-Biraben, RPh 1906 II 497 (nach Mohy ed-din) üb. 'hierarchische Bewußtseine' und telepath. Verkehr zwischen Einzelseele und psychismes supérieurs.


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Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.748)

in jedem Lebenden so unmittelbar existiert, wie es in meinem Selbstbewußtsein sich nur mir selbst kundgibt'. 'Jede ganz lautere Wohltat', vermochte daher der Philosoph zu sagen, '.. .

ist, wenn wir bis auf den letzten Grund forschen, eigentlich eine mysteriöse Handlung, eine praktische Mystik, sofern sie zuletzt aus derselben Erkenntnis, die das Wesen aller eigentlichen Mystik ausmacht, entspringt,  und auf keine andere Weise mit Wahrheit erklärbar ist', aus der Erkenntnis nämlich,

daß der Wohltäter und der Empfänger derselbe seien, wobei also jener 'sein eigenes Wesen an sich in der fremden Erscheinung [des Empfängers] wieder- erkennt'. [1]

Daß bei Fechner Gedanken von ähnlicher Zielrichtung zu finden sind, versteht sich von selbst. Sie gipfeln etwa in dem Satze, daß 'das Höchste, Beste, Allgemeinste in uns und allen Geistern, worin alle ein Band finden, als Gottes Wehen und Wohnen in uns' aufzufassen sei.

Denn Gott ist ja das 'verknüpfende allgemeine Wesen'. [2] - Von etwas andern Voraussetzungen her stieß Eucken auf die Einsicht, daß 'eine innere Gemeinschaft der Individuen und ein gegenseitiges Seelenverständnis nicht möglich [sei] ohne eine Welt, die uns vom tiefsten Grunde unseres Wesens her umfaßt und zusammenhält'. [3]

Und die gleiche Ahnung spricht aus Goethes Worten: 'Was ist das Heiligste?

Was tief gefühlt, die Geister zusammenbindet.' Ja noch in der neuesten systematischen Ethik tauchen verwandte Gedanken auf, wenn die Unableitbarkeit altruistischer Regungen aus egoistischen Instinkten dazu führt, jene als Funktionen der Zugehörigkeit des Individuums zu größeren psychischen Einheiten zu fassen, als den Ausdruck seines Teilhabens an einem  Gesamtbewußtsein und Allgemeinwillen. [4]

Diese leidlich weitreichende Einstimmigkeit unter Mystikern und Denkern vieler Jahrhunderte ist beachtenswert genug.

Doch soll sie hier selbstverständlich nicht als Beweis eines Satzes eingeführt werden, den ich vielmehr als Ergebnis einer besonderen Induktion hinzustellen gesonnen bin:

als versuchsweise metaphysische Folgerung aus der Überhäufigkeit des Zusammenbestehens von Heiligkeit, Gottesliebe und Menschenliebe (im umfassendsten und unpersönlichsten Sinne) mit jenen Erkenntnisleistungen, die mir am natürlichsten aus der Voraussetzung eines übergreifenden psychischen Zusammenhangs der Wesen und Gewußtwerdens der Welt erklärbar erscheinen.

Dabei braucht aber kaum gesagt zu werden, daß mit dieser Annahme nur ein erster Schritt zur Begründung einer metapsychischen Theorie erweckten Wesens getan ist; während ihr Ausbau erst versucht werden könnte, wenn über den 'diesseitigen' Anteil des Gesamtkomplexes völlige Klarheit herrschte.

Von solcher Klarheit aber kann einstweilen keine Rede sein. Die Lehre vom menschlichen Gefühlsleben ist noch immer der Tummelplatz widerstreitender Ansichten, auf die hier schon aus räumlichen Gründen nicht eingegangen

[1] WW (Grisebach) III 651. Vgl. Kants bedeutsame Ausführungen in Träume e. Geistersehers. . . (Kehrb.) 24f.; G. Teichmüller, Üb. d. Wesen der Liebe (Lpz. 1879) 96. 100. 103,  
[2] Zend-Avesta, 3. Aufl. I 203; vgl. 187f. u. Das Büchlein vom Leben nach d. Tode, 1. Aufl. 11.   
[3] Der Wahrheitsgehalt der Religion 224f.   
[4] Wundt, Leslie Stephen, Green, Bosanquet u. a.


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.749)

werden kann. ]1] Nehmen wir an - um dem Gegner metapsychischer Lehren den weitesten Boden einzuräumen -, daß ihre endgültige Gestalt innerhalb der Schulpsychologie eine wesentlich physiologisch-bestimmte sein wird, so versteht sich von selbst, daß eine zuletzt ins Mystische übergehende Theorie der erweckten Liebe nicht den mindesten Grund zu haben brauchte, solcher physiologischen Psychologie des Gemüts- und Willenslebens innerhalb ihres Geltungsbereichs zu widersprechen.

Wie selbst der psychologische Dualismus alle physiologischen Feststellungen (im Unterschiede von Hypothesen!) restlos zu verarbeiten verpflichtet ist, so würde auch eine Metapsychologie der Liebesmystik sich lediglich zur Ergänzung jener physiologischen Psychologie berufen fühlen.

Sie würde eine Verwurzelung des Liebesaffekts (und seiner zahllosen Auswirkungen!) in nervösen Vorgängen, in 'Spannungs-' und 'Lösungs'-Zuständen des Zentralorgans, und seine 'Entwicklung' im Verlaufe der Stammesgeschichte ohne weiteres anerkennen, und dennoch behaupten, daß seine Quellen einer außerordentlichen Vertiefung fähig seien durch die Erweckung, d. i. den Eintritt eines Zustandes, in welchem das Lebensgetriebe des Einzelnen der übergreifenden Seeleneinheit offener gegenüberliegt.

Diese gibt seinem Lieben nicht nur eine neue Resonanz (ohne doch damit die physiologische Organisation auszuschalten), sondern vor allem auch neue Antriebe und neue Ziele, wie sie den zusammenfassenden, das Lebensganze vertretenden Tendenzen des Übergeistes entsprechen.

Ihm, nicht mehr sich selber, auch nicht bloß dem 'sozialen Ganzen', sondern den jenseitigen Schicksalen seines Geschlechts und seiner selbst lebt nunmehr der Einzelne und strebt er in seinem Lieben zu.

Eine solche 'Inspiration' der physiologischen Persönlichkeit aus einer Gegend des Nicht-physiologischen werden nur die für unmöglich halten dürfen, die an eine restlose Deutung aller geistigen Leistungen durch letzten Endes physikalische Kategorien glauben. Ihrer dürften aber selbst unter Schulpsychologen heute nur mehr wenige sein.

Bei dieser Einbeziehung des physiologischen Anteils wird dann endlich auch das Verhältnis des religiösen Liebens zur Geschlechtlichkeit seine endgültige Deutung finden.

Wir haben früher gesehen, inwiefern die erweckte Liebe dem Geschlechtstrieb den Rücken kehrt, wieweit sie auf das Gebiet des Geschlechtlichen überzuspringen oder gar sich mit ihm zu verbinden vermag. [2]

Inzwischen haben wir das Verständnis dafür gewonnen, daß eine solche Zulassung der Geschlechtlichkeit auch im mystischen Lieben seiner metapsychischen Deutung nicht widerspricht. Unter den tief in der Natur begründeten Einheitsbeziehungen zwischen den Wesen ist die körperlich-geschlechtliche Annäherung die äußerlichste und

[1] Zur Orientierung kann dienen das Sammelreferat v. M. Kelchner in Arch. f. Psych. XVIII, Ut. II6ff.    
[2] S. o. S. 202ff. 262ff.


Kap LXXIII. Die Hypothese des mystischen Christus.                  (S.750)

greifbarste; aber eben als Drang zur Verschmelzung ist sie ein Analogon. und darum nicht nur Symbol, sondern natürlicher Begleitvorgang aller innerlichen und geistigen Instinkte des Ineinswachsens, [1] die doch alle zu- letzt auf jener wurzeltiefen metaphysischen Einheit des Lebens beruhen. die nirgends unmittelbarer zutagetritt, als in mystischer Erfahrung überhaupt und in mystischem Lieben besonders.

Zwischen solchem mystischen und geschlechtlichen Lieben würde sich die introvertierte, 'schwärmerische', 'höhere' Liebe gewissermaßen als ein Mittelglied einordnen. als die Zubereitung eines Ansatzbodens, aus dem bei weiterer 'Vertiefung' die noch mehr vergeistigte und verallgemeinerte Liebe: des Erweckten erwachsen könnte.

Denn dieser liebt eben allgemeiner und geistiger, weil ein größerer seelischer Zusammenhang zur unmittelbaren 'Inspiration' seiner gesamten Organisation des Liebens geworden ist. Ob seine sexuelle Organisation dabei zum Mitspiel fortgerissen wird, ist eine Frage, die der Feststellung jener tieferen Inspiration gegenüber geradezu äußerlich erscheint.

Jedenfalls stellt die Theorie der Liebe, zu der wir jetzt durchgedrungen sind, das übliche naturalistische Deutungsschema erst recht auf den Kopf. Nach diesem Schema bildet, wie wir wissen, der physiologische Trieb durchaus und in jedem Sinne das Primäre, jede Art des höheren Liebens seine durchsichtige Maskierung.

Nach der hier erarbeiteten Ansicht ist jener Drang nur eine periphere Ausgestaltung der Lebenseinheit der Wesen, die sich außerdem in tausendfältigen Wirkungen auf allen Höhenlagen der Geistigkeit äußert.

[1] Vgl. o. S. 247f.

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