Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 406)

Die vorstehende Übersicht über einige Gruppen anscheinend hellseherischer Leistungen wird erwiesen haben, daß Telepathie in der Tat das Mindestmaß der Begriffsmittel darstellt, womit den Tatsachen der Metapsychik überhaupt beizukommen sein könnte; sie wird also die nachträgliche Billigung des Lesers dafür erwirkt haben, daß ich s. Zt. auf die Erhärtung dieses Mittels durch Tatsachen verzichtete.

Minder sicher ist, wie weit der Leser meinem Urteil beipflichten wird, daß die Zurückführung aller Erfahrungen des Hellsehens auf fremde telepathische Tätigkeit eine gekünstelte und insofern unwissenschaftliche Hilfsannahme zugunsten vorgefaßter Gedanken sei.

Die Gewißheit, daß dem so sei, wird aber, wenn mich nicht alles täuscht, im Fortschritt der Tatsachendarlegung ständig wachsen, und ich will darum hier zu einigen theoretischen Erörterungen übergehen unter der einstweiligen Voraussetzung, daß die Abweisung der Deutung durch Telepathie schon jetzt gelungen und der Tatbestand des Hellsehens


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 407)

wirklich gegeben sei. Auch dies zugestanden, wird es manchem zweifelhaft erscheinen, ob die angeführten Tatsachen wirklich durchweg einer natürlichen Gattung angehören, ob insbesondere die Fälle von Hellsehen in nächster Nähe von denen auf größere Entfernungen nicht zu sondern seien, in der Hoffnung, daß wenigstens jene irgendwie auf normale und anerkannte Vorgänge zurückzuführen sein möchten.

Es sollte mich z.B. wundem, wenn sich dem Leser nicht der Versuch empfähle, die Tatsachen der Autoskopie mit den sog. Organ- oder Gemeinempfindungen in Zusammenhang zu bringen, zu deren Wesen es ja gehört, daß sie in krankhaften Zuständen sich weit über das normale Maß hinaus steigern. [1]

Auch Solliers Behauptung, die Inschau verbinde sich mit dem Vorgang der Erweckung krankhaft 'eingeschlafener' Organe, könnte einen Fingerzeig in dieser Richtung geben, sofern hier eine Unterschiedsempfindlichkeit ins Spiel treten würde, die für gewöhnlich sich nicht betätigen könnte, indem gerade der stetige dumpfe Empfindungston des Körperinnern einer Empfindungslosigkeit fast gleichzusetzen ist.

Es fällt ja ohnehin auf, daß den Subjekten selbst das innere Sehen in ein Fühlen übergeht; [2] warum also sollte jenes nicht Übersetzung solchen Fühlens sein? Die Angaben der Versuchspersonen vermengen tatsächlich häufig beide Arten des Erfahrens. So sagt die eine, sie sehe das Menstruationsblut, 'als ob ich Augen im Bauche hätte, ich fühle es', eine andere, daß sie Teile ihres Gehirnes sehe und 'auch fühle'. [3]

Der angeblich hellsehende Einblick in fremde und entfernte Leiber möchte dann immer noch durch telepathische Mitteilungen auf Grund ebensolcher Innenempfindungen des durchschauten Andern zu erklären sein. Entgegnet man, daß von solchen gesteigerten Innenempfindungen in vielen Fällen nichts erwähnt werde oder zu erweisen sei, so ließe sich der bewährte Schritt ins Un- oder Unterbewußte tun, dessen Wahrnehmungsfähigkeit für kleinste Empfindungsbeträge ja so vielfach festgestellt ist.

Auch ist die halluzinatorische Natur der Inschau zum mindesten in vielen Fällen ganz augenscheinlich, was sie ja sein müßte, wenn dies Sehen ein bloßes Übersetzen-in-Bilder von nicht-optischen Empfindungen wäre. Dr. Solliers Subjekte sahen vielfach das Innere ihres Körpers, Kopf, Wirbelsäule, Rippen, Lunge, Herz wie ein Bild vor sich, geradezu 'in der Luft', und zeichneten mit dem Finger die Umrisse vor sich nach.

'Eine Versuchsperson sah ihr Nervensystem rings um sich her, sich selbst wie in einem Netze eingesponnen. 'Ich sehe nicht (das Gehirn) selbst,' sagte eine andere, 'ich sehe es wie in einem Spiegel, .. oder auf einem Schirm. [4] 'Die Dinge, die ich am besten sehe, die sehe ich vor der Stirn.' [5]

Falls dem nachdenklichen Leser Zweifel aufsteigen, ob die Ableitung

[1] Wundt 1361.
[2] vgl.o. S. 404. ZI.7f.29.
[3] Sollier, aaO.68.97.
[4] das. 60. 62. 87.
[5] das. 63. 85. Daß dieser halluz. Charakter sich mit echtem Hellsehen verträgt werden wir später erfahren.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 408)

mikroskopischer Anschauungen - der Blutkörper, Hirnzellen, Nervenfasern, Magendrüsen - von Innen- und Organempfindungen nicht eine schlimme Überanstrengung des Grundsatzes bedeute, [1] so beeile ich mich darauf zu verweisen, daß uns noch ein anderer Weg frei steht, die Rückführung dieser Leistungen (falls wir sie nicht lieber gleich leugnen) auf halbwegs normale Vorgänge zu versuchen.

Die Angaben eines der berühmtesten Körperinschauer und hellsehenden Diagnostiker scheinen diesen Ausweg anzudeuten.

Andrew Jackson Davis erzählt in seiner Selbstbiographie, wie ihm zu einer gewissen Zeit das innere Auge aufgegangen sei. 'Alle Dinge in unserem Zimmer. . . erschienen überraschend erleuchtet. Jeder menschliche Körper erglühte in vielen Farben. . ., jede Gestalt war eingehüllt in eine Lichtatmosphäre, die von ihr ausströmte... und den ganzen Körper durchdrang.'

Nägel, Haare, Ohren, Augen, besonders der Kopf, alles hatte Lichtkreise um sich. Vor allem erschien unter diesen Umständen auch das Innere des Körpers wie Glas; zum ersten Male sah er die innern Organe, ein jedes als gesonderten Mittelpunkt von Licht. '

(Ich sah von jedem Organ) die Form, einfach indem ich die Ausströmungen beobachtete, die es umgaben.' Lichtflammen erschienen an den verschiedenen Teilen des Herzens, besonders aber das Hirn erschien 'sehr leuchtend in prismatischen Farben'.

Er sah die Gedanken als 'Flammen, als schöne Atmungen', ähnlich die Strömungen vom Hirn durch den Körper, und die Nerven in einer 'milden goldenen Flamme'. Die Venen erschienen dunkel purpurn leuchtend, die Arterien hellstrahlend feurig, nur die Knochen 'sehr dunkel und braun'. [2]

Diese vielleicht phantastisch ausgeschmückte Schilderung eines weit zurückliegenden Erlebnisses weist uns immerhin auf jene schier zahllosen Beobachtungen verläßlicherer Personen, die sich seit längerer Zeit mit den 'Strahlungen' des menschlichen Körpers und seiner Organe beschäftigt haben.

Die Behauptung solcher Strahlungen ist sehr alt, sie zieht sich durch die Jahrtausende. Die Somnambulen der klassischen Zeit bestätigten sie aufs neue. Aber erst Reichenbachs Untersuchungen über das 'Od' und den 'sensitiven Menschen' stellten sie in einen Zusammenhang zahlreicher, sich gegenseitig ergänzender Beobachtungen und Versuche, und liehen ihnen den Nachdruck, den unabhängig erworbener wissenschaftlicher Ruf verleihen kann. [3]

Reichenbach suchte durch die Aussagen zahlreicher Sensitiver (darunter Personen von guter Bildung) zu erweisen, daß alle Körper in einer quantitativen Abstufung, die ihren chemischen und elektrischen Eigenschaften entspreche, 'odische' Strahlen aussenden, die den Schwachsensitiven als Temperaturempfindungen angenehmer oder unangenehmer Art, stärker Sensitiven als Licht- und Farbenempfindungen bewußt würden.

Die mächtigsten Strahler sollten Magnete, Kristalle und vor allem der menschliche Körper sein. In diesem sollten z.B. das Blut und die Nerven selbstleuchtend erscheinen, die Finger sollten ein Licht ausströmen, das bei Druckabstauung des Blutzuflusses

[1] Die Voraussetzung anatom. Wissens bleibt hier angesichts der sachverwandten Fälle von Krankheitsdiagnosen außeracht.
[2] Davis, Statt 214-217.
[3] Reichenbach war Chemiker und Geologe von Bedeutung.


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Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 409)

in den Arm aufhörte. [1] Hauptsächlich vom Hirn aus sollte ein sog. odischer Strom, den Erregung jeder Art steigerte, längs den Nerven herabsteigen und ihnen bis in die letzten Verzweigungen folgen. [2] Die Sinnes- wie die inneren Organe erschienen als Quelle anderer, deutlich unterscheidbarer odischer Lohen.

Diese sollten selbst äußere Gegenstände für den Blick der Sensitiven beleuchten können, durch Linsen konzentriert, durch Spiegel zurückgeworfen werden.

Reichenbachs Ergebnisse erweckten bei ihrem Bekanntwerden auf manchen Seiten stärkste Teilnahme und bewundernde Mitarbeit; aber schon zeitgenössische Kritiker suchten die Beobachtungen seiner Sensitiven ausnahmelos auf unbeabsichtigte Suggestionen der Versuchsleiter zurückzuführen.

Braid bereits teilte Versuche mit, bei denen die Versuchsperson an den stärksten Magneten keinerlei Odflammen wahrnahm, bis ihr gesagt wurde, wonach sie ausschauen solle, worauf sie solche Flammen an hölzernen Kästen und nackten Wänden sah. [3] Daß solche Einwände weit entfernt sind, zu beweisen, was sie beweisen sollen, ist freilich selbstverständlich.

Reichenbach hatte ausdrücklich die Wahrnehmungsfähigkeit für die Strahlungen der Körper als Besonderheit gewisser Personen bezeichnet. Daß andere, die zu keinen odischen Wahrnehmungen befähigt wären, gleichwohl zu entsprechenden Halluzinationen veranlaßt werden könnten, brauchte er keineswegs in Abrede zu stellen.

Nicht nur sind den Eichenbachschen Beobachtungen durchaus entsprechende häufig vor wie nach ihm völlig spontan und ohne jede Erwartungssuggestion aufgetreten, [4] auch in den schier unübersehbaren Verzweigungen seiner eigenen Versuche und Entdeckungen ist so viel ungewollter und natürlicher Zusammenhang,

daß man eigentlich über die Leichtfertigkeit staunen muß, die so viel Arbeit mit dem unstichhaltigen Einwande der suggerierten Halluzination beiseiteschiebt, ohne letzten Endes einen anderen Grund dafür zu haben, als die Idiosynkrasie gegen alles, was nur entfernt an 'Okkultismus' erinnern könnte.

Daß vollends die neueren Anschauungen über Radioaktivität der Materie die Beweislast von Reichenbachs Angaben bedeutend vermindert haben, braucht kaum erwähnt zu werden.

Indessen liegt mir hier nichts an der Verteidigung des Cd: ich wünsche es nur dem Gegner des Hellsehens als einen hypothetischen Ausweg anzutragen. In der Tat wurde die naheliegende Deutung der Sichtbarkeit des Körperinnern durch odische Abzeichnungen seiner verschiedenen Formgebilde bereits von Reichenbach vertreten, der von Höchstsensitiven erwartete, daß sie nach einigen Stunden in der Dunkelkammer den ganzen Leib durchschauen müßten. [5]

Von seinen Versuchspersonen fand z.B. Frau K. ihre Finger ganz durchsichtig, wenn sie sie nahe an einen elektrischen Konduktor heranbrachte, so daß

[1] z.B. Reichenbach II § 1793f.
[2] das. §§ 2022ff.
[3] bei Podmore, Spir. I 120.
[4] S. z.B. die ganz spontane Aussage der ungebildeten kleinen Mary Delves, die dafür 'bestraft' wurde: Crowe 365. Ausschließung von Suggestion durch Reichenbach selbst z.B. I 195 (§ 432). Vgl. auch die früheren und späteren, aber durchaus verwandten Beobachtungen: ATM XII, I 19ff. (Nick); Allg. Ztg., Beil. v. 9. März 1851 S. 1082; Prof. Kielmeyer i. J. 1807 (bei Reichenbach § 2027); Dupouy 40. 43ff. 54. 58. 68 (nach Durville, Luys, Goudard); photographische Versuche von Jodko u.a. bei Dupouy 45ff.; PS XXXIII 585; Beob. an Pflanzen: Dupouy 23 ; PS XXXII 88f. u. sonst.
[5] Reichenbach § 1786. 1827. Ebenso Dr. Kleins Somn. in ATM III, 3 115.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 410)

'die Nagelspitzen Elektrizität saugten'; sie unterschied dann Adern, Nerven, Sehnen, Bänderfasern usw. [1] .Ähnlich hatte bereits eine Patientin Pététins ihr 'Inneres und die merkwürdigen Formen (ihrer) Körperorgane mit einem Netzwerk von Licht umgeben' und eben darum überhaupt wahrgenommen.

'Hier', sagte sie z.B., 'ist (mein Herz): es schlägt immer zweimal, beide Seiten zugleich, wenn der obere Teil sich zusammenzieht, schwillt der untere an und zieht sich gleich darauf zusammen. Das ausströmende Blut leuchtet ganz hell und fließt durch zwei große Adern ab, welche aber etwas seitwärts liegen'. [2]

Und eine Somnambule Heinekens fand alle ihre Glieder 'mit Licht durchströmt: ich sehe das Innere meines Körpers, alle Teile erscheinen mir gleichsam durchsichtig'. [3]

Aber der etwaige Gewinn aus der Zugestehung der fraglichen Tatsache würde alsbald wachsen: denn sie würde auch eine Deutung des Hellsehens lebloser Gegenstände auf geringe Entfernungen verheißen. Den Sensitiven leuchtet ja, wie wir sahen, auch das Anorganische in wechselnder Art und Stärke.

Nicht nur jeder elektrische und magnetische Vorgang, jede chemische Umsetzung, jede Kristallisation soll von Lichterscheinungen begleitet sein, [4] auch das ruhende Element gibt Strahlen ab, so daß Reichenbachs Sensitive nach solcherlei Beobachtungen eine od-chemische Elementenreihe aufstellen konnten, [5] die mit den unabhängigen galvanischen und elektrochemischen Anordnungen der Laboratoriumsphysiker gut übereinstimmen soll. [6]

Es ist nicht mehr, als wir danach erwarten, daß schließlich der Nahhellsehende sich durch das eigenartige Leuchten 'aller Dinge' zu seinen Wahrnehmungen instand gesetzt fühlt, wie jener Somnambule Donnets, der, nachts aus dem Keller Wein holend, ein Licht zurückwies, weil für ihn 'alle Gegenstände leuchtend' seien. [7]

Kommt die Wissenschaft mit ihren Lehren über Strahlungen den Reichenbachschen Forschungen auf der objektiven Seite entgegen, so geben ihr auf der subjektiven mannigfache Feststellungen über Hyperästhesie (Überempfindlichkeit) eine gewisse Möglichkeit, seine Forderung der Sensitivität anzuerkennen.

Daß solche Überempfindlichkeit vor allem ein Merkmal hypnotischer Zustände ist, [8] vertrüge sich dabei gut mit der Tatsache, daß auch Hellsehen so oft mit schlafartigen Bewußtseinslagen zusammenfällt.

Aber auch außerhalb derselben sind z.B. an Ophthalmiekranken, wie in Zuständen sog. Nyktalopie - des 'Nachtsehens' - außerordentliche Steigerungen der Netzhautreizbarkeit beobachtet worden, in denen das normalen Augen durch Dunkelheit Verborgene mit Leichtigkeit gesehen wird.

[1] Reichenbach § 2252.
[2] S. Mayo 129; du PreI, Mag. II 19.
[3] bei du PreI, aaO.; vgl. Perty, M. E. I 281 (C. Krämer). Vgl. vielleicht auch gewisse Schauungen 'pflanzenphysiol.' Inhalts: Maitland 98f.; Bucke 271; Perty, aaO. 217 ('organisierte Lichtwelt'); ATM III, 3 115. 
[4] Reichenbach §§ 2347-69; Dupouy 41f. 65 (nach Charpignon und Luys).
[5] Reichenbach I 705.
[6] du Prel, Mag. II 124.
[7] du FreI, Entd. I 76f. (nach Puységur); vgl. Esdaile 31; Haddock 66. Die hier angedeutete Hypothese befürwortet auch du Prel in Mag. I 38ff.
[8] S. hierzu z.B. Moll 100 (Geruch); Myers I 474, nach Liébeault (Gehör); Despine 321f.; Myers I 479, nach Bergson (Gesicht). Zur Theorie (Reizstauung infolge funktioneller Einengung) s. Marcinowski in ZH IX 34.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 411)

Verwandtes könnte ja bei Sensitiven wie bei Nahhellsehenden als Grundlage ihrer Leistungen angenommen werden, sei es als Dauerzustand, sei es als vorübergehende Wirkung der Hypnose.

Eine mannigfach hellseherisch veranlagte Person berichtet bezeichnenderweise von sich eine 'fast übernormale Entwicklung des Gesichts, Gehörs, Getastes und Geruchs'; [1] und Dupouy glaubte geradezu gesteigerte Durchblutung der Netzhaut bei Luzidität feststellen zu können. Auch hat man mehrfach eine charakteristische Besonderheit von Auge und Blick bei Hellsehern wahrnehmen wollen: ein 'eigentümliches Licht' ihrer 'scharfen Augen'. [2]

Die Hoffnung nun, durch Überempfindlichkeit des normalen Auges für Strahlen, welche 'undurchsichtige' Hüllen der Dinge oder des Körpers und natürlich auch das Lid des geschlossenen Auges [3] durchdringen können, die Leistungen des Nahhellsehens zu erklären, diese Hoffnung scheint freilich so schnell zu zerrinnen, wie sie entstanden ist.

Einmal widersprechen ihr gewisse Beobachtungen, die eine Teilnahme des Auges als eines dioptrischen Apparats anscheinend überhaupt ausschließen.

Nicht nur, daß gelegentlich von Kurzsichtigkeit der Nahhellseher berichtet wird [4] - diese ließe sich ja zeitweilig überwunden denken -; sondern auch die wiederholt festgestellte Tatsache, daß Nahhellseher nicht nur die Lider schließen, sondern auch die Augäpfel nach oben und innen verdrehen, [5] läßt nicht darauf schließen, daß sie überhaupt zu blicken beabsichtigen.

Zettelleser halten denn auch meist das zusammengefaltete Papier nicht in der Blickrichtung des Auges, sondern etwa seitwärts fortgestreckt, oder an die Stirn gedrückt, oder sonstwie. [6] Auch sehen sie nie Spiegelschrift, wenn sie ein einseitig beschriebenes Papier (in undurchsichtiger Umhüllung) bald mit der einen, bald mit der andern Seite an die Stirn legen. [7]

Vor allem aber müssen wir uns besinnen, daß ja die gesehenen Gegenstände, zumal des eigenen Körpers, vielfach außerhalb jeder möglichen Blickrichtung liegen, und daß auch, wo dies nicht geradezu der Fall ist, die Berichte nie ein Wort sagen von den außerordentlichen (und, wenn sie stattfänden, gewiß auffallenden) Verdrehungen des Kopfes, welche notwendig wären, um dem sensitiven Auge das Innere auch nur des Rumpfes oder gar der Brusthöhle darzubieten.

Wir befinden uns somit in einer seltsamen Zwickmühle zwischen Tatsachen, die eine Beteiligung der Augen überhaupt andeuten, und andern, die ihre völlige Ausschaltung, vollends als dioptrischen Werkzeugs, beweisen.

Schenken wir, wie billig, den letzteren das größere Vertrauen, so lassen sich die ersteren immer noch durch den Willen des Subjektes zum 'Sehen' überhaupt erklären, einen Willen, der sich auch bei übernormaler Leistung soz. in das Organ des normalen Sehens verirren könnte; etwa nach Analogie der

[1] K. E. Henry-Anderson in OR 1905 I 71.
[2] S. APS VI 303.
[3] Über angebl. ungehinderte Od-Wahrnehmung auch bei geschlossenen Augen bei gewissen Sensitiven s. Reichenbach II 23f. § 1676.
[4] S. z.B. PS XXIX 62 (Anna Yussuf Nail) und Wyld 173.
[5] S. z.B. Despine 340. Vgl. 317- 333, und v. Gumppenberg in Die Kritik IV (1895) 1792.
[6] Vgl. o. S. 398f.
[7] Nach v. Wasielewski bei Tischner, Üb. Tel. u. Hellsehen 106.


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Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 412)

Heiserkeit, die man zuweilen nach rein vorgestelltem Singen verspürt. Damit aber wäre die Verlockung zur 'natürlichen' Deutung der Tatsachen beseitigt und eine physiologische Erklärung des Nahhellsehens überhaupt einstweilen aufgegeben. -

Merkwürdigerweise aber hält die hypothetische Physiologie des Hellsehens noch andere Beobachtungen bereit, die ebenfalls, während sie auf der Mitwirkung leiblicher Organe 'irgendwie' zu bestehen scheinen, doch keine spezifische Anpassung des Organs an die Leistung erkennen lassen.

Ich meine die gelegentlich schon gestreifte groteske Tatsache der sog. Transposition der Sinne oder paradoxen Wahrnehmung, d.h. der 'Wahrnehmung' durch abnorme, weil nicht dazu geschaffene, unspezifische KörpersteIlen. Wir werden auch diese Tatsachen nicht unbesprochen lassen dürfen, weil jede Aussicht auf normale Deutung metapsychischer Leistungen erwogen werden muß, ehe die Einführung neuer Grundbegriffe versucht wird.

Ich übergehe hier die 'abnorme Akustik': die hundertfach beschriebene Tatsache des 'Hörens' durch Fingerspitzen, Fußsohlen, Zehen, Magengrube usw., weil der naheliegende Einwand: daß hier normal gehört werde und die paradoxe Lokalisation nur eingebildet sei, ohne Umständlichkeit nicht erwogen, geschweige widerlegt werden könnte und die akustische Seite des Problems ohnehin nur geringes Interesse für unsern Zusammenhang hat. [1]

Das Sehen vermittelst paradoxer Körperteile ist ähnlichen Einwänden natürlich sehr viel weniger ausgesetzt, und in den besten Versuchen darf man die normale Mitwirkung der Augen für ausgeschaltet halten; jedenfalls wäre es lächerlich, zu denken, die alten Experimentatoren, die hier hauptsächlich in Betracht kommen, hätten in diesem Punkte Sorglosigkeit walten lassen. [2]

Gmelin ging u.a. so weit, den ganzen Kopf seiner Versuchsperson (Lisette Kornacher) in 'Taffet' einzuwickeln, 'so daß ich ihn um den Hals zusammenzog', und 'über ihrer Brust und Unterleib ein Stück schwarzen Taffet zu spannen'; trotzdem 'erkannte sie. . . vor die Herzgrube gehaltene Gegenstände... ohne Fehl',  während sie dieselben nicht erkannte, wenn er sie 'an ihrem Kinn ihr so vorhielt, daß (sie sie bequem durch eine Augenspalte hätte wahrnehmen können).' [3]

Die verrufene 'Herzgrube' ist indes nicht der einzige paradoxe Sehfleck: Ohr, Stirn, Scheitel, Schläfe, Hinterkopf, Schulter, beide Beine, Fußsohlen, Zehen, Ellbogen, Handflächen, Finger usw. werden vielfach erwähnt. ' Vielleicht genießt die Hand sogar einen Vorzug.

Esdaile veröffentlicht den Brief eines schottischen Geistlichen an Sir George Mackenzie (Präsident der Edinburger Phrenologischen Gesellschaft), dessen Versuchsperson imstande war, 'den Inhalt jedes beliebigen Geschriebenen zu erfassen', indem sie bloß die Hand auf das Papier legte, ohne die Zeilen oder Buchstaben mit dem Finger nachzuziehen; 'und erst gestern abend

[1] Die Tatsachen s. z.B. ATM I, I 20. 25 (Nordhoff); V, I 12f. (Dr. Klein); Köttgen, Maria Rübel, die Hellseherin. . . (Halle 1819) 101 ff. 107ff.; Esdaile 26. 98f.; Pr V 264f. (Dr. Fontan); Pr XIII 398f. (Mrs. Piper!).
[2] S. z.B. Dr. E. Gmelin, Materialien f. d. Anthropologie (Heilbronn u. Rothenburg o. T. 1791/3) II 72. 75.
[3] Das. II 115.
[4] Belege z.B. bei Werner 322f.; Perty, M.E. I 219f. 282; Mayo 184f.
[5]  (?)- collect.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 413)

sah ich sie auf diese Art den Inhalt einer eben ins Zimmer gebrachten Mitteilung angeben, während ich selbst sie nicht ohne Kerze entziffern konnte, und zwar mit einer Geschwindigkeit, in der ich sie nicht einmal bei Tageslicht hätte lesen können.' [1]

Sieht man zur Deutung solcher Beobachtungen von der Annahme versteckt-normalen Sehens ab - bei der angewandten Vorsicht ein willkürlicher Einwand -, so möchte man am ehesten unbewußte Winke oder aber telepathische Hilfsleistungen des Versuchsleiters vermuten. [2]

Indes auch diese Zweifel werden von Versuchen widerlegt, die ausdrücklich Gewicht darauf legen, daß die Einzelheiten der gesteIlten Aufgabe selbst dem Versuchsleiter unbekannt gewesen seien.

Tritschler z.B. experimentierte mit dem 13jährigen Matthias Schurr in der Weise, daß er mit abgewandtem Gesichte Karten aus einem Pack herausgriff, sie in der Hand verschließend, und dann im völlig finstern Zimmer verdeckt unter die Bettdecke auf die Magengrube des ('magnetisch') schlafenden Knaben brachte, wo sie nach einiger Zeit und Anstrengung allmählich von ihm erkannt wurden. [3]

Dr. Ferrus hielt seine Taschenuhr gegen das Hinterhaupt seines Subjektes in einer Entfernung von 3 - 4 Zoll, nachdem er die Zeiger, ohne hinzusehen, willkürlich auf gut Glück mehrmals herumgedreht hatte, und erzielte richtige Angaben ihres Standes. [4]

Und Dr. Gibier berichtet über Versuche mit einer 20jährigen Jüdin, welche, 'eingeschläfert', die ihr aufgetragene erste Zeile einer bestimmten Druckseite las, in einem Buche, welches ebenfalls auf gut Glück herausgegriffen und mit dem Deckel nach oben einige Zentimeter 'über des Subjektes Haupt' geöffnet worden war, wobei die Augen der Person mit Watterollen und Tuch verbunden waren und die Versuchsleiter 'nicht wußten, bei welcher Seite (das Buch) aufgeschlagen worden war.'

Die 'nach einem Augenblick des Zögerns gelesenen Worte waren: l'idendité ramène encore à l'unité, car si l'âme.. .', die ganze Zeile außer den zwei letzten Worten. Hier trat bereits Erschöpfung ein. [5]

Vermutet man nun aber wirkliche Wahrnehmung irgendwelcher Art durch die betreffenden KörpersteIlen, so empfiehlt sich zunächst natürlich eine Deutung durch - etwa hyperästhetisches - Tasten, oder Wärme-, chemisches, elektrisch-magnetisches oder irgendein sonstiges Empfinden der normalen Nerven und Organe dieser SteIlen, das erst in zweiter Linie - faIls überhaupt - in GesichtsvorsteIlungen übertragen würde. [6]

Dafür spräche die Beobachtung, daß manche Versuchspersonen z.B. Gedrucktes oder Geschriebenes sorgfältig mit den Fingerspitzen betasten, [7] oder

[1] Esdaile 28f. Vorzügliche Beob. von Dr. Fontan in RPh Aug. 1887; daraus in Pr V  263ff.; s. bes. 267f. (farb. Wollproben unter Glas mit den Fingerspitzen unterschieden). Vgl. ATM III, I 104f. üb. die blinde Miss McEvoyj III, 2 90ff. 126f.; 131 (Kieser über A. Arst); III, 3 18 (van Ghert über Mme. Millet); Haddock 99. 102f.; Pr XIII 449f.; Lombroso 4ff. (eigene Versuche); PS XXXIV 245.
[2] So z.B. Turtle Cooke 52; vgl. Gurney II 345-7.
[3] Aus ATM I,1 bei Perty, M. E. I 329.
[4] Aus Dict. de Méd. in PS V 324f.
[5] Gibier 141f. - An allen diesen Berichten läßt sich billig mäkeln; doch ruht hier auf ihnen - wie man sehen wird - keine Beweislast.
[6] So aIIg. Despine 174f.
[7] Wie die Caroline V. bei Mayo 134; wie blinde McEvoy in ATM III, I 104ff.; Gmelin aaO. II 71f.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 414)

andere eng umschriebene Wahrnehmungsstellen über die einzelnen Teile des zu 'Lesenden' hinzuführen scheinen, [1] oder zum mindesten dieses an die fraglichen Hautstellen anschmiegen oder andrücken. [2]

Auch würden sich hiermit gelegentliche seltene Beobachtungen verknüpfen lassen, wonach die paradoxen Sehstellen Überempfindlichkeit schmerzhafter Art gezeigt hätten, [3] oder örtliche Rötungen, die sich gelegentlich zu sog. Ekchymosen fortbildeten,

d.h. örtlichem Blutaustritt in geringer Menge, wie etwa bei der Mme. Eugénie des sorgfältig beobachtenden älteren Despine, die von einem Dritten geschriebene Worte las, indem sie die Schrift an 'einen kleinen tiefroten Fleck' zu bringen suchte, wovon sie an jedem Fuße einen hatte; ihr Kopf war derweil in eine Schärpe und 'mehrere schwarze Stofftücher' eingewickelt. [4]

Aber die Hoffnungen auf Verständnis, die solche Einzelzüge wecken mögen, sind von kurzem Bestand. Geht schon das Lesen von flacher Schrift mit der ruhenden Hand oder gar anderen Hautflächen weit über das hinaus, was der feinstfühlende Blinde beim Lesen leistet, so verlieren wir ja bei zahlreichen Versuchen jede Beziehung zum Getast überhaupt, oft wohl schon durch Zwischenschaltung der Haarmassen; [5]  noch deutlicher, wenn z.B. das Lesen bei leicht abschätzbarer Entfernung der angeblich lesenden Stelle von der Schrift vor sich geht. [6]

Die Auswege aber, die uns hiernach noch bleiben, sind schmal und steinig und verlieren sich bald in tiefes Gestrüpp. Irgendwelche den nervösen Endorganen der Haut zukommende Reize (und ein Überreichtum der Haut an mancherlei Endorganen ist ja gegeben) sollen auch ohne Berührung das Erkennen von Dingen ermöglichen.

Die viel behauptete Erregbarkeit von Hautnerven durch Metalle [7] mag einzelne Fälle anscheinenden Nahhellsehens erklären: wie wenn z.B. eine von Petetins Patientinnen 'bei verschlossenen Augen die Stunde und Minute auf einer Taschenuhr angab, indem sie den Zeigefinger auf dem Glase der Uhr umherführte'. [8]

Braid, der bei einigen seiner Subjekte die Fähigkeit beobachtete, wenigstens die Form von Gegenständen zu unterscheiden, die der Nackenhaut, dem Scheitel, dem Arm oder der Hand bis auf 1,5 Zoll genähert wurden, führte diese Gabe, unter Berufung auf 'äußerst gesteigerte Empfindlichkeit der Haut', versuchsweise auf die kalorischen Eigenschaften der Dinge zurück, d.i. ihre Neigung, Wärme auszustrahlen oder zu verschlingen. [9] Gerade die Form von mehr

[1] S. Perty, M. E. I 288 (über v. Gherts Somn.). Über verfeinerte Entfernungsschätzung bei Hautberührung s. BramweIl in Pr XII 177f.
[2] Wie Dr. Bulteels Somn., bei Mayo 127.
[3] S. z.B. Perty, M. E. I 218 (nach Despine): Fingerspitzen.
[4] Despine 167; vgl. 172. Über engste Begrenztheit der angeblich wahrnehmungsfähigen Stellen s.noch Mayo 184; Perty, aaO. 293.
[5] S. z.B. Mayo 184f. (Hinterkopf-Lesen 'junger Mädchen').
[6] S. Despule 169; Werner 322; Mayo 184f. (5-6 Zoll hinter linkem Ohr); ATM III. 1 107f. (bis zu 12 Zoll).
[7] S. z.B. über die Metallfühlerin K. Beutler: Passavant, 2. Aufl. 69f. Über die Möglichkeit von Hypersens. für Metalle, galvan. KontaktsteIlen u. dgl. s. z.B. Daumer, Mitteil. üb. Kasp. Hauser (Nürnb. 1832) I 11; II 40f.; Despine 161; Binet 293.
[8] Bei Perty, M. E. I 158.
[9] Bei Sidis, Suggestion 149; vgl. Despine 174f.


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Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 415)

oder weniger ausgedehnten Gegenständen vermag ja aber auch der Blinde mit seinem rätselhaften Hautsinn zu unterscheiden.

Ein guter Selbstbeobachter unter diesen sog. Unglücklichen, Herr W. Hanks Levy, [1] will nicht nur hoch oder kurz, schmal oder umfangreich an ihm gegenüber befindlichen Dingen unterscheiden können (und zwar im Gehen wie ihm Ruhen), sondern auch ob ein Ding vereinzelt oder z.B. ein weitreichender Zaun sei, ob ein solcher geschlossen oder aus Latten gebildet, ob geradlinig abgeschlossen oder mit Vorsprüngen nach oben versehen sei, oft auch ob er von Holz oder Stein sei.

Er kann Türen und Fenster bezeichnen, gleichgültig ob offen oder geschlossen, und zwar Fenster leichter, wenn sie aus mehreren Scheiben, als wenn sie aus einer bestehen. - Dabei fällt als Parallele zu den oben berichteten Tatsachen auf, daß Blinde bisweilen den rätselhaften Sinn an engbegrenzte KörpersteIlen gebunden oder allmählich auf solche sich zurückziehend empfinden.

W. Hanks Levy nannte als solche die Haut des Gesichts, wie denn auch dichte Verschleierung des Gesichts den Sinn vollkommen aufhob; und ein anderer, der zunächst Gesicht und Hände als wahrnehmend empfunden hatte, glaubte gegen die Mitte des zweiten Jahres nach seiner freiwilligen Erblindung eine 'Verörtlichung' des Sinnes zu bemerken, der sich auf der Stirn und den Schläfen 'wie in einem Brennpunkt' sammelte, wodurch größere Genauigkeit der Eindrücke und Sicherheit der Bewegungen bewirkt wurde. [2]

Daß nicht Unterschiede der gewöhnlichen Lichtbestrahlung hierbei ausschlaggebend sind, scheint der Umstand zu beweisen, daß Dunkelheit dieses Sinnesvermögen nicht vermindert, während seine Verringerung bei Nebel doch Abhängigkeit von materiellen Einflüssen der Dinge erweist: Luftdruck soll es nicht sein, denn Stärke und Richtung des Windes sind ohne Einfluß.

Die Ratlosigkeit, in der uns solche Angaben einstweilen lassen, mag es erlaubt, wenn nicht gar geboten erscheinen lassen, das Nachdenken des Lesers auf den Boden noch dunklerer nicht bloß, sondern auch weniger verbürgter Tatsachen zu verlocken, um nichts unerwähnt zu lassen, was künftig vielleicht auf diese problematischen Vorgänge Licht werfen könnte.

Rochas, ein phantasievoller Vorkämpfer des französischen Okkultismus, glaubte bei gewissen tiefhypnotisierten Subjekten die Empfindungsfähigkeit der Haut selber durch die bekannten 'mesmerischen Striche' (passes) 'exteriorisieren' zu können.

Von den ersten Strichen an verschwände die Sensibilität der Haut und des Geruches vollständig. Nach einiger Zeit seien diese Sinne nicht 'spezialisiert' für den Magnetiseur und die Personen oder Gegenstände, die er mit seinem Fluidum lädt' ; sondern die Sensibilität exteriorisiere und lege sich bei fortgesetztem Streichen in Schichten parallel um die Oberfläche des Körpers.

Die leuchtende Schicht, die für das Auge des Sensitiven seine Haut bedeckt, scheine sich nämlich in die Luft aufzulösen, erscheine aber nach einiger Zeit wieder in Gestalt eines leichten Nebels, der sich langsam verdichte und leuchtend werde und schließlich die Gestalt

[1] Bei W. James, Princ. of Psychol. II 204f. Vgl. über Hendrickson bei Buchanan III 119ff.
[2] Aus Mag. f. Litt. LXlII (1894) 883 ff. in PS XXII 429. Eine akust. Deutung befürwortet Truschel in AGP XIV 133ff.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 416)

einer sehr dünnen couche annehme, die in einem Abstand von 3 oder 4 cm allen Umrissen des Körpers folge. Hinfort erzeuge Einwirkung auf die couche seitens des Magnetiseurs dieselben Empfindungen, die vordem durch Einwirkung auf die Haut erzeugt wurden.

Bei fortgesetzter Magnetisierung bilde sich sogar eine Reihe solcher couches, in Abständen, die von Subjekt zu Subjekt zu wechseln scheinen, von denen die äußerste mehrere Meter von der Oberfläche des Körpers entfernt sei, und deren Sensibilität mit dem Abstand vom Körper abnehme.

Nähere das Subjekt seine Hände einander so, daß die beiderseitigen couches zusammenfallen, so bewirke Reizung der letzteren gleichzeitige Empfindung in beiden Händen; nähere man die Hände einander so, daß die parallellaufenden couches beider Hände einander soz. zwischengeschaltet seien, so bewirke Durchfahren dieser gemischten Reihe etwa mit einer Flamme abwechselnd aufeinanderfolgende Empfindungen in beiden Händen. [1]

Den vom Gegner erhobenen Einwand unwissentlich geübter Normalsuggestion suchte Rochas experimentell zu entkräften; er 'zwickte' das Subjekt hinter dessen Rücken unerwartet, wobei Entfernungen von zunächst 10 cm, dann in Abständen bis auf 3 -4 m anwachsende sich als wirksam erwiesen.

Die so auf ihren Abstand vom Körper geprüften empfindlichen Schichten will er dann mit einer Flamme und Nadel nachgeprüft haben: das Subjekt schrie im entsprechenden Augenblick auf und klagte über Brennen oder Stechen. Geschlossene Türen, selbst Mauern hätten dabei kein Hindernis gebildet. [2]

Die sorgfältige, jedenfalls bewußte Ausschließung normaler Suggestionen [3] schließt nun freilich nicht telepathische Beeinflussung aus, und selbst M. Denis' Versicherung, daß er mit 'Gedankenbefehlen' bei seinem Subjekt nur selten Erfolg gehabt, widerstreitet nicht der Annahme größerer Wirksamkeit von ungewollt-unbewußten Suggestionen.

Aber auch abgesehen hiervon: die Versuche, die vielfach einen dilettantischen Eindruck machen, bedürfen nicht nur der tatsächlichen Nachprüfung, sondern auch erst noch der elementarsten sachlichen Deutung. [4] Sieht man selbst hypothetisch die Schichten für wirklich an: die Rätsel beginnen damit erst.

Was wäre ihr Material, was ihr Bau? Sie vermitteln anscheinend spezifisch verschiedene Empfindungen und lokalisieren sie; [5] sollen wir ihnen also auch spezifische Endorgane zuschreiben? Die Frage führt auf eine Schwierigkeit, die auch den andern Beobachtungen anhaftet, die zur Deutung der paradoxen Wahrnehmung herangezogen wurden.

Gleich dem Lesen der metallenen Uhrzeiger, gleich dem kalorischen Hautsinn, gleich dem seltsamen sechsten Sinn der Blinden halten sich auch Rochas' couches innerhalb des Bereiches einfachster und gröbster Wahrnehmung. Keine

[1] Rochas, Exter. 52ff.; vgl. PS XXIV 337f. (über Eusapia Palladino).
[2] S. ÜW VII 14ff. 117ff. 153ff.; hier bes. 22 (Mitteil. v. Dr. Boudroux). Vgl. möglicherweise auch Pr X 413 oben.
[3] S. z.B. ÜW VII 155. Üb. photograph. Aufnahme couches-ähnlicher Gebilde durch Prof. Wagner i. J. 1891 (also 3 Jahre vor Rochas' Veröffentlichung) am Med. Nikolajew s. Petrowo-Solowowo 190. Rochas' Versuche wurden wiederholt von Dr. Joire (s. ASP 1897 u. 1903).
[4] Couches als opt. Interferenzersch. aufgefaßt von Delanne (136 ff.).
[5] Eine Ausnahme ÜW VII 154.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 417)

dieser Wahrnehmungsarten versteigt sich z.B. bis zum Lesen geschriebener oder gedruckter Schrift. Keine Erscheinung aber ist erklärt, wenn sie nicht auch in ihren schwerst zu deutenden Formen erklärt ist.

Die Schwierigkeit, die den verwickelteren Leistungen des Nahhellsehens gegenüber entsteht und die bezeichnenderweise meistens stillschweigend übergangen wird, beruht auf dem Fehlen eines dioptrischen Apparates, wie er für die Wahrnehmung feiner Gestaltungen selbst auf kurze Entfernungen unerläßlich erscheint.

Die größte Fülle von Reizorganen der Haut nützt uns nichts, wenn keine Linse die ordnende Vermittlung zwischen dem flächenhaften Nebeneinander von Objekt- und Reizpunkten übernimmt, indem doch die von jedem Objektpunkt ausgehenden Reize unfehlbar sich zerstreuen müssen, ehe sie die Reizfläche der Haut erreichen.

Wir hören zwar von Fingerlesern, die darauf bestanden, sich Brillengläser vor die Fingerspitzen zu halten, oder hinter konvexen Gläsern den Finger über der Schrift hin und her bewegten. [1] Aber diese Beihilfen erweisen sich schon durch ihre äußerste Seltenheit innerhalb des massenhaften Materials als leichtverständliche Einbildungen, wenn nicht gar scherzhafte Spielereien einzelner Subjekte. Im äußersten Falle böte die Linse ein entbehrliches Unterstützungsmittel.

Es ist bei dieser Lage des Problems zum mindesten verständlich, wenn nachdenkliche Beurteiler schon jetzt auf jede physikalisch-physiologische Deutung der Tatsachen verzichten mit der Vermutung, daß auch die paradoxen Wahrnehmungen auf 'völlig übernormale Art' vor sich gehen,

daß sie also gar keine optische, vielmehr irgend eine verallgemeinerte telästhetische Wahrnehmung darstellen, die nur als visuell vorgestellt werde, und zwar in verworrener Weise, so daß sie z.B. auf das Knie anstatt auf die Netzhaut des Auges bezogen werden könne. [2]

Die paradoxe Lokalisiertheit hätte danach keinen höheren Wahrheitswert als die ebenfalls gelegentlich behauptete Beziehung auf das normale Sinnesorgan: wie wenn z.B. Despines Mlle. A. beim Sehen mit Handfläche, Fußsohle oder Magen sich die Augen rieb, [3]

oder Tritschlers Knabe, mit der 'Magengrube' lesend, doch mit den Augen wahrzunehmen glaubte; [4] oder wenn andere paradox Nahhellsehende behaupten, ihr Gesicht 'steige herab', 'fixiere' sich hier oder dort, das 'Licht' begebe sich an die und die Körperteile, um ihnen die Dinge wie sonnenbeschienen zu zeigen, [5] oder 'schieße' (im Augenblick des Eintritts in Somnambulismus) 'wie aus den Augen auf einmal in die Fingerspitzen.' [6]

Ausdrücklich scheinen denn auch manche Subjekte die paradoxe Reizstelle zu verleugnen, während sie doch sie scheinbar benutzen. Der Knabe Arst, der mit den Fingern sah, 'nannte dies auch nicht sehen, sondern wissen'; [7] ein anderes Subjekt will bei solchem Sehen 'keine andere Empfindung haben, als geschehe es mit dem Gehirn, so wie dort das Sehen auch im wachen Zustande empfunden wird'; [8] und Gmelins Somnambule soll auf

[1] T. Glower in ATM III, 1 107; Dürr bei Perty, M. E. 1219.
[2] So Myers I 192.
[3] Perty, M. E. I 218.
[4] Das. 329.
[5] Despine 168.
[6] Die Stadelbauer bei Kerner, Gesch.
[7] Perty, aaO. 219.
[8] Kerner, Gesch. 328. 331.


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Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 418)

die Frage, ob sie denn mit dem Magen sehe, gesagt haben: 'Oh, was werde sie mit dem Magen sehen ! Sie wisse es nicht, durch was sie empfinde, sie fühle es eben. Es falle ihr eben jedesmal eine gewisse Karte ein, und diese müsse sie nennen.' [1]

Dies alles spricht dafür, die paradoxe Lokalisierung dieser Wahrnehmungen als ein künstliches Erzeugnis von Suggestionen aufzufassen, die dabei stattfindende Wahrnehmung an sich aber als echtes Hellsehen. In der Tat genügen mitunter Äußerungen des Experimentators über das an Andern Beobachtete, diese Erscheinungen erstmalig an Subjekten zu erzeugen, die sie zuvor nicht gezeigt. [2]

Zwar will Pététin die paradoxe Sinneswahrnehmung (in Gestalt von Hören durch den Magen) geradezu zufällig entdeckt haben, nämlich bei einem Sturz gegen den Magen seines Subjekts, dem er sich soeben noch auf keine Weise hatte vernehmbar machen können; während Esdaile, nachdem er von Petetins Ergebnissen gelesen, seine ersten gelungenen Versuche ex abrupto machte, als er sich ebenfalls zufällig in entsprechender Körperhaltung befand. [3]

Aber wer die Geneigtheit des hypnotischen oder medialen Subjektes kennt, jeden denkbaren Wink zur Erzeugung neuer Phänomene auszunützen, wird in diesen Angaben keine Widerlegung der obigen Vermutung erblicken.

Auch die Beschränkung der Fähigkeit auf die rechte Hand oder Seite, [4] bzw. ihre Steigerung auf dieser Seite, mag sehr wohl im selben Sinne Idiosynkrasie und nicht gleich (mit Reichenbach) [5] auf die verschiedenartige 'odische Polarität' beider Seiten zurückführbar sein.

Eine nicht unbeträchtliche Stützung endlich findet die nicht-physiologische Deutung in der Beobachtung, daß in vielen Fällen das paradoxe Wahrnehmen in ein Hellsehen überzugehen scheint, das von solchen Wahrnehmungsstellen unabhängig ist.

Mr. BulteeIs Patientin z.B., die Geschriebenes mit der Hinterseite ihres Halses las, wobei 'unmittelbare Berührung durchaus erforderlich' war, habe 'außerdem' eine 'allgemeine Perzeptionsfähigkeit' besessen, die sie befähigt habe, noch ziemlich entfernte kommende Besucher anzukündigen oder die Züge von hinter ihrem Rücken Schach Spielenden zu verfolgen. [6] -

Mrs. H. Anderson, die wir an mehreren Stellen unsrer Untersuchung als einen wahren Ausbund übernormaler Fähigkeiten höheren Grades kennen lernen werden, bekennt sich bezeichnenderweise daneben noch zu einer Art der Wahrnehmung, die an den Blindensinn erinnert und sich 'über ihren ganzen Körper' fühlbar mache:

'Ich kann sie nur beschreiben als Einhüllung in ein Netzwerk von Silberfasern, von denen jedes Bündel alle Vermögen jedes der andern Sinne besitzt.' Dieser Sinn lasse sie z.B. im Dunkeln ihren Weg mit größter Sicherheit durch dicht gestellte Möbel finden. [7] -

Ebenso lesen wir von einer Blinden, die außer Lesen normaler Schrift mit den Fingerspitzen auch noch das hinter ihr Gelegene und das Ferne sieht und angeblich selbst geschlossene Bücher liest. [8]

[1] Gmelin, aaO. II 79f. 83.
[2] Bei Myers I 500 (nach Fahnestoek u. Dr. Arvello).
[3] Esdaile 98f.
[4] Wie z.B. bei Dr. Haddocks Emma (Haddock 99f.).
[5] Reichenbach II 603.
[6] Mayo 127; vgl. Pététin bei Perty, M. E. I 158.
[7] Henry-Anderson in OR 1905 I 71.
[8] Aus Gaz. méd. de Paris in ÜW XIII 200.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 419)

Anderseits wird echtes Fernsehen gelegentlich ähnlich lokalisiert, wie die paradoxe Nahwahrnehmung.

Horner, durch 'Striche' über das Schädeldach hypnotisiert (und hierin könnte eben die Suggestion einer bestimmten Lokalisierung angedeutet sein), sieht plötzlich den über dem Versuchszimmer gelegenen Raum - 'nicht mit meinen Augen! Ich sehe von meinem Scheitel aus. Mein ganzer Scheitel scheint (mir) offen!'

Er beschreibt darauf vollkommen genau (wie die Nachprüfung ergibt) die Einzelheiten des Zimmers (das er nur einmal einen Monat zuvor auf zwei Minuten betreten hatte, um mit dem Berichterstatter zu reden), zwei darin anwesende Personen, ihre Plätze und ihr Tun, außerdem ein sehr kleines Licht auf dem Tische in der Nähe der Lesenden.

Bei anderer Gelegenheit ging ein Dritter in das besagte Zimmer hinauf, um durch eine verabredete Handlung Horners Hellsehen zu prüfen, tat dann aber etwas anderes, ohne doch das Subjekt dadurch irreführen zu können. [1]

Solche Beobachtungen eines Übergehens von anscheinend physiologischem Hellsehen in ein solches, das aller physiologischen Deutung zu spotten scheint, bei einem Individuum könnten theoretisch bedeutsam sein, handelt es sich doch hier für uns um die Frage, ob alle Leistungen anscheinenden Hellsehens einer Art seien.

Die Tatsachendarstellung der anscheinend hellseherischen Leistungen, soweit sie mit der Frage nach einem etwaigen telepathischen Agenten zusammenhing, hatte in den Angaben über Nahhellsehen des völlig Verborgenen gewissermaßen ihre Krönung gefunden.

Dann aber hatten wir selbst die Wesensgleichheit von Nah- und Fernhellsehen in Frage gezogen, weil wir erwarteten, für die ersteren Tatsachen eine physikalisch-physiologische Deutung zu finden, während eine solche für die des Fernsehens schon auf den ersten Blick im höchsten Maße unwahrscheinlich dünken mußte.

Diese physiologische Deutung ist uns nun gleichsam zwischen den Fingern zerronnen. Freilich beruht dieses negative Endergebnis mehr auf Ratlosigkeit, als auf klarem Erkennen von Unmöglichkeiten. Und dieser Umstand mag uns vor überhastetem Einheitsstreben warnen: es darf nicht als undenkbar betrachtet werden, daß unter dem leichtfertig gefundenen Titel des Hellsehens sich Tatsachen von grundverschiedenem Wesen zusammengefunden haben.

Immerhin liegt die überwiegende Wahrscheinlichkeit auf der Seite der einheitlichen Auffassung aller Tatsachen des Hellsehens, und in diesem Falle würde nicht nur die größere Eindeutigkeit und Glaubwürdigkeit des Nahversuches dem gesamten Tatsachenbereich als solchem zur Stütze dienen, sondern auch die 'theoretische Assimilierung' der Tatsachen des Nahhellsehens durch die des Fernsehens (und nicht umgekehrt) sich als das logisch Gegebene erweisen.

Das Ergebnis dieser Vereinheitlichung aber wäre eine entschiedene Stärkung der Überzeugung, daß am Vorgang des Hellsehens ein menschlicher telepathischer Agent nicht beteiligt sei. Sollte indessen eine physiologische Deutung des Nahhellsehens

[1] Esdaile 87ff., nach Topham in The Zoist Nr. XVIII.


Kap XL. Theorie des Nahhellsehens.             (S. 420)

sich künftig doch noch ermöglichen, so wäre eben dieser letztere Tatsachenbestand aus der Erörterung des eigentlichen Hellsehens auszuscheiden: unser theoretisches Interesse aber würde sich damit auf die Tatsachen des Fernsehens zurückziehen, als diejenigen, welche am ehesten wesentlich neue psychologische Erkenntnisse verheißen.

Denn die Einsicht drängt sich uns hier schon auf, daß es schier hoffnungslos erscheinen muß - vollends nach Ausschaltung telepathischer Agenz -, das Fernsehen als ein physikalisch-physiologisch vermitteltes Sehen zu verstehen, in einem Sinne, wie die oben besprochenen und fehlgeschlagenen Deutungen das Nahhellsehen als ein solches zu verstehen suchten.

Denn was würde eine solche Hoffnung voraussetzen müssen? Entweder (scheint mir) die typisch optische Erfassung irgendwelcher von dem hellsichtig geschauten Gegenstande ausgehender 'Strahlen' - ein Vorgang, dessen Veranschaulichung man nur zu versuchen braucht, um seine Undenkbarkeit zu begreifen, oder aber man müßte annehmen, daß ein organisiertes Wahrnehmendes sich aus dem Leibe in die Ferne begebe, um ortsanwesend in der Art des physiologischen Nahhellsehens wahrzunehmen.

Diese Annahme erscheint vollends phantastisch bis zur Sinnlosigkeit. Doch angenommen selbst, daß sie nicht völlig phantastisch sei, so beweisen doch gewisse Überlegungen bündig, daß sie im besten Falle nur einen winzigen Teil der Wahrheit in sich bergen könnte.

Die inhaItliche Zergliederung der Ferngesichte selbst nämlich lehrt uns, daß diese Gesichte zwar die Wahrheit, aber nicht die Wirklichkeit selbst darbieten, und daher überhaupt nicht als 'objektive' Wahrnehmungen von Gegenständen angesehen werden dürfen. Sie erweisen sich damit als Erzeugnis der Seele in viel tieferem Sinne, als nach landläufiger Theorie die normale Wahrnehmung selbst ein solches ist.

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