Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 283)
 
Ich verweile nicht bei Halluzinationen (und Illusionen) der sog. 'niederen' Sinne, deren Erkenntniswert natürlich nur ein dürftiger sein kann [1] noch auch bei den einfachsten Formen von Geschautem, wie jenem Wahrnehmen von 'Licht', welches die geistliche Erregung (auch der Bekehrung) so häufig begleitet,

wobei sich das Subjekt vorübergehend in eine Art von 'innerem' Licht getaucht, oder von einem äußeren Licht umstrahlt glaubt, das etwa auch einen geschlossenen Raum zu erhellen scheint: die Lokalisation ist meist unbestimmt, der Glanz selbst von unvergleichlicher, kaum zu beschreibender Art.

Ein Prediger z.B. vermeint während eines ernsten Gebetes, das für ihn der Beginn eines 'neuen Lebens' wird, das Zelt, in dem er kniet, sei in Brand geraten. [2] Selbst der scheinbare Erkenntnisgehalt ist hier offenbar äußerst gering.

Der Gläubige mag allenfalls annehmen, er sei in den Himmel entrückt, oder der Morgenglanz der Ewigkeit umstrahle ihn, wie denn z.B. Marie de l'lncarnation, als sie gelegentlich des Genusses der 'Ruhe in Gott' ein sonnenhaft blendendes Licht von unerträglicher Helligkeit in ihrer Seele erlebt, sich selber fragt, ob es wohl möglich sei, daß man im Himmel Gott ausgiebiger schmecke. [3] Im allgemeinen verleihen aber erst weitere Inhalte diesen Erlebnissen Erkenntnischarakter.

Diese Inhalte wachsen oft gewissermaßen aus dem Lichterlebnis hervor: inmitten des Glanzes erscheint nachträglich ein Bild, eine Gestalt. Was alles da erscheinen mag, in Listen zu bringen, verlohnt sich kaum der Mühe. Man weiß es ja: die ganze geglaubte Welt der unsichtbaren Mächte, zuweilen in symbolischer Gestalt, doch meist in deutlichsten Formen anthropomorphen Denkens, zieht vor den Augen des Begnadeten vorüber.

Gottvater selber zeigt sich als alter Mann oder auch als Jüngling [4], der heilige Geist als Taube [5] - eins der fruchtbarsten Mißverständnisse biblischer Worte -, die göttliche Weisheit in Gestalt eines himmlischen Weibes, der göttliche Sohn auf allen Stufen seines Heilandslebens, als Kind, als Leidensmann, als Herrscher der Himmel.

Selbst den Schafspelz und die Bastschuhe des russischen Bauern verschmäht er nicht, wo diese Gewandung dem Fassungsvermögen der Heimgesuchten angemessener ist; wie dem der greisen Silantjewa, die neben ihm, 'hinter dem Ofen', auch noch das 'Mütterchen-Gottesmutter' wahrnimmt, 'in roter seidener Haube, weißem Hemde aus Mitkai und blauem Sarafan'. [6]

Dem Katholiken insbesondere steht nächst den göttlichen Personen ein himmlischer Hofstaat von unübersehbarer Fülle zur Verfügung. Die Erscheinungen der Maria allein könnten Stoff zu einer Monographie geben, [7] die der Engel und - noch zahlreicher - der

[1] S. zn. Görres II 89 (üb. Ida v. Loewen); Angela 142: die Hostie als 'Fisch' oder 'Fleisch' geschmeckt.
[2] Dyer 76; vgl. 109. Häufig bei den Chlysten: Grass 277. Vgl. natürlich Apgesch. 9. 3. 4.
[3] Chapot I 136.
[4] z.B. Ribet II 17 (Osanna v. Mantua).
[5] S. z.B. S. Teresa I 378 (c. 38).
[6] Grass 172.
[7] Ihre Offenb. im 12.-14. Jahrh. bei St. BeisseI, Gesch. der Verehrung der Maria in Deutschland während des Mittelalters 278ff.


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 284)

Heiligen zu einer noch umfangreicheren. Endlich ließen sich die zahlreichen Gesichte anschließen, die das Reich der Finsternis und seine Scharen abbilden.

Der Erkenntnischarakter solcher umrissener Einzelgesichte liegt natürlich vor allem darin, daß sie für den Gläubigen die Wirklichkeit des Geglaubten steigern: er hat Gott, den Heiland, den Heiligen 'gesehen'; da er an die Wirklichkeit dieses Sehens glaubt, braucht er an die Wirklichkeit des Gesehenen nicht länger nur zu glauben.

Er hat aber auch nunmehr 'näheres' über die geglaubten Gestalten erfahren, weiß, wie sie 'aussehen', kennt sie hinfort 'von Angesicht zu Angesicht'. [1] Oder das Gesicht verbindet sich mit einem 'Verstehen', das scheinbar über seinen unmittelbaren Inhalt binausführt: zu Ratisbonne spricht die lichtumstrahlte Madonna zwar nicht, 'aber ich verstand alles'.

(Doch geraten wir damit offenbar in jenes dritte Gebiet der mystischen Erkenntnisse, das ich gesondert zu behandeln vorhabe.) Oder aber die Vision gewinnt dadurch vertiefte Erkenntnishaftigkeit, daß sie in einem als entscheidend empfundenen Augenblick des persönlichen Lebens oder der religiösen Entwicklung eintritt.

Erscheint der Heiland etwa an einem Sterbebett oder bei einer Totenfeier dem Überlebenden, so verbürgt sein Auftreten diesem das Dasein einer Welt jenseits des Grabes, oder die Erlöstheit des eben Verlorenen, auch wenn die Erscheinung dies nicht noch ausdrücklich versichert. [2]

Vor allem die Gesichte während der Erweckungskrise selbst leiten hieraus ihren Erkenntnischarakter für das Bewußtsein des Subjektes her, selbst wenn sie von aufdringlich symbolischer Artung sind. [3]

Der Erkenntnischarakter aller solchen Schauungen für den Gläubigen nimmt natürlich noch bedeutend zu, wenn sie aus ihrer Vereinzelung herauswachsen; wenn sie die Gestalten in einen geschauten Ablauf von Ereignissen oder in die Umgebung einer jenseitigen Örtlichkeit hineinstellen, oder wenn sie mehrere Sinne in Mitleidenschaft ziehen.

So haben einzelne Begnadete die Kindheit Jesu [4] oder sein ganzes Leben [5] oder das der Jungfrau Maria [6] während längerer Zeit in geordneten Reihen von Bildern geschaut und damit im Urteil der Gläubigen 'geschichtliches Wissen' geliefert, das als Ergänzung der kanonischen Offenbarung gelten durfte. -

Bei der Ausdehnung der Erfahrungen auf mehr als den Gesichtssinn muß natürlich das Gehör eine besondere Rolle spielen, denn die 'Audition' besteht ja meist in Worten, und nichts kann schließlich lehrhafte Inhalte eindeutiger und ausführlicher übermitteln, als geformte Sprache.

Zur Veranschaulichung mag ein Beispiel aus neuerer, nicht kirchlicher Umgebung dienen. J. W. Evarts, amerikanischer Grenzpionier um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und ein Mann von mitleidig-menschlicher Gemütsart, hatte eine

[1] S. Grass 172 üb. die Silantjewa.
[2] Wie in dem Falle bei Splittgerber, Leben 187.
[3] z.B. M'Ilwaine 185; M'Nemar 67.
[4] de Rambuteau. St. Francoise Romaine (Par.) 177 ff.
[5] Emmerich II 502ff.
[6] Görres II 349ff. üb. Maria v. Agreda; ähnlich Ribet II 46.


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 285)

kampffrohe Knabenzeit hinter sich, als im Alter von 20 Jahren ihm die große Vision seines Lebens zuteil wurde.

Eines Tages im Walde bei der Holzfällerarbeit, während er sein Mittagsbrot verzehrte, erschienen ihm, von einem 'breiten goldenen Glorienschein' umgeben, drei Gestalten, von denen sich die eine als Christus, die beiden andern als Paulus und der Täufer vorstellten und die ihm die bedeutsame Mitteilung machten (verbrieft in einer 'Rolle'), daß wir 'alle Menschen seien', und ihn behufs weiterer Belehrung auf Appolonius (sol), Philo, Heillel (sol), Hillaire, Eusebius, Gieke (!) [1], das Neue Testament, soweit es mit der Vernunft vereinbar sei, und die religiösen Überlieferungen von Syrien, Persien, Indien und der koptischen Rassen verwiesen.

Sie warnten ihn vor allen Theologien und eiferten gegen die Greueltaten der Kirchen, u.a. 'in Bartholomew, in Smithfield' und andern Orten. Auf die Frage, ob es einen Gott gebe, antwortete ihm Jesus: 'Steht nicht im göttlichen Gesetz geschrieben: Ihr seid Götter?

Diese Antwort muß genügen, bis das Unendliche Allen offenbart ist.' Während dieser in natürlichem Ton und gutem Englisch geführten Reden behauptete Evarts sich in 'ganz normalem Zustande' befunden, sogar sein Wachsein geprüft zu haben. [2]

In der Richtung auf die jenseitigen Örtlichkeiten hin erstrecken sich die Gesichte zunächst in die Fernen des Weltraums, dann, über die letzten Pfähle der sichtbaren Welt hinaus, bis zu den Wohnsitzen der Abgeschiedenen: Hölle, Fegefeuer oder Himmel, so die Wirklichkeit der jenseitigen Welt mit größter Unmittelbarkeit verbürgend.

Hier ist, dem Reichtum der Inhalte entsprechend, meist auch der Bewußtseinszustand ein ausgesprochen abnormer: der Seher ist aus Zeit und Raum gelöst, der Körper seinem Wissen entsunken.

Schon Bekehrungsgesichte wachsen sich nicht selten in dieser Form aus, wie etwa die Berichte über die Erweckung in Kentucky (1802) erkennen lassen.

Die Seher glaubten außerhalb des Leibes zu sein, mit den Geistern ihrer verstorbenen Freunde zusammenzutreffen und deren wechselndes Schicksal in der andern Welt zu erfahren, oder sie mischten sich unter große Menschenmassen derer, die im vergangenen Jahrhundert sich zur Religion bekehrt hatten

und das neue Jerusalem erwarteten, oder sie sahen die heilige Stadt und hörten die Gesänge der Engel, und der Eintritt in die Scharen der himmlischen Zeugen durchdrang ihnen Seele und Leib mit einem eigentümlichen Wohlgeruch, der 'alles, was sterblicher und fleischlicher Natur ist, unleidlich erscheinen ließ, da nichts auf Erden diesen Wohlgeruch an sich trug'. [3]

Beträchtlichen Anschauungsstoff könnte hier schon die Mystik der primitiven Völker liefern, denn das Reisen ins Jenseits in künstlich erzeugter Ohnmacht hat von jeher zu den gewerblichen Obliegenheiten der Schamanen und 'Zauberer' gehört. Wie ein Erbe dieser urtümlichen Gepflogenheiten ragt in neuere Zeiten unseres Erdteils der Glaube der 'Hexen' hinein, daß sie in ekstatischen Zuständen, gelegentlich durch

[1] Offenbar Geikie.
[2] J.W.E. Light of Life. Mystery unveiled by a personal visit of Christ (Oklahoma City 1909). Der Vorgang gleicht im Grunde den berühmteren Erfahrungen Muhameds (S. z. B. Muir 53.55).
[3] M'Nemar 66; vgl. Gibson 221f.


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Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 286)

pharmakologische Mittel gefördert, 'Exkursionen' [1] ausführen könnten, während derer sie mit Wesen der unsichtbaren Welt, wenn auch meist in diesseitiger Umgebung, zusammenträfen. Sie glaubten dann den eigenen Leib zu verlassen und an einen Ort entführt zu werden, wo sie, mit vielen Genossen zusammen, einem satanischen Wesen in Gestalt eines schwarzen Mannes mit feurigem Gesicht, eines gehörnten Ungetüms, einer großen schwarzen Katze, eines Ziegenbockes, oder sonstwie geformt, ihre Ehrfurcht bezeugten. Man speiste, ohne das Gefühl der Sättigung zu empfinden, man tanzte, vor allem aber pflog man fleischlichen Umgang mit dem Teufel. [2]

Wie hier der irdische Schauplatz zwar nicht verlassen, aber mit Wesen der jenseitigen Welt bevölkert wird, so bieten meist auch die 'Reisen' auf ferne, wiewohl stoffliche und sichtbare Weltkörper das soz. jenseitige Interesse, daß sie die Seher mit Wesen von außermenschlicher Art in Berührung bringen. Solche visionäre Reisen sind durch Flournoys glänzende Untersuchung der Erfahrungen seines Genfer Mediums berühmt geworden, [3] waren aber schon in der schönen Zeit der deutschen Somnambulen sehr im Schwange gewesen. [4]

Die zahlreichen Berichte über solche Planetenreisen deuten indessen an, wie sehr im allgemeinen das kosmologische Interesse der schauend Exkurrierenden hinter dem menschlichen und religiösen zurücksteht, sie suchen in erster Linie auch im Weltraum das Lebende, und zwar (entsprechend vielfach herrschenden Vorstellungen) die Spuren einstiger Erdenwesen, die ja in allerhand die Erde umlagernden Sphären, wo nicht gar auf anderen Planeten hausen sollen.

Der beherrschende Wunsch aller derer, die zeitweilig 'ihren Leib verlassen', ist stets gewesen, etwas über den Zustand der Menschen im Jenseits zu erfahren und wenn möglich die geglaubten göttlichen Wesen von Angesicht zu Angesicht, gleichsam bei sich zu Hause zu schauen.

Diese ausgesprochen spiritistisch-theologische Exkursionsmystik schiebt die Wurzeln ihrer Geschichte natürlich auch in graue Vorzeit zurück. [5] Eine der berühmtesten Himmel- und Höllenreisen der klassischen Zeit ist in dem Bericht beschrieben, den Thespesios von Soli dem Protogenes und anderen Freunden über die Dinge erstattet haben soll, [6] die ihm während eines 'dreitägigen, durch einen schweren Sturz veranlaßten Scheintodes zu Gesicht gekommen’ waren, und wiewohl sich die Authentizität des Berichtes nicht bestimmen läßt, so fallen doch, neben viel Phantastischem, auch Übereinstimmungen in typischen Einzelheiten mit modernen Parallelfällen

[1] Der Ausdruck nach Myers.
[2] Calmeil I 229. 285. 289f. 319f. 328ff. 436. 440. Viel Material bei Görres V.
[3] Vgl. etwa die Sitzung vom 25. Nov. 1894 (Des Indes 141 f.); Sara Weiss, Journeys to the Planet Mars, 2. Aufl. (N. Y. 1905) u. Mathieu C. ... in AMP XVIII (1903) 275.
[4] S. z.B. Römers Somn. (bei Perty, M. E. I 248ff.); die Ph. Bäuerle (das. 308f.); den Knaben von Oelse (das. 335); Kretschmars Mad. W. (in ATM XII, I 22); Werners R. (Werner 523f.).
[5] Antike Beispiele bei W. Bousset, Die Himmelsreise der Seele, in AR IV (1901) 136ff., 229ff.; Söderblom 106.
[6] Bei Plutarch, De sera numinis vindicta c. 22.


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 287)

auf, die für uns noch Interesse gewinnen werden, und sichern ihm damit gerade seines Alters wegen einigen Wert.

Thespesios erzählt, daß nach seinem Sturz seine 'natürliche Seele' den Leib in einiger Verwirrung verlassen, dann aber sich aufgerichtet habe, und daß 'plötzlich sein ganzes Ich zu atmen geschienen' und nach allen Seiten sich umgesehen habe, 'als hätte sich die Seele wie ein einziges Auge aufgetan'.

Auf diese Weise sah er 'die ungemein großen Gestirne in ungeheurer Entfernung voneinander, begabt mit wunderbarem Glanze und Getön, während seine Seele sanft und leicht, wie in einer Windstille, von einem Lichtstern getragen in allen Richtungen hinglitt’. ...

Auch erblickte er die Seelen der eben Verschiedenen, die aus dem Erdkreis heraufstiegen; jede bildete eine flammenartige Blase, aus der, wenn sie zerriß, die Seele ruhig hervorging, in schöner menschlicher Gestalt... Zwei oder drei erkannte er als seine Verwandten und wollte sie anreden, doch hörten sie ihn nicht, weil sie nicht bei sich waren...

Die Seele eines Verwandten erklärte ihm, ... er sei noch nicht gestorben, sondern nach einem besonderen Ratschluß der Götter mit seinem verständigen Geist hierher gekommen; die andere Seele habe er wie einen Anker im Körper zurückgelassen... Thespesios bemerkte, daß einige der Seelen in einem reinen Lichte schienen, andere trugen Flecken wie Schuppen an sich, und wieder andere waren völlig mit solchen bedeckt.

Darauf führten ihn einzelne Seelen durch alle Gegenden der jenseitigen Welt, erklärten ihm die geheimnisvollen Fügungen und Leitungen der göttlichen Gerechtigkeit, warum manche schon in diesem Leben gestraft worden, andere nicht, und zeigten ihm alle Arten von Strafen, die im Jenseits den Gottlosen zuteil werden; wie Einigen die Eingeweide herausgerissen, Andere geschunden wurden,

Andere wieder sich gegenseitig verschlangen, noch Andere in Seen von kochendem Gold oder kaltem Blei gestoßen wurden. Zuletzt sah er noch solche, die für ein zweites Leben vorbereitet, d.h. mit Hammer und Amboß in allerlei Gestalten umgewandelt wurden. Als er von dannen eilen wollte, ergriff ihn eine Frau, wunderbar an Aussehen und Größe, und sprach:

Komm her, damit du alles behältst. Währenddem langte sie ein glühendes Stäbchen hervor, als eine andere Seele ihn befreite und er plötzlich, wie von einem Sturmwind fortgerissen, in seinen Körper zurücksank. Er war zu sich gekommen, während man sich anschickte, ihn zu begraben.

Wir erfahren bezeichnenderweise, daß Thespesios, der vordem ein ausschweifendes und niederträchtiges Leben geführt hatte, durch dieses Erlebnis eine Art von Bekehrung erfuhr: auch habe ihm das Orakel prophezeit gehabt, er würde 'besser werden, wenn er stürbe'. [1]

Ein reiches Wirkungsfeld gelehrigen Glaubens haben natürlich stets die Jenseitsgesichte gefunden, die von Angehörigen großer kirchlicher Gemeinschaften mitgeteilt wurden, zumal von Personen, die aus sonstigen Gründen besonderes Ansehn genossen. Die häufigen Ausflüge katholischer Heiliger ins Fegefeuer, in die Hölle und an die Orte der Seligen galten für Millionen von Gläubigen als klassische Zeugnisse. [2]

S . Franziska Romana - um ein Beispiel aus vielen zu geben - hatte während einer Meditation über die Sünden der Menschheit eine Erscheinung des Erzengels

[1] Vgl. hierzu o. S. 103 über Bekehrung in der Ekstase.
[2] Vgl. schon in frühchristl. Zeit die Vision des Paturus, bei Weinel 203f.


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 288)

Raphael, mit dem sie nach weiter Reise durch den Raum an den Rand eines furchtbaren Abgrunds gelangte, über dessen Schlund sie die Worte las: Hier ist die Hölle, darin nicht Ruhe, noch Erbarmen, noch Hoffen ist. Der Engel erklärte ihr, daß Gott ihr einen neuen Sinn gebe, 'um das Unsichtbare zu sehen, um das Unbegreifliche zu begreifen'.

Dann überschaute sie die verschiedenen Abteilungen der Hölle, in deren dritter und schrecklichster das ewige Feuer brennt, das alles verschlingt, ohne es zu verzehren, und worin die Dämonen ihre quälerischen Künste üben. 'Das Gedächtnis (der Verdammten)', sagt die Heilige, 'ist ewig gemartert von Gewissensbissen.'

Es wurde ihr auch offenbart, daß am Tage des jüngsten Gerichts, wenn die Seelen ihre Leiber zurückerlangen, ihre Qualen sich noch vermehren würden. Danach sah sie die besonders gearteten Qualen krassester Art, mit denen jedes einzelne Laster heimgesucht wird, und im lnnern der Hölle Satan selbst auf feurigem Thron.

Was sie schaute, konnte später nach ihren Angaben auf den Klosterwänden von Tor de' Specchi abgemalt werden. Sie selbst vermochte stets nur mit Zaudern und Zittern davon zu reden.

S. Franziska Romana durchreiste in Gesichten aber wiederholt auch die Himmel. Im ersten, den sie den gestirnten nennt, machte sie die Beobachtung, daß das Blau des Firmaments auf einer Täuschung der geblendeten Augen beruhe, daß viele Sterne die Erde an Größe überträfen und daß unermeßliche Zwischenräume sie trennten.

Der dritte Himmel ist der Ort, an dem die Auserwählten die Gottheit beschauen: sie hörte entzückt die Chöre der Seligen, die das reine Licht der Liebe preisen. Im Himmel sind die Heiligen unter die Scharen der Engel verteilt und in Hierarchien, diese wieder in Chöre geteilt.

S. Franziska sah gelegentlich diese Armee in Gruppen vorüberziehen, eine jede unter ihrem Führer und mit ihrer Standarte: voran die Patriarchen und Propheten unter der Führung des Täufers, S. Peter führte die Apostel, S. Stephan und S. Laurentius gingen den Märtyrern voran, S. Gregor den Doktoren, S. Benedikt den Klosterleuten usw.

Jeder der Führer sang einen Lobgesang dem Lamme. Jede neu ankommende Seele wird nach dem Maß ihrer Heiligkeit einem dieser Chöre zugezählt und von ihnen im Triumph empfangen. Die Schauende selber fühlte sich den Seraphim beigezählt. In dieser Region der reinen Liebe empfand sie eine durchdringende Wärme, die sich bis zu den niederen Rängen der Seligen ausbreitete.

'Eine solche Glut', sagte ihr ein Seraph, 'entflammt, ohne zu verzehren, sie berauscht deine Seele, bis sie nicht mehr weiß, was sie tut. .. Wird diese arme Seele gezwungen, wieder zur Erde hinabzusteigen, so kann sie nur mit Schmerz sich dazu entschließen'. Und damit drückt er aIlerdings eine Erfahrung aus, die fast Alle ausgesprochen haben, die aus den Höhen solcher schauender Erlebnisse ins nüchterne Tagesbewußtsein zurückgekehrt sind. [1]

Mitunter mischen sich, wie schon die Vision des Thespesios andeutete, soz. individuell-spiritistische Züge in diese Gesichte.

Die mehrfach erwähnte Marie von den Engeln 'sah die heilige Jungfrau mit den Verdiensten ihres göttlichen Sohnes ins Fegefeuer hinabsteigen, wo eine unzählbare Menge von Schutzengeln für die Seelen eintraten, die sie unter ihrer Obhut

[1] Bei Rambuteau, aaO. 118ff. 185ff. Verwandtes in S. Bonüacii Epist., ed. Serrarii (Magunt. 1629), Ep. 21; Bedas Rist. Eccles. I. 5 c. 13; Zoepf 175ff; Gichtei. Leben 113.


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Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 289)

gehabt hatten; unter diesen Seelen sah sie einen Prior des Karmeliterordens und mehrere Nonnen des Klosters der hl. Christine, die vor einigen Jahren gestorben waren, welche die Jungfrau mit sich im Triumph zum Himmel führte. .. Unter diesen Nonnen war eine, welche Priorin der Schauenden gewesen war und sie jetzt ansprach, ihr für ihre häufigen Gebete dankte und ihr auftrug, auch einer ihrer Mitschwestern dafür zu danken. [1]

Die Fruchtbarkeit an solchen Visionen großen Stils beschränkt sich übrigens nicht auf das Gebiet des Katholizismus: die protestantischen Kirchen haben ihr zwar nicht durch Heiligsprechung der Schauenden und Anerkennung ihrer Offenbarungen die gleichen Verlockungen geboten, doch sind die natürlichen Quellen dadurch nur wenig eingedämmt worden.

Bekannt als Beispiel eines Ausflugs durch Hölle und Himmel ist das Gesicht des Hans Engelbrecht, eines 1599 zu Braunschweig geborenen Tuchmachergesellen und anscheinend geborenen Neuropathen.

Nachdem ihm eifriges Beten keine Erlösung von dieser Welt der Leiden verschafft hatte, verfiel er in eine schwere, entkräftende Krankheit (vermutlich hysterischer Natur), während deren er unter Seelenangst und Körperschmerzen eine Woche lang ohne Nahrung blieb und schließlich anscheinend zum Sterben kam: nach und nach völlig gelähmt und ohne Wahrnehmung (zunächst mit Ausnahme des Gehörs), lag er erkaltend da.

'Sobald sich (auch noch) das Gehör verloren hatte, däuchte ihm, er würde mit dem ganzen  Leibe aufgenommen und weggeführt, schneller als ein Pfeil vom Bogen, und er ward im Geist geführet vor die Hölle; da sah er eine schreckliche, große, dicke Finsternis, es war da solch ein... Dampf und Stank, ... daß er mit keinem Dampf und Stank in der Welt zu vergleichen, in der Finsternis hörte er . .. so garstige,  greuliche Stimmen, ... die riefen also:

0 ihr Berge, fallet über uns, und ihr Hügel,  bedecket uns, auf daß wir doch nicht mögen gestellt werden vor das Angesicht des Herrn und verdammt sein in alle Ewigkeit. .. (Dabei) setzten ihm viel tausend Teufel zu, er müßte auch ein verlorener, verdammter Mensch sein; da sprach er in seinem Geist:

Ob mich denn nun gleich mein Herz und alle Teufel verdammen  wollen, so kannst du, lieber Herr, himmlischer Vater, mich gleichwohl nicht verdammen von wegen deiner großen unaussprechlichen Liebe. Da er nun also sprach, da verschwand die Finsternis, der Stank verging, die Stimmen wurden stille und der heilige Geist erschien ihm da und führte ihn in das helle Licht der göttlichen Herrlichkeit; da sah er die Chöre der heiligen Engel und die Chöre der Propheten und Apostel um Gottes Stuhl singen und klingen mit himmlischen Zungen und Musika.

Da ward ihm nun von Gott durch einen heiligen Engel befohlen, er sollte wieder in die Welt gehen und den Leuten verkündigen, was er gesehen und gehöret hätte, auch ward sein Verstand erleuchtet, die ganze Bibel zu verstehen, und ihm eigentlich anbefohlen, was er den Menschen vornehmlich sagen sollte, nämlich, daß sie sollten von Herzen Buße tun, an Jesum Christum glauben mit einem lebendigen Glauben, der sich in der Liebe dartue und beweise. ..

Hierauf ward er wieder aus der Klarheit geführt und es däuchte ihm, er würde wieder mit seinem ganzen Leibe auf sein Lager gelegt, und fing wieder an zu hören, danach

[1] Labis 182. Kirchlich-kultisch gefärbte Himmelsvisionen s. S. Alphonse Rodriguez 8ff. 74; vgl. Görres II 241 (Beatrix v. Nazareth).


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 290)

begann er seine Augen auch zu fühlen' und in den nächsten 12 Stunden kehrte das Leben allmählich in seine Glieder zurück. [1]

Ein Beispiel aus protestantischer Umwelt von bloßem Schauen Gottes inmitten der Bewohner des Himmels liefert William Tennent, der dem Verfasser seiner Lebensgeschichte das Folgende über die Gesichte mitteilte, die er während eines dreitägigen Trans zur Zeit eines Krankenlagers hatte.

'Während ich mit meinem Bruder den Zustand meiner Seele und meine Befürchtungen betreffs meines jenseitigen Wohlergehens besprach, fand ich mich ganz plötzlich in einem andern Daseinszustande, unter der Führung eines erhabenen Wesens, das mir zu folgen gebot.

Ich ward also schwebend dahingetragen, ich weiß nicht wie, bis ich in der Ferne einen unbeschreiblichen Glanz gewahrte, der auf meinen Geist einen Eindruck machte, den ich auf keine Weise einem Sterblichen mitteilen könnte. ..

Ich sah eine unzählbare Schar von seligen Wesen, die jenen unbeschreiblichen Glanz umgaben, mit Äußerungen der Anbetung und freudigen Verehrung, aber ich sah keinerlei körperliche Gestalt oder Bild in der erhabenen Erscheinung.

Ich hörte unaussprechliche Dinge,... Gesänge und Hallelujas des Dankes und Lobes, voll unsagbarer Entzückung, und empfand unaussprechliche Wonne. .. Darauf wandte ich mich an meinen Führer und bat um die Erlaubnis, mich unter die selige Schar zu mischen; er aber berührte meine Schulter und sprach:

Du mußt zur Erde zurückkehren. Dies ging mir wie ein Schwert durchs Herz. Alsbald sah ich - wie ich mich entsinne - meinen Bruder vor mir stehen, der sich mit dem Arzt besprach. Die drei Tage, während welcher ich anscheinend ohne Leben gewesen, erschienen mir nicht länger als 10 oder 20 Minuten.

Der Gedanke, in diese Welt der Schmerzen und Mühen zurückkehren zu müssen, verursachte mir eine solche Erschütterung, daß ich mehrere Male in Ohnmacht fiel.' [2]

Der nächste merkwürdige Bericht ist noch jüngeren Datums. Er stammt aus der Feder eines langjährigen Lokomotivführers, namens Skilton, und etwas von der gewohnten Sachlichkeit und Genauigkeit des Mechanikers ist augenscheinlich der Erzählung zugute gekommen.

Skilton 'war eines Tages etwa um 7 Uhr nachm. mit zwei Andern beschäftigt, einige immergrüne Bäume aus einem Güterwagen auszuladen. Sie waren groß und schwer und eine ziemliche Menge Güter war nach ihnen in den Wagen verladen worden, so daß es notwendig war, einiges davon herauszunehmen.

Ich öffnete die Wagentür, als ein Faß mit Eiern auf den Boden herabfiel, und in demselben Augenblick sah ich eine Person von mittlerer Größe zu meiner Rechten stehen, in Weiß gekleidet, mit strahlendem Angesicht von intelligentestem Ausdruck. Ich wußte augenblicklich, was sie wollte, obgleich sie ihre Hand auf meine Schulter legte und sagte: Komm mit mir.

Wir bewegten uns mit Blitzesschnelle soz. aufwärts und ein wenig gegen Südost; ich konnte die Höhen, Bäume, Gebäude und Straßen sehen, während wir nebeneinander aufstiegen, bis sie unserm Gesicht

[1] In G. Arnold, Das Leben der Gläubigen... (Halle 1701) 621ff.; Die geistliche Fama II 13. St. 105. Hier gekürzt. Ähnliche Fälle: Arnold III 215 ab. 229b f. 244ff.; PS XXXIV 669f.
[2] Memoirs of the Life of the Rev. Will. Tennent... [1822] (Repr. Glasgow 1892) 22f. Vgl. die Erfahrung des Quäkers J. Lindley in Hoppers Life... 258, u. die des Cevennois Compan bei Murisier 136 Anm.


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 291)

entschwanden. Während wir uns fortbewegten, sagte mir das himmlische Wesen, das bei mir war, daß es mir die strahlende Himmelswelt zeigen würde. Wir kamen bald in eine Welt des Lichtes und der Schönheit, viel tausendmal größer als diese Erde, mit mindestens viermal so viel Licht. Die Schönheiten dieses Ortes kann kein Mensch beschreiben.

Ich saß beim Baume des Lebens auf einem viereckigen Höcker von - wie mir däuchte - grünem, samtenem Moose, etwa 18 Zoll hoch; dort sah ich viele Tausende von Seelen in Weiß gekleidet, himmlische Gesänge singend; . . . es war der süßeste Gesang; den ich je gehört. ..

Sie unterhielten sich nicht in Lauten, sondern Jeder kannte augenblicklich die Gedanken des Andern, und Gespräche wurden in dieser Weise auch mit mir geführt. - Nachdem ich eine Zeitlang die wunderbaren Schönheiten des Ortes betrachtet, .. . wünschte ich meine liebe Mutter zu sehen, zwei Schwestern und ein Kind, das mir einige Zeit zuvor gestorben war.

Die Bitte wurde alsbald gewährt, aber es war mir nicht erlaubt, mit ihnen zu reden. Sie standen in einer Reihe vor mir, ich blickte sie an und schätzte bedächtig den Abstand, der uns trennte, auf 30 Fuß... Etwa um diese Zeit sagte mein Begleiter mir, daß wir zurückkehren müßten; ich wünschte zu bleiben, aber er sagte mir, daß meine Zeit noch nicht gekommen sei...

Darauf machten wir uns auf den Rückweg und verloren jenes himmlische Land bald aus den Augen. Als wir in den Gesichtskreis dieser Welt kamen, sah ich alles wie aus einer großen Höhe, die Bäume, Häuser, Hügel, Straßen und Flüsse, so natürlich wie nur möglich, bis wir zu dem Güterwagen kamen, dessen Tür ich geöffnet hatte, und ich mich dort im Leibe vorfand und (der Führer) meinen Augen entschwand.

Darauf sagte ich (gerade während ich meine Uhr öffnete und bemerkte, daß ich genau 26 Minuten mit jenem Geheimnisvollen gewesen war), daß ich geglaubt hätte, diese Welt endgültig verlassen zu haben.

Einer der Männer sagte: 'Mit Ihnen ist etwas los seitdem Sie die Wagentür öffneten; wir haben nicht ein Wort aus Ihnen herausbringen können', und daß ich die ganze Arbeit getan, alles ausgepackt und wieder in den Wagen zurückgestellt hätte, darunter 8 Säcke Mehl allein vom Boden in den Wagen gehoben, 3 1/2 Fuß hoch, mit der Leichtigkeit eines Riesen.

Ich sagte ihnen, wo ich gewesen und was ich gesehen, aber sie hatten niemand bemerkt.' Skilton versichert, daß er zur Zeit dieses Gesichts bei 'guter Gesundheit und mitten am Tage völlig wach und bei Sinnen' gewesen sei, sein Geist nicht mehr als sonst mit den großen Fragen des ewigen Lebens beschäftigt’.[1]

Neben den häufig wiederkehrenden Einzelheiten des Führers im Jenseits und der Rücksendung in die Welt gegen den Willen des Sehers bemerken wir hier zuerst die Eigentümlichkeit, daß die sinnliche Umgebung des Schauenden anscheinend in räumlicher Fortbewegung verlassen, dementsprechend zuerst noch wahrgenommen, dann aber aus den Augen verloren und erst vor der 'Rückkehr in den Leib' wieder wahrgenommen wird.

Eine überreiche Ernte jenseitsmalender Gesichte hat auch der neuere Spiritismus gebracht, der natürlich ein starkes Interesse haben mußte, Näheres über die dauernden Aufenthaltsorte und Beschäftigungen der 'Geister' zu erfahren, die er für kurze Stunden der Besessenheit an seine Medien gebannt fand. Die 'Kontrollen' ließen sich meist ohne

[1] Pr XI S6of.


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Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 292)

Schwierigkeiten dazu herbei, ihre Medien durch die verschiedenen 'Sphären' zu führen, in denen sich die Schicksale verblichener Erdenbürger abspielen sollen. Die Masse des darüber Veröffentlichten ist viel zu groß, um den Versuch einer geordneten Übersicht zu erlauben.

Typisch für viele Gesichte der Geisterwelt ist die Entführung des Schauenden in eine wundervolle Landschaft, sonnig grünend, blumengeschmückt, das berühmte 'Sommerland' der Spiritisten, ein Nachklang der alten Vorstellungen von elysischen Gefilden oder Inseln der Seligen. [1] Als ein Beispiel mag die Erfahrung dienen, welche der sorgfältig aufzeichnende W. Stainton Moses unter dem 25. Januar 1874 beschreibt.

Er saß am frühen Nachmittag schreibend an seinem Tische, entsann sich später nicht, mit Schreiben aufgehört zu haben, und stellt aufs bestimmteste in Abrede, eingeschlafen zu sein. 'Das erste, dessen ich mich erinnere, war, daß ich neben meinem Körper stand und ihn anblickte... Der Geistleib schien sich getrennt zu haben und ein unabhängiges Dasein zu führen.

Während ich noch schaute, ward ich mir der Anwesenheit des Propheten [2] bewußt, der neben mir stand. Er war in Safirblau gekleidet und trug auf dem Haupt einen Kronreif mit einem sehr hellen Stern in der Mitte über der Stirn. ...

Er hieß mich ihm folgen. Ich erinnere mich sehr wohl der Seltsamkeit meiner Gefühle, als ich entdeckte, daß die Wand des Zimmers keine Schranke für mich bildete. Wir verfolgten ungehindert unsern Weg, bis ich bemerkte, daß wir uns inmitten einer wunderbar schönen Landschaft befanden.

Wie wir dahin gelangt waren, weiß ich nicht, vielmehr schien es mir, als hätte ich fast plötzlich die Umgebung der Erde mit der Szenerie der Sphären vertauscht. (Es folgt eine Beschreibung der prachtvollen Landschaft.) Ich bemerkte, wie leicht mein bloßer Wille mich dahintrug mit eigentümlich gleitender Bewegung.'

Schließlich fand er in einer kleinen Hütte seine Großmutter Stainton, ganz wie er sich ihrer erinnerte, nur in 'langem, reinem Gewande mit dunkelrotem Gürtel, das Gesicht verklärt'. Sie eilten weiter, doch wird die Folge der Ereignisse nicht recht erinnert, bis er sich wieder am Schreibtisch fand. [3]

Katholizismus, Protestantismus, Spiritismus bilden Gedankenwelten und Lehrkreise von noch heute bedeutendem Ansehn. Es mag für die Blickeinstellung und das Schätzungsurteil einiger Leser ins Gewicht fallen, wenn ich abschließend und in größter Kürze einige ähnlich weitausgreifende Gesichte aus Herkunftsgebieten wiedergebe, die auf ähnliches Ansehen keinen Anspruch erheben können. - Eins dieser Gebiete ist der profane Traum.

Ich finde z.B. bei Splittgerber die Beschreibung eines Morgentraumes, nach durchwachter Nacht in 'festem, tiefem Schlafe' bei einer an 'großer körperlicher Schwäche'

[1] Vgl. z.B. Odyssee IV, 560ff.; Rohde I 69. 76. 104. Bei Ertrinkenden sind Gesichte dieser Art nicht selten: s. z.B. die Originalmitteilung bei Splittgerber, Schlaf, 2. Aufl., II 26.
[2] Eine seiner 'Kontrollen'.
[3] Pr XI 36f. Ähnlich die Beschreibung des Paradieses durch den Mystiker Bromley bei Corrodi III 396ff. Einzelheiten von sonderbarster Erdenhaftigkeit, gewürzt mit jenseitig-utopistischer Zweckhaftigkeit s. z.B. bei Mabel Collins (Mrs. K. Cook) The Awakening (Lond. 1906); Visions of the Beyond, by a Seer of To-day, ed. by H. Snow (Boston 1877); Haddock 193ff. Theosophisch-hermet. Beispiele: Kingsford I 190ff.; II 313.


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 293)

Leidenden eingetreten, der mehrere der typischen Merkmale solcher Exkursionen zeigt: den führenden Geist (hier einen einzelnen Verstorbenen), der zu der Träumerin sagt, er wolle ihr den Ort der Seligen zeigen, das Emporsteigen; als Endszene freilich nur köstliche Landschaften mit lieblich singenden Vögeln, blühenden Blumen, kristallhellen Strömen, die Begegnung mit verstorbenen Bekannten; endlich die Rücksendung auf die Erde, weil 'die Zeit noch nicht gekommen sei'. [1]

Was der Traum leistet, leisten aber auch gewöhnlich noch niedriger bewertete Phasen abnormen Bewußtseins, wie etwa der narkotische Rausch. Mehrere Beispiele hierfür liefert Alphonse Cahagnet, der schon erwähnte gescheite Pariser Schreiner, der über die Aussagen einer größeren Anzahl von Personen unter Haschisch sorgfältige Aufzeichnungen gemacht hat.

Der Abbé A. .. (man beachte die berufliche Zubereitung des seelischen Bodens) glaubt den Himmel zu sehen. 'Welch reizender Aufenthalt, welches Licht', sagt er. 'Wie schön ist alles, was ich sehe! Ich gewahre am Fuße dieser ungeheuren Felsen kleine leichte Kügelchen; welche bis zu diesen unermeßlichen Höhen hinaufsteigen. Man sagt mir, daß dies die Seelen sind, welche zum Himmel emporschweben.

Diese Felsen bilden zusammen einen Turm von prachtvollster Bauart.' Er begegnet einem gelehrten Theologen, mit dem er eine gute halbe Stunde diskutiert; seine Beweisführungen sind logisch scharf und er behält in allem die Oberhand. Dann sieht er schwärzere Seelen, die sich noch läutern sollen. Er unterredet sich mit jemand, den er gelegentlich 'mein Gott' anredet, und staunt über die massenhaften Gedanken, die er in sich vorfindet.

Auch bittet er Gott (ein typischer Zug, nur mit Vertauschung der Rollen), ihn zu den Menschen zurückzuschicken, damit er ihnen das Gesetz verkünde und erkläre. 'Wenn sie wüßten, was ich jetzt weiß!' [2] - Ein anderes von Cahagnet berichtetes Gesicht hat noch großartiger kosmischen Charakter und erinnert an die Lehre von die Erde umlagernden Sphären als Wohnorten der Geister.

Mme. Prichard, die Haschischberauschte, beschreibt eine die Welt vorstellende Kugel, von drei Ringen umgeben, die soz. durch Meere oder schöne blaue Wolken voneinander getrennt sind. Auf jedem Ring leben Millionen von Menschen. Eine unermeßliche Sonne schließt dies alles ein. 'Ich war in der Unermeßlichkeit', sagt sie.

Sie steigt auf die Erde hinab und wieder an einem Rohr in die Höhe, dann längs einer gewundenen Treppe auf eine 'zweite Erde', die von der ersten durch eine Atmosphäre von Licht getrennt ist; endlich auf eine dritte, wo vollkommenste Glückseligkeit herrscht. Die Seelen daselbst haben wiederum die Gestalt von kleinen Kugeln von blendender Weiße und sind alle sehr brüderlich untereinander.

Erst auf der zweiten Erde sieht man Gott in Gestalt einer blendenden Sonne und eines strahlenden Lichtes, aber dort ist man wieder 'in diesem silbernen, weißen, reinen Lichte, in dem Lichte aller Lichter... Mit welchem Widerwillen habe ich die Erde wiedergesehen! Welche Traurigkeit, welche betrübte Seelen, welche Leichname in ihrer ganzen Häßlichkeit sind darauf zu sehen! .....'

Während aller dieser Gesichte hörte sie eine Stimme in ihrer Nähe, die ihr alle geschauten Bilder erklärte, - der uns bereits bekannte 'Führer' des Jenseitsreisenden. [3]

[1] Leben, 2. Aufl. 66f.; auch in Schlaf I 169f. Vgl. den 'Traum' Rogers 12, und den noch mehr an Thespesios' Vision erinnernden PS X 297ff.
[2] Cahagnet, Heil. 161ff.
[3] Das. 174ff.


Kap XXX. Mystisches Erkennen: 2. Gesichte.              (S. 294)

Noch eine Stufe tiefer, wenn man so will, stoßen wir auf die himmlischen Exkursionen der Fiebernden und Geistesgestörten.

Ideler z.B. beschreibt einen Fall von 'Fieberwahnsinn' im Gefolge einer Geburt, in welchem die von Haus aus gesunde Patientin während allgemeiner Zerschlagenheit, Angst und Wüstheit im Kopf zunächst mehrere schnell vorüberziehende Visionen Gottes 'wie in Flammengestalt' hatte, umgeben von verstorbenen und lebenden Bekannten.

Diesen Gesichten, an deren Wahrheit die Kranke noch zweifelte, folgte während zunehmenden halluzinatorischen Fieberdeliers das mehrmalige größere Gesicht eines 'Lichtmeeres', in welchem 'geisterähnliche Gestalten als auferstandene Seelen um einen hellstrahlenden Mittelpunkt, den sie für Gott hielt, herumschwebten, indem sie Lobgesänge im Chor auf ihn anstimmten und ihre Seligkeit priesen, von der auch die Patientin erfüllt war, da sie schon ins Paradies eingegangen zu sein und die Ihrigen zu erblicken glaubte'.

Dieses Schauen wurde von Ideler nach damaliger Gewohnheit hauptsächlich durch Brausen geheilt. [1]

Der Tiefststand himmlischer Schauensseligkeit tritt uns in der Erzählung einer Hysterischen der Salpetrière entgegen, die in kataleptischer Ekstase z.B. folgendes Gesicht hat: Sie sei im Himmel gewesen, inmitten eines blendenden Lichtes. Überall sah sie Moos und kleine Johannesse und 'frisierte' Schafe, strahlende Diamanten u.dgl.

Der Heiland, den sie ebenfalls gesehen, trägt langes gelocktes Haar und einen großen roten Bart, er ist schön, groß, kräftig, ganz von Gold. Die heilige Jungfrau ist vergoldet. Der Heiland hat sie angesprochen, sie kann sich aber seiner Worte nicht erinnern. Sie hat ihm vor Erregung nicht zu antworten vermocht. 'Mir war so wohl da oben, . .. es war so schön.' [2]

[1] Ideler I 127ff.
[2] Aus Iconogr. de la Salpetr. I 22 bei Richer 214. Vgl. die Aussagen des Pat. Math... bei Richer 280 und die der A. Lanois bei Boismont 200 ff., bes. 204.

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