Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XX. Der Komplex des Mystikers: 2. Primitivität?         (S. 188)

Aber solche Züge, die vom ethischen Gebiet mehr oder minder abliegen, gehören nicht bloß dem Kinde an, sondern sind ihm bedeutsamerweise mit gewaltigen Massen Erwachsener gemein: mit dem primitiveren Menschen überhaupt; sie finden sich im Kinde insofern, als dieses nach einem bekannten Gesetz die Entwicklung der Gattung in sich wiederholt.

Bedenkt man vollends, welche Macht gerade die religiöse Einstellung der Welt gegenüber im primitiven Menschen besitzt, so könnte man wohl versucht sein, die soeben erwogene Hypothese in dieser erweiterten Form zu wiederholen. Danach wäre es ein Wiederaufleben nicht so sehr der eigenen Kindheit, als vielmehr des unzerstörbaren rassegeschichtlichen Erbes, was eine Bekehrung zutage förderte und was unter Umständen als neurotischer Komplex den Kampf mit später erworbenem Geistesgut aufnähme. [1]

Die außerordentliche Rolle, die im religiösen Wesen dem ‚Gefühl’ - nicht nur als leidender Reaktion, sondern auch als Führerin von Tun und Erkennen - zukommt, erinnert uns daran, daß eben das Gefühl von unserer herrschenden Entwicklungslehre als der urtümlichste Seelenzustand angesehen wird. [2]

Und der vollentwickelte Erwachsene, sofern er zeitweilig die hell belichtete Maschinerie des Eigendenkens fahren läßt und auf gefühls- oder instinktmäßige Entscheidungen sich verläßt, greift damit vielfach, ohne es zu ahnen, auf Kräfte zurück, die älter sind als er, vielleicht als seine Gattung, ja ihre Wurzeln bis in die Anfänge des Lebens hinabsenken mögen. -

Psychologen haben namentlich auf ein häufiges Element des Bekehrungsvorgangs hingewiesen, das an beherrschende Stimmungen des Primitiven, wie auch des Kindlichen

[1] Feine psychol. Betrachtungen über Gattungsseele bei L. Hearn, Kokoro (Boston 1899) 266ff.; Gleanings from Buddhafields (1898) 91 ff.
[2] S. z.B. ]. M. Baldwin, Feeling and Will 84; Pratt 15-24.


Kap XX. Der Komplex des Mystikers: 2. PrImitivität?         (S. 189)

anzuknüpfen scheinen könnte: Furcht muß im Leben des urtümlichen Menschen, dem die Natur so unbekannt und darum so feindlich war, in der Tat eine außerordentliche Rolle gespielt haben.

Sie hat nach der Meinung Vieler der Mehrzahl seiner Götter das Gesicht gegeben: primius... timor jecit deos. In der Geschichte des religiösen Einzelnen würde die fragliche Hypothese nicht nur die Schrecken der Vorbekehrungszeit und des Durchbruchs z.T. auf jene Erbquelle zurückführen, sondern etwa auch jenes Furchtbare und Ich-Vernichtende - das tremendum [1] -, das dem mystischen Erlebnis so häufig eigen ist.

Die vielbesprochene Verwandtschaft des religiösen Komplexes mit somnambulen u.ä. Phasen würde ferner die mannigfachen primitiven Eigentümlichkeiten dieser letzteren (im gattungsgeschichtlichen Sinne) für unseren augenblicklichen Zusammenhang bedeutsam werden lassen.

Primitiv ist am Seelenleben der Schlafzustände ja schon die tiefere synthetische Lage überhaupt, primitiv ist ihre Suggestibilität, d.i. ‚Gläubigkeit’, primitiv ihre Neigung zu unbedenklichem Ausleben aller Hoffnungen und Wünsche in symbolisierender Bildlichkeit.

Für primitiv, für einen Rückschlag in stammesgeschichtliche Überbleibsel erklärte Metschnikow sogar in leicht durchschaubarer Anspielung die turnerischen Leistungen Nachtwandelnder, und erwähnt vier nahe verwandte Personen, die mit der Neigung zu spontanem Nachtwandeln die Fähigkeit zur willkürlichen Bewegung der Ohrmuscheln verbanden, eine Kunst, die natürlich auch an untermenschliche Vorfahren erinnert. [2]

Die größere Empfindlichkeit für atmosphärische Vorgänge, vielleicht auch die starke Witterung für verborgenes Wasser, die in verschiedenen niederen Bewußtseinslagen beobachtet wird, ließe sich ebenfalls wohlbekannten Fähigkeiten der Tiere und des Urmenschen vergleichen.

Aber selbst aus dem engern Bestande der erwecklichen Praxis läßt sich eine merkwürdige Einzelheit herausheben, in welcher sich die Primitivität ihrer Erzeugnisse anzudeuten scheint.

In Wales ist es oft beobachtet worden, daß die Betenden oder Predigenden bei steigender Erregung plötzlich die Prosa der englischen Rede fallen ließen und nicht nur ins Wallisische, die alte Landessprache, sondern gleichzeitig auch in eine dichterisch gebundene Redeweise, einen pathetischen Sington übergingen, den bereits besprochenen hwyl.

Der Zustand des erhaben Deklamierenden war dann bezeichnenderweise ein halbwegs ‚ekstatischer’, er war sich seiner Umgebung kaum noch bewußt und hatte nach abermaligem unvermitteltem Übergang in englische Prosa keine Erinnerung für den dazwischen gelagerten hwyl.

Auch das Gefühl des Erstickens zu Beginn, der starke Blutandrang zum Kopfe und das seltsam krampfhafte Aufschluchzen nach jeder Zeile des hwyl deuteten auf einen abnormen Geisteszustand. [3] - Die Bedeutung dieser Tatsachen für unsern Zusammenhang wird klar, wenn man bedenkt,

[1] R. Otto. Das Heilige, 3. Aufl. 14ff.
[2] Ref. in ÜW XIII 268.
[3] Bois 268ff. 291. 299f.; Fursac 141f. Vgl. vielleicht das xxxx der Urchristen: Kol. 3. 16; Eph. 5.18.


Kap XX. Der Komplex des Mystikers: 2. PrImitivität?         (S. 190)

daß Wallisisch die Kindheits- und Vorfahrensprache der Betreffenden war, daß der hwyl eine uralte, nicht nur religiös ausgebeutete Sitte der Walliser ist, [1] daß aber vor allem nach Ansicht Mancher der dichterische und musikalische Ausdruck überhaupt der Prosa gegenüber die ältere, primitivere Form der Sprache darstellt. [2]

Alle diese Andeutungen münden natürlich in der Voraussetzung, daß, wie zuvor das Kind, so nunmehr auch der primitive Mensch als der im Sinne der Erweckung und Heiligung überlegene anerkannt werde, zum mindesten als ein in dieser Hinsicht Eindeutiger und Einheitlicher, dessen typische Anlagen nur der Reifung in der seelischen Tiefe des Einzelnen bedürfen, um als ihre Blüte den erweckten Charakter hervorzutreiben.

Und hier ist merkwürdigerweise wirklich etwas der Bestätigung dieser Voraussetzung Ähnliches von seiten ethnologischer Beobachter ausgesprochen worden. Der urtümliche Mensch soll nicht nur jene (zuweilen mystisch anmutende) stilI ergebene Einbettung in den Naturzusammenhang, in Leben und Tod besitzen, die ja auch dem Tiere eigen ist, [3] er soll auch, den normalerweise herdenhaften Zustand der höchststehenden untermenschlichen Tierarten übernehmend, die geselligen Tugenden in besonders hohem Maße entwickelt haben.

So sagt z.B. Klaatsch nach eigenen Beobachtungen von den Uraustraliern, sie seien ’von Grund aus gut’; der größte Teil aller selbst im Sinne des Christentums betrachteten Tugenden sei bei ihnen gegeben, der ’Grundzug ihres Wesens - eine ausgesprochene Nächstenliebe’. Innerhalb der Horde herrsche eine Liebe, die an die Vorschriften der Bergpredigt erinnere. [4] -

Nach dem gelehrten Pater W. Schmidt zeichnen sich die Zwergvölker durch hochstehende Sittlichkeit, Friedfertigkeit, Wahrheitsliebe, gesellschaftliche Fürsorge u.a. verwandte Tugenden aus. [5] -

Und darüber hinaus noch entsinnen wir uns, wie sehr selbst das Tier in vielen Arten als das soziale Geschöpf kat’ exochén, das in allem Tun allein durch die Gesamtheit bestimmte erscheint. Das Aufgehen des Einzelnen in den Bedürfnissen des Ganzen finden wir nirgends so völlig, so reibungslos verwirklicht, als in gewissen Tierstaaten.

Sicherlich mögen solche Urteile der augenblicklich erörterten Hypothese irgendein Teilchen Wahrheit ohne weiteres sichern. Übersehen werden kann freilich nicht, daß ihnen andere Zeugnisse über niedrige Sittlichkeit der Wilden gegenüberstehen. [6] Was aber wichtiger ist: wir wissen heute, daß jene geselligen Tugenden der Primitiven ihre verhältnismäßige Stärke durch die Enge ihres Wirkungsbereiches erkaufen: sie erlöschen und wandeln

[1] Bois 278.
[2] Über das ‚Kind’ als Dichter - ein augenscheinliches Korollar des Obigen - s. W. Stekel, Dichtung und Neurose (Wiesb. 1909) 1f.
[3] S. Tolstois bekannte Schilderungen des russ. Bauern, z.B. Meine Beichte (Berl. o. J.) 91f.
[4] H. Klaatsch, Die nied. Menschenrassen in ihrer Bed. f. d. Kriminalistik, in Die Umschau 1911 866; vgl. Westermarck I 540ff. (viel Material).
[5] W. S., Die Stellung der Pygmäenvölker in d. Entwicklungsgesch. des Menschen (1910), ref. in AR XVII 547. Üb. selbstverständl. Übung dessen, was heute als besondere sittl. Pflicht wiederzuerobem sei, in der primit. Gruppe s. G. Simmel, Einl. in d. Moralwiss. I 20.
[6] Vgl. z.B. Lubbock, The origin of civilization (1870) ch. VII.


Kap XX. Der Komplex des Mystikers: 2. PrImitivität?         (S. 191)

sich in ihr Gegenteil an den Grenzen des Stammes, jenseits welcher wieder Furcht, Feindschaft und alle Angriffsneigungen in ihr volles Recht treten; [1] hierin sich merklich unterscheidend von der sehr viel weiter greifenden Sympathie des höher entwickelten Spätmenschen nicht nur, sondern auch von den weit einheitlicheren Gefühlen des die Menschen ‚in Gott’ liebenden Erweckten.

Der Mensch ist zwar ein ’geselliges Tier’ und seine primitiven Tugenden mögen die unmittelbaren Abkömmlinge entsprechender Vorzüge der Herdentiere sein. Immerhin wissen wir, daß auch in der tierischen Herde sich Individualisten finden [2] und daß auch unter geselligen Tieren Züge der Grausamkeit von Gliedern gegen Glieder der Herde oder des Schwarmes zu beobachten sind. [3]

Dieselben Einschränkungen aber sind doch ohne Zweifel auch bezüglich der primitiven menschlichen Herde zu machen. Dies alles verhindert, auch in der Hypothese des ’primitiven Komplexes’ wie in der des ’kindlichen’ mehr als eine Annäherung an die Wahrheit zu sehen, deren dunkel empfundener Sinn uns vielleicht auf einer höheren Stufe der Untersuchung aufgehen wird.

[1] Darwin, The Descent of Man (new ed. 1901) ch. IV 183; Westermarck II 743. Über die negative Moral. der Primit. s. Wundt, Elem. der Völkerpsychol. 113.
[2] S. z.B. Darwin, aaO. 159.
[3]) Töten von Drohnen; Morden verwundeter Herdengenossen: das. 156. 161.

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