Der Jenseitige Mensch
Emil Mattiesen

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Kap XVIII. Hysterie der Heiligen.         (S.180)

Daß die meisten 'großen' Heiligen 'Hysterische' und daß gerade ihre von den Gläubigen meistbewunderten Besonderheiten ausgesprochen hysterische Erscheinungen seien, hat seit längerem außerhalb der Kirchen für so selbstverständlich gegolten, daß es sich dem populären Urteil einverleibt hat. Der ungläubige Gebildete weiß es nachgerade.

Um zunächst nur gewisse gröbere, mehr oder minder eindeutige Symptome zu berücksichtigen, verweise ich auf die massenhaften hagiologischen Berichte über vorübergehende Lähmungen, [1] über Un- und Überempfindlichkeit der Haut im Ganzen oder in Teilen, [2] über zeitweilige Ausfälle einzelner Sinne, über An- und Abschwellen des Körpers oder einzelner Körperteile, [3] über mannigfaltige und ausgedehnte Verkrümmungen und Krampfanfälle, [4]

über zeitweilige Unfähigkeit zu schlucken oder irgend etwas (außer der Hostie!) den Schlund hinabzubringen, [5] über Herzschmerzen, die das Herz zu zerreißen, oder Kopfschmerzen, die den Schädel zu spalten scheinen, [6] über Ohrensausen, [7] über Stigmatisierungen der Körperoberfläche, [8] über Gesichte und Ekstasen aller Art, - lauter mühelos feststellbare Symptome, die unter lateinischen und griechischen Namen - als Hemi- und Paraplegien, Kontrakturen und Konvulsionen,

An-, Hyp- und Hyperästhesien, Anopsie, Anorexie, Kardi- und Kephalalgien, Halluzinationen usw. - im diagnostischen Katalog der großen Hysterie eine allgemein bekannte Rolle spielen.

Selbst die durchaus gläubige Beurteilung hat sich diesem Gesichtspunkt heute nicht mehr verschließen können. Der bewundernde und hochgebildete

[1] z.B. Labis 177f.; Kanne II 191f. (Gichtel).
[2] z.B. Görres II 49. 284. 439 (Maria v. Agxeda; Ida v. Loewen; Oringa).
[3] z.B. Görres II So (Ida v.L.).
[4] z.B. Labis 173. 177; Drane I 133.
[5] z.B. Labis 39; Drane I 198.
[6] z.B. Maria de S. Ter. 24f.
[7] z.B. David 76.
[8] Vgl. Imbert I.


Kap XVIII. Hysterie der Heiligen.         (S.181)

Lebensbeschreiber der hl. Katharina von Genua erklärt zum mindesten ihre letzte Lebenszeit für ausgesprochen krank. Hitze- und Kälteanfälle - ein Feuer, das auf ihr Gebet hin durch 'Wasser' erfrischt wird -; [1] Schmerzen aller Art und Krämpfe; die Unfähigkeit, selbst bei starkem Durst zu schlucken oder irgendwelche feste Speise zu genießen, neben Heißhunger und unersättlichem Essen;

Überempfindlichkeit zumal der Haare; Zittern oder Lähmungen verschiedener Glieder; assaltos, in denen ihr Körper sich hebt und windet, örtliche Empfindungslosigkeit; Seh-, Herz-, Atemstörungen, Anfälle, in denen sie 'wie tot' daliegt, um plötzlich wieder zu vollem Leben zu erwachen; Verschlimmerungen und Besserungen, die ebenso plötzlich wie ohne äußerlich erkennbaren Anlaß eintreten - all dies ergibt das offenbar eindeutige Bild einer wahrhaft 'großen' Hysterie. [2]

Den Schulfall übrigens, an dem sich der Meinungskampf um die Hysterie der Heiligen am heftigsten entzündete und schließlich selbst von den Parteigängern der römischen Kirche im bejahenden Sinn entschieden wurde, gab die hl. Teresa ab.

Nach dem eigenen Zeugnis der Heiligen war ihre Gesundheit von früh an schwächlich und verschlechterte sich unter dem Einfluß der Klosterzucht. Sie erwähnt Fieber, schwere Ohnmachten, Herzschmerzen und 'viele andere Krankheiten'.

Später setzten die schwersten Erscheinungen der großen Hysterie ein: Krämpfe, die sie tobsüchtig erscheinen ließen, während deren sie ihre Zunge zu 'Lappen' zerbiß und von angstvollen Gesichten gequält wurde; tagelange Anfälle völliger Bewußtlosigkeit, in denen sie wie tot erschien (vermutlich voll-kataleptische Zustände); schmerzhafte Zusammenziehung einzelner Gliedmaßen oder des ganzen Körpers zu einem Knäuel;

eine Überempfindlichkeit der Haut, die ihr jede Berührung unerträglich machte, so daß sie nur auf einem Laken liegend gehoben werden konnte; einmal eine fast drei Jahre anhaltende vollständige Lähmung. Zwanzig Jahre lang plagte sie ein regelmäßig morgens sich einstellendes Erbrechen; Angst und tiefste Traurigkeit des Gemütes suchten sie häufig heim; Geräusche tobten in ihrem Kopf, und häufig schüttelte ununterbrochenes Zittern ihr Kopf und Arme oder den ganzen Körper. [3]

Die Beurteilung ihrer Krankheit seitens gebildeter Gläubiger hat lange die augenscheinlich gebotene Diagnose umgangen. Die Auditoren der Rota in ihrer eigenen Zeit sprachen von epilepsia und pat'alysis, die sie saepe passa tuit; eine wertlose Bestimmung, die über den gröbsten Augenschein nicht hinausging.

Von neuesten Beurteilern erkannte Gourbeyre auf schwere Bleichsucht, während Dr. Goix den Ursprung ihrer Leiden in 'einer Vergiftung durch Sumpfkeime suchte, die sich in Wechselfiebern mit gelegentlichen Steigerungen geäußert habe.[4] Ein jesuitischer Pater, de San, in der Kritik einer sogleich zu erwähnenden Arbeit eines Ordensgenossen, begnügte sich gar mit dem Hinweis auf die zarte Gesundheit

[1] z.B. Labis 13Z. über hyster. Fieber s. Binswanger 603ff.
[2] Vgl. z.B. Hügel I 133-37. 197ff.; II 10ff. Andere gute Beispiele sind: die Schw. Lukardis (Anal. Boll. XVIII 305ff.); Emmerich I 39f. 81f. 89. 100. 156f. 190. 259. 311; II 45. 260f. 572f.; die Margar. Ebner (Preger II).
[3] S. Teresa I c. 3-6 (bes. 5. 33-38); c. 7 (S. 52); c. 20 (S. 169); c. 31 (S. 284f. 288) u. sonst. Vgl. auch Dr. Rouby, L'hystérie de S. Th., in AN XIV (1902) 125ff. 227ff.
[4] Intoxication paludéenne; fièvres intermittentes avec accès pernicieux: AnnaI. de philos. chrét. 1896 272.


Kap XVIII. Hysterie der Heiligen.         (S.182)

der Heiligen, eine Gastritis, eine Affektion des Herzens u. dgl. Die Unzulänglichkeit aller solcher Ausflüchte liegt auf der Hand. Gleichwohl sind auch unabhängigere Beurteiler nicht immer mit der Feststellung von Hysterie ohne weiteres bei der Hand gewesen. Montmorand; in einer ausführlichen, die ganze Literatur heranziehenden Arbeit, neigt nach Erwägung des Für und Wider fast mehr der Verneinung zu. [1]

Die entschiedene Deutung im Sinne der Hysterie setzte mit den Arbeiten so bedeutender Forscher wie Bourneville, Richer, Gilles de la Tourette u.a. ein. Legrand du Saulle, nicht minder namhaft als Kliniker, erklärte mit beißender Spitze, in Zukunft habe die Hysterie kein Recht mehr auf Heiligsprechung.

Ein scharfsinniger Jesuit, der P. Hahn, mochte diesem Nachweis die Spitze abzubrechen glauben, als er in einer erst preisgekrönten, dann auf den Index gesetzten Arbeit [2] die Hysterie der berühmten Frau unumwunden zugestand, aber ihre davon gänzlich unabhängige außerordentliche Lebensleistung und Heiligkeit in den Vordergrund schob, dabei auch zu verstehen gebend, daß er gewisse ihrer abnormen Erlebnisse dennoch für übernatürlich nach Ursprung und Bedeutung halte.

Man darf sich wohl auf den Standpunkt stellen, daß, was ein Jesuit hat zugeben müssen, keines weiteren Beweises bedarf, falls es der römischen Kirche unbequem ist. Ich will also die Hysterie auch der hl. Teresa als erwiesen annehmen und zur Bestätigung nur noch auf eine Eigentümlichkeit ihrer Leiden aufmerksam machen, die sich in hundert andern hagiologischen Berichten wiederfindet: nämlich die 'suggestive' Heilbarkeit, die bei hysterischen, also vorstellungsmäßig erzeugten (psychogenen) Symptomen durchaus natürlich erscheint.

So verschwand z.B. gelegentlich eine seit langem bestehende Lähmung der Heiligen auf Anrufung des hl. Josef; [3] oder das tägliche Erbrechen verschob sich vom Morgen auf den Abend, wenn die Heilige in der Frühe kommunizieren sollte. [4]. Den umgekehrten Vorgang der hysterischen Erzeugung von Symptomen glaubt Dr. Rouby in der Tatsache zu entdecken, daß der 'hysterische Schlaf' - für den damaligen Beobachter ein Scheintod - bei der Heiligen eintrat, als ihr das Sakrament verweigert wurde, sie also ein Interesse an dem Nachweis hatte, daß sie durch das Verbot in Lebensgefahr gerate.

Diese suggestive Beeinflußbarkeit haftet, wie gesagt, den Leidenssymptomen fast aller kranken Heiligen an, wobei die Suggestion ebenso oft von einer Vision oder Einsprache oder Traumerscheinung, wie von den Worten und Wünschen eines Menschen, etwa des geistlichen Vorgesetzten ausgeht. [5]

Die 'große Hysterie' bei zahlreichen Heiligen festzustellen, ist also am Ende nicht schwierig. Fraglich könnte allenfalls die Verwendbarkeit dieser Feststellung erscheinen, wenn man sich darauf versteifte, die hysterischen Heiligen als eine Minderheit hinzustellen, ihre Hysterie als eine zufällige Beigabe ihrer Heiligkeit, hervorgerufen etwa durch asketische Überspannung. Demgegenüber ist zu sagen, daß zwar das Verhältnis von Hysterie

[1] RPh 1906 I 30Iff.
[2] Les phén. hystér. et les révél. de S. Th., in Rev. des Quest. Scientif., publ. par la Soc. Scientif. de Bruxelles, XIII 5ff. 511ff.; XIV 39ff.
[3] Hahn, aaO. XIII 540.
[4] S. Teresa I 53 (c. 7).
[5] Verwandte Beob. an andern Mystischen I. z.B. Lechner 68f.; Guyon, Vie II 25f. 123-9; Bougaud 246. 285ff. 298; David 11; Labis S72. 177. 179f.; Drane I 198. 202; Gertrud I 155ff.; Tir. Ekst. I 60 Anm.


Kap XVIII. Hysterie der Heiligen.         (S.183)

und Heiligkeit uns im Augenblick noch problematisch ist, daß aber unsere bisherigen Feststellungen über die 'Gespaltenheit' der religiösen Seele uns antreiben, es als ein natürliches aufzufassen. Tatsächlich ist denn auch der Heilige des hysterischen Typs von weltumspannenden religiösen Gemeinschaften als die Erfüllung religiöser Ideale verehrt worden, und religiöses Leben innerhalb dieser Gemeinschaften hat sich ihm umso mehr genähert, je heißer es gewesen ist.

Es scheint schon hiernach nicht unvernünftig zu vermuten, daß der hysterische Typ des Heiligen den Wert mindestens einer verdeutlichenden Karikatur haben werde: indem seine Krankhaftigkeit auf einer Hochtreibung von Kräften beruhe, die auch in banaleren Typen am Werke sind.

Ich will daher die Erforschung jenes hysterischen Komplexes, der uns das Wesen der Heiligenhysterie entschleiern soll, mit allem Ernst betreiben, auf die Möglichkeit hin, uns damit der Erkenntnis des erwecklichen Komplexes endlich auf die Spur zu bringen.

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