REINKARNATION
Die umfassende Wissenschaft
der Seelenwanderung

von Ronald Zürrer

Internet-Veröffentlichung Juli 2008,
(c)
Govinda-Verlag GmbH

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dreizehnter Teil: HERMANN HESSE

Der große Vermittler

Wenn es darum geht, die abendländische Geistesgeschichte mit dem feinen Wesen der indischen Kultur bekannt zu machen und zwischen den beiden scheinbaren Gegensätzen zu vermitteln, dann nimmt in unserem Jahrhundert insbesondere eine Persönlichkeit eine überragende Stellung ein: der deutsch-schweizerische Dichter und Maler Hermann Hesse (1877–1962).

Der zeitgenössische Literaturkritiker Philipp Witkop schreibt in einem Essay über diese Vermittlerrolle Hesses: 

So wie Hölderlin mit griechischen, musiziert hier ein Schwabe mit indischen Symbolen, in einer stillen, feierlichen, langhinflutenden Sprache. Wie Goethe im „Westöstlichen Divan“ bringt er auf seine Art Orient und Okzident schöpferisch näher. (in: „Die schöne Literatur“, Leipzig 1927)

Und Hesse selbst, der stets alle Bezeichnungen und damit Begrenzungen seiner Person scheute, der nicht Gelehrter, nicht Schulmeister und nicht Führer sein wollte, der nicht nur Denker, nicht nur Dichter, nicht nur Künstler sein wollte, bekannte sich immer wieder und gerne zu der Rolle des Vermittlers zwischen Ost und West, so zum Beispiel in dem folgenden Brief an den Japaner Kenji Takahashi: 

Die ernsthafte und fruchtbare Verständigung zwischen Ost und West ist nicht nur auf politischem und sozialem Gebiet die große, noch unerfüllte Forderung unserer Zeit, sie ist eine Forderung und Lebensfrage auch auf dem Gebiet des Geistes und der Lebenskultur.
 

Es geht heute nicht mehr darum, Japaner zum Christentum, Europäer zum Buddhismus oder Taoismus zu bekehren. Wir sollen und wollen nicht bekehren und bekehrt werden, sondern uns öffnen und weiten, wir erkennen östliche und westliche Weisheit nicht mehr als feindlich sich bekämpfende Mächte, sondern als Pole, zwischen denen fruchtbares Leben schwingt. (Mai 1955)

Doch wer ist dieser große Vermittler, dieser bekannte und berühmte und doch den meisten unbekannte Hermann Hesse, dessen Bücher bis 1986 in den USA in einer Gesamtauflage von über 16 Mio., in Japan von über 15 Mio. Exemplaren verbreitet waren, der außerhalb Europas seit Jahrzehnten der mit Abstand meistgelesene europäische Autor ist und dessen Schriften in über 40 Sprachen übersetzt wurden?

Woher kommt diese sagenhafte Wirkung und Faszination Hesses, in welchem Umfeld hat sie begonnen und gedeiht sie im stillen noch immer weiter? Und warum sind es gerade die ganz jungen Menschen, die sich seiner Faszination ergeben? – Diesen und ähnlichen Fragen wollen wir in der Folge nachgehen.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dreizehnter Teil: HERMANN HESSE

«Saint Hesse among the Hippies»

Hermann Hesse wurde im Jahre 1877 in Calw bei Stuttgart geboren und starb 1962 im Alter von 85 Jahren und nach vierzigjährigem Leben der Zurückgezogenheit im Tessin in Montagnola bei Lugano. Obwohl er bereits zu seinen Lebzeiten im europäischen Raum weite Beachtung und Anerkennung fand und im Jahre 1946 für sein Gesamtwerk mit dem Literaturnobelpreis, 1955 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, fand der eigentliche „Hesse-Boom“ erst kurz nach seinem Tode, nämlich Mitte der sechziger Jahre und aus den USA kommend, statt.

Dort, in den USA, wurde er nach der erstmaligen Veröffentlichung seiner Werke in Englisch unter der jungen „Flower Power“-Generation der Hippies bald zur „literarischen Kultfigur“ und zum „Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis“, wie es Timothy Leary, einer der Führer der damaligen Jugendrevolution, ausdrückte.

Eine Bewegung entstand, die sich „Saint Hesse among the Hippies“ nannte, und seine Bücher wurden in den Meditationsgruppen, in den Zurück-aufs-Land-Bewegungen, in den „Reservaten von Frieden und Gewaltlosigkeit“, bei Open-Air-Konzerten (man erinnere sich an das legendäre Woodstock-Festival), in den Parks, in den alternativen Theatern usw. gelesen und diskutiert.

Etwa seit 1967 wurde Hesse zusehends auch von der jungen intellektuellen Studentenschaft aufgenommen, die durch den amerikanischen Vietnamkrieg aufgebracht worden war, und bald wurde er als „der einflußreichste Schriftsteller der jungen Generation“ („Christian Science Monitor“, 10.5.1968) gefeiert. Seine Bücher erzielten innerhalb weniger Jahre Rekordauflagen. Eine Erklärung für diesen noch nie dagewesenen Erfolg gab „The Times Literary Supplement“ vom 31.8.1973: 

Hesse hat sich zu einem „Brennpunkt“ entwickelt...Hesse, der Umweltschützer, der Kriegsgegner, der Feind der computergesteuerten Technokratie, der höchstes Bewußtsein sucht (eher durch Poesie als durch Drogen) und der für seine Freiheit alles zu opfern bereit ist, außer seiner Integrität. 

Ende der sechziger Jahre schlug diese Welle auch auf die europäischen Jugendbewegungen über, die sich, wie ihr Vorbild Hesse, gegen die etablierten Mächte der modernen Gesellschaft auflehnten – die Schule, das Militär, die Kirche, den Staat.

Aber Hesse ist nicht nur der Umweltschützer und Kriegsgegner, der sich gegen das verlogene bürgerliche Establishment auflehnte – diese vergänglichen Dinge der Politik und Gesellschaft betrachtete und bezeichnete er selbst immer wieder als äußerlich und oberflächlich und als nicht seine eigentliche Aufgabe betreffend.

Nein, Hesse hat noch eine ganz andere Seite. Die Faszination dieser anderen, der „inneren“ Seite Hesses blieb auch dann bestehen, als die revolutionären politischen Ideale der 68er-Generation allmählich zerbröckelten und im Laufe der siebziger Jahre schließlich ganz versandeten.

Diese Faszination entspringt einer anderen, tieferen Quelle, nämlich seiner Hinneigung zu asiatischer Religion und Philosophie und in diesem Umfeld beispielsweise auch seinem frühen und damals noch gewagten Bekenntnis zur Lehre der Seelenwanderung. Gerade dies ist es, was seine Beliebtheit durch alle Wirren und Veränderungen und auch durch die enttäuschten Hoffnungen nach nicht eingetretenen Veränderungen hindurch bis zum heutigen Tage aufrechterhalten hat.

Dabei ist es, wie erwähnt, ein interessantes Phänomen, daß es insbesondere immer wieder die junge, suchende, im inneren Aufbruch befindliche Generation ist, die sich Hesse zuwendet und deren lebendiges, lebhaftes Interesse an östlicher Mystik und Metaphysik, an dem „Weg nach Innen“, in Hesses Büchern auch reichlich Nahrung findet – was dem Dichter selbst jedoch häufig harte Kritik und Unverständnis eingebracht hat, insbesondere seitens des intellektuellen Establishments.

Hesse selbst schrieb hierzu, achtzigjährig und rückblickend auf sein Leben, im Jahre 1956: 

Wenn ich irgendwo auf besonders kräftige Ablehnung, auf instinktiven Haß oder prinzipielles Nichtverstehenwollen stoße, so gilt diese Ablehnung beinahe immer dem Einschlag von altasiatischem Geist, den man in meinen Erzählungen findet.

 

Nun, diese instinktive Furcht vor dem Fremden, Nichteuropäischen in der indischen und chinesischen Denkart ist nach meinem Glauben dasselbe wie jeder Rassenwahn und Rassenhaß. Etwas Bekanntes, historisch und psychologisch Begreifliches, aber etwas Rückständiges, nicht mehr Lebenbringendes, etwas, was überwunden werden muß.

 

Unterstützt wird die Rückständigkeit nicht nur durch den Fortschritts- und Technik-Enthusiasmus des Abendlandes, sondern auch durch den Anspruch des kirchlich-dogmatischen Christentums auf Alleingültigkeit.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dreizehnter Teil: HERMANN HESSE

Die intellektuelle Kritik an Hesse

Trotz Hesses anhaltenden immensen Erfolges wird an den deutsch­sprachigen Hochschulen über ihn heutzutage praktisch nicht gesprochen. Wenn er je Erwähnung findet, dann höchstens als Beispiel eines etwas weltfremden Sentimentalisten, als ein Phänomen, dessen Wirkung auf die noch unerfahrene idealistische Jugend bestenfalls ein geeignetes sozio-psychologisch-literaturkritisches Untersuchungsobjekt darstellt, den man aber darüber hinaus nicht sonderlich ernst zu nehmen braucht.

Die häufigste Kritik an Hesse lautet, er sei nicht zeitgemäß, er sei „zu einfach“, zu oberflächlich, zu schwärmerisch, zu träumerisch, zu wenig politisch, zu wenig realistisch.

Dies ist die geradezu symptomatische Standard-Kritik von seiten der sogenannt erwachsenen, sogenannt realistisch denkenden intellektuellen Menschen; es ist die Kritik einer mit beiden Beinen im äußeren Leben stehenden, erwerbstätigen Generation, die keine Zeit mehr hat für den etwas subtileren Ruf des eigenen Inneren.

Oft wird bei dieser Kritik allerdings vergessen, daß man möglicherweise selbst in jüngeren Jahren auch Hesse gelesen, ja ihn geradezu verschlungen hat und daß es vielleicht nur die eigene Entwicklung – oder müßte man besser sagen: Verwicklung? – war, die einen jetzt, aus welchen Gründen auch immer, denken läßt, Hesse sei veraltet und nicht mehr zeitgemäß.

Leicht übersieht man die Tatsache, daß Hesse inzwischen bereits die dritte oder vierte Generation junger Leser in seinen Bann zieht und daß seine Beliebtheit bei dieser jungen Generation sich nicht im geringsten vermindert hat. Es scheint nur so, weil es immer wieder andere junge Menschen sind, die ins „Hesse-Alter“ kommen und dieses dann wieder verlassen, um der nächsten Generation Platz zu machen.

An dieser Stelle lohnt es sich, einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, warum es gerade immer wieder die Jungen sind, die sich von Hesse ansprechen lassen, und dann auch wieder die ältere Generation, die sich ihm verbunden fühlt und sich ihm aufs neue zuwendet.

Denn letztlich bringt uns die Diskussion, wie realistisch und wie ernst zu nehmen Hesses Anliegen sind, auf die grundsätzliche philosophische Frage nach der Definition von Realität schlechthin. Wenn wir uns dieser Frage ernsthaft stellen, werden wir erkennen, wie unterschiedlich der Begriff Realität definiert, erfahren und gelebt werden kann und wie einseitig, wie überheblich und wie blind es ist, nur eine mögliche Sicht der Realität gelten zu lassen.

Wir werden erkennen, wie Hesse gerade nicht der vermeintlichen Realität entflieht, sondern uns im Gegenteil einen anderen, einen vergessenen, verdrängten Bereich der Wirklichkeit erschließen will.

Das Erkennen, das Anerkennen und das Durchleben dieses ganz anderen Bereiches unserer Wirklichkeit ist jedoch dem äußeren Streben nach wirtschaftlichem und technischem Fortschritt, nach Macht, Anerkennung und Reichtum nicht gerade zuträglich, denn es ist eine unangenehme Warnung vor der Nichtigkeit all dieser Bestrebungen.

Darum wird Hesse gerade von den jungen Menschen gelesen und geliebt – von Menschen, die erst im Aufbruch sind und die noch innere Ideale und innere Ziele in ihrem Leben haben. Und darum wird er, andererseits, auch bei der älteren Generation wieder geschätzt – von Menschen, die bereits die Nichtigkeit ihrer angestrebten und vielleicht sogar erreichten äußeren Ideale und Ziele erkennen mußten. Darum wird er von ihnen bewundert, darum wird er von ihnen verstanden.

Und darum wird er von denjenigen, die zwischen den Stürmen der aufbrechenden Jugend und der abgeklärten Reife des Alters stehen, die ihre eigene, einseitige, enge Definition von Realität, von Werten und Zielen des Lebens als die einzig wahre und gültige anerkennen, nicht verstanden, belächelt, verachtet, gefürchtet: gerade weil er in der engen „Realität“ ihrer kleinlichen Sorgen und Ängste keinen Platz hat, weil seine Gedanken und Sehnsüchte zu groß, zu tief, zu erhaben sind für das Verständnis eines Menschen, der sich entschieden hat, seine ganze Aufmerksamkeit nur dem Äußeren zu schenken, dem Irrlicht des geschäftlichen oder politischen Erfolges etwa oder der trügerischen Faszination der Technik.

In seiner Dichtung „Siddhartha“ nennt Hesse diese Menschen, von denen es gerade in der heutigen Zeit sehr viele, ja zu viele gibt, Kindermenschen. Er schreibt: 

Siddhartha sah die Menschen auf eine kindliche oder tierhafte Art dahinleben, welche er zugleich liebte und auch verachtete. Es sah sie sich mühen, sah sie leiden und grau werden um Dinge, die ihm dieses Preises ganz unwert schienen, um Geld, um kleine Lust, um kleine Ehren, er sah sie einander schelten und beleidigen, er sah sie um Schmerzen wehklagen, über die der Samana lächelt, und unter Entbehrungen leiden, die ein Samana nicht fühlt.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dreizehnter Teil: HERMANN HESSE

Indien und der Reinkarnationsgedanke

In der Folge wollen wir untersuchen, wie Hermann Hesse überhaupt zu seiner Vermittlerrolle zwischen West und Ost, zwischen indischer Mystik und westlich-christlichem Fortschrittsdenken gekommen ist.

Hesse, im Jahre 1877 geboren, wurde als Sohn eines streng gläubigen baltischen Missionspredigers in einem engen „protestantisch-sektiererischen“ (Tagebuch, Januar 1921) christlichen Glauben erzogen. Sein Vater hatte, allerdings als christlicher Missionar, selbst längere Zeit in Indien gelebt, und seine Mutter war sogar in Indien geboren worden.

Sie war die älteste Tochter des bekannten Indienforschers Dr. Hermann Gundert (1814–1893), der Jahrzehnte dort verbracht hatte und der der einzige Europäer seiner Zeit war, der die Sanskritsprache nicht nur las, sondern mit den dortigen Brahmanen auch Sanskrit sprach.

Er bereiste mit dem Ochsenkarren große Teile des Landes, das er nicht nur als Missionsobjekt betrachtete. Er beherrschte etwa zehn indische Dialekte, er veröffentlichte das erste deutsch-indische Lexikon und übersetzte das Neue Testament in die Malayalam-Sprache.

Dieser großartige Großvater, bei dessen Tod Hesse sechzehn Jahre alt war, hat in dessen Jugendjahren einen nachhaltigen Einfluß auf seinen Enkel ausgeübt, und so pflegte Hesse bereits von frühester Kindheit an eine intensive und spannungsreiche Beziehung mit der indischen Geisteswelt auf der einen und dem pietistischen, missionarischen Christentum auf der anderen Seite.

Auf Wunsch seiner Eltern hätte der junge Hesse protestantische Theologie studieren sollen, er entfloh jedoch als Fünfzehnjähriger dem evangelischen Seminar in Maulbronn und lernte Buchhändler. (Jahrzehnte später schrieb er an Stefan Zweig, daß das Erfüllen der elterlichen Erwartung, Theologe zu werden, für ihn gleichbedeutend mit dem Verlust seiner eigenen Persönlichkeit gewesen wäre.)

So mag seine frühe Aufgeschlossenheit für den indischen Kulturkreis, den zu missionieren seine Eltern und Großeltern ausgezogen waren, in seiner Pubertät vielleicht ein Ergebnis des Protests gegen die elterliche Unduldsamkeit anderen Glaubensformen gegenüber und gegen das pietistische Erziehungsprinzip vom „Brechen des Willens“ gewesen sein.

Doch führte ihn sein damals erwachtes Interesse an Indischem auf eine bedeutsame Spur, die ihn später befähigt hat, das Missionswerk seiner Vorfahren in umgekehrter Richtung fortzusetzen.

Nicht, daß er den Westen zu östlichem Denken und zu asiatischer Lebenshaltung hätte „bekehren“ wollen, vielmehr ist es ihm wie keinem anderen europäischen Autor gelungen, das scheinbar Gegensätzliche der beiden Kulturen nicht als unvereinbar, sondern als Polarität eines Ganzen sichtbar zu machen und zwischen Ost und West tragfähige Brücken zu bauen.

Das Indische hat also Hesses Werden und Schaffen zeitlebens begleitet und nachhaltig geprägt. Hierzu schreibt er zu Beginn seiner Arbeit am „Siddhartha“ im Jahre 1919: 

Ich bin seit vielen Jahren davon überzeugt, daß der europäische Geist im Niedergang steht und der Heimkehr zu seinen asiatischen Quellen bedarf. Ich habe jahrelang Buddha verehrt und indische Literatur schon seit meiner frühesten Jugend gelesen. (aus einem Brief vom 26.7.1919)

Tatsächlich hatte Hesse schon früh, im Alter von 30 Jahren (1907), eine mystische „Legende vom indischen König“ verfaßt, und 1911 unternahm er dann, 34-jährig, eine dreimonatige Reise nach Indien, um das Land seiner Jugendträume durch eigene Erfahrung kennenzulernen. Allerdings wurde diese Reise eher zu einer Enttäuschung als zu einer Erfüllung, so daß sich Hesse Jahre später in dem Tagebuchblatt „Besuch aus Indien“ (1922) erinnert: 

Unreif gebrochene Früchte nützen nichts. Mehr als die Hälfte meines Lebens war ich mit indischen und chinesischen Studien beschäftigt – oder, um nicht in den Ruf des Gelehrten zu kommen, war ich gewohnt, den Duft indischer und chinesischer Dichtung und Frömmigkeit zu atmen.

 

Aber als ich vor elf Jahren eine Reise nach Indien machte, da sah ich wohl die Palmen und Tempel stehen, roch den Weihrauch und das Sandelholz, aß die herben Mango und die zarten Bananen; aber zwischen alledem und mir war noch ein Schleier ... ich hatte nach dem wahren Indien, nach Indiens Geist, nach einer lebendigen Berührung mit ihm das ungestillte Heimweh wie vorher in Europa. Indiens Geist gehörte noch nicht mir, ich hatte noch nicht gefunden, ich suchte noch.

Dennoch regte die Indienreise (über die sein 1913 veröffentlichtes Buch „Aus Indien“ ausführlich berichtet) Hesse weiter an, in den kommenden Jahren immer wieder Elemente der indischen Philosophie und Dichtung, insbesondere auch den Gedanken der Reinkarnation, in seine eigenen Werke einfließen zu lassen. So entstanden beispielsweise im September 1914, also gerade ein Monat nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Deutschland, die folgenden Zeilen, die er mit „Bhagavad Gita“ überschrieb: 

Wieder lag ich schlaflos Stund’ um Stund’,

Unbegriffenen Leids die Seele voll und wund.
 

Brand und Tod sah ich auf Erden lodern,

Tausende unschuldig leiden, sterben, modern.

 

Und ich schwor dem Kriege ab im Herzen

Als dem blinden Gott sinnloser Schmerzen.

 

Sieh, da klang mir in der Stunde trüber

Einsamkeit Erinnerung herüber,

 

Und es sprach zu mir den Friedensspruch

Ein uraltes indisches Götterbuch:

 

„Krieg und Friede, beide gelten gleich,

Denn kein Tod berührt des Geistes Reich.

 

Ob des Friedens Schale steigt, ob fällt,

Ungemindert bleibt das Weh der Welt.

 

Darum kämpfe du und lieg’ nicht stille;

Daß du Kräfte regst, ist Gottes Wille!

 

Doch ob dein Kampf zu tausend Siegen führt,

Das Herz der Welt schlägt weiter unberührt.“

Die Bhagavad-gita, die Hesse 1904, angeregt durch die Lektüre von Schopenhauer, erstmals kennengelernt hatte, bildete jahrelang Gegenstand seines Interesses. 1912 beschrieb er sie in einer Rezension mit den folgenden Worten:

Das Wunderbare an der „Bhagavad-gita“ ist, daß ... in ihr eine ungelehrte, erlebte Weisheit sich als helfende Güte offenbart. Diese schöne Offenbarung, diese Lebensweisheit, diese zu Religion erblühte Philosophie ist es, die wir suchen und brauchen.

Auch in seiner Landstreichergeschichte „Knulp“ (1915) findet sich das folgende rätselhafte Lied: 

Weil ich früh gestorben bin,

Drum singt mir, ihr Jüngferlein,

Ein Abschiedlied.

Wenn ich wiederkomm, wenn ich wiederkomm,

Bin ich ein schöner Knabe.

Von dieser Zeit an begegnen wir in fast jedem Werk, das Hesse veröffentlichte, in irgendeiner Form dem Gedanken der Seelenwanderung. So verfaßte er zum Beispiel im Jahre 1916 das Gedicht „Neues Erleben“: 

Wieder seh ich Schleier sinken

Und Vertrautestes wird fremd,

Neue Sternenräume winken,

Seele schreitet traumgehemmt.

 

Abermals in neuen Kreisen

Ordnet sich um mich die Welt,

Und ich seh mich eiteln Weisen

Als ein Kind hineingestellt.

 

Doch aus früheren Geburten

Zuckt entfernte Ahnung her:

Sterne sanken, Sterne wurden,

Und der Raum war niemals leer.

 

Seele beugt sich und erhebt sich,

Atmet in Unendlichkeit,

Aus zerrißnen Fäden webt sich

Neu und schöner Gottes Kleid.

In seiner Novelle „Klein und Wagner“ (1919) beschreibt er den Selbst­­mord des Beamten Friedrich Klein: 

Im Moment, wo er fiel, wo er einen Blitz lang zwischen Bootsrand und Wasser schwebte, stellte sich ihm dar, daß er einen Selbstmord begehe, eine Kinderei, etwas zwar nicht Schlimmes, aber Komisches und ziemlich Törichtes ...

 

Daß er sich ins Wasser und in den Tod fallen ließ, wäre nicht notwendig gewesen, ebensogut hätte er sich ins Leben fallen lassen können. Aber daran lag nicht viel, wichtig war dies nicht. Er würde leben, er würde wiederkommen...
 

Er sah die Erschaffung der Welt, er sah den Untergang der Welt, beide wie zwei Heerzüge beständig gegeneinander in Bewegung, nie vollendet, ewig unterwegs. Die Welt wurde immerfort geschaffen, sie starb immerfort. Jedes Leben war ein Atemzug, von Gott ausgestoßen. Jedes Sterben war ein Atemzug, von Gott eingesogen.

Und in „Demian. Die Geschichte einer Jugend“ (1919), einer der bekanntesten Dichtungen Hesses, heißt es an einer Stelle: 

Da hörte ich ein dunkles, schweres Brausen wie von einem Frühjahrssturm und zitterte in einem unbeschreiblich neuen Gefühl von Angst und Erlebnis. Sterne zuckten vor mir auf und erloschen, Erinnerungen bis in die erste vergessenste Kinderzeit zurück, ja bis in Vorexistenzen und frühe Stufen des Werdens, strömten gedrängt an mir vorüber.

Deutlicher und persönlicher drückt Hesse diese seine Überzeugung von der Reinkarnation in seinen zahlreichen Briefen aus. An die Schriftstellerin Lisa Wenger, deren Tochter er 1924 heiratete, schreibt er im Sommer 1920: 

An etwas wie eine Seelenwanderung glaube auch ich, ich halte das eigentlich für selbstverständlich, sobald man anfängt zu denken. Dieser Glaube hat manches Beruhigende, aber er enthält auch die Erkenntnis, daß alles, was wir erleben, von uns selbst gewollt und herbeigerufen ist, und dann gibt es keine Ausflüchte und keinen Trost mehr gegen das bittere Schicksal, als sich damit einverstanden erklären und ja dazu zu sagen, und das ist immer schwer.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dreizehnter Teil: HERMANN HESSE

«Siddhartha. Eine indische Dichtung»

Den Höhepunkt von Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem indischen Denken jedoch stellt das kleine Werk „Siddhartha“ dar, geschrieben in den Jahren 1919–1922. Hesse selbst sagt über diese „indische Dichtung“, wie sie im Untertitel heißt: 

Diese Erzählung ist das Bekenntnis eines Mannes von christlicher Herkunft und Erziehung, der schon früh die Kirche verließ und sich um das Verstehen anderer Religionen bemüht hat, besonders um indische und chinesische Glaubensformen.

 

Ich suchte das zu ergründen, was allen Konfessionen und allen menschlichen Formen der Frömmigkeit gemeinsam ist, was über allen nationalen Verschiedenheiten steht, was von jeder Rasse und von jedem Einzelnen geglaubt und verehrt werden kann. (Aus dem Vorwort zur persischen Ausgabe, 1958)

„Siddhartha“ ist umfangmäßig eine der kleinsten Dichtungen Hermann Hesses, doch gehört sie – zusammen mit dem späteren „Steppenwolf“ – zu den meistgelesenen seiner Werke und darf, was ihre Tiefe und Bedeutsamkeit betrifft, wohl auch als eines der einflußreichsten und folgeträchtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.

„Siddhartha“ wurde in alle Weltsprachen übersetzt, darunter auch in zwölf verschiedene indische Dialekte, und ist allein in den USA in einer Auflage von mehreren Millionen verbreitet.

„Siddhartha“ umfaßt nur etwas mehr als einhundert Seiten und ist in zwei Teile mit insgesamt zwölf Kapiteln gegliedert. Wie bei vielen bedeutenden Werken der Weltliteratur ist auch hier die eigentliche Handlung einfach und schnell erzählt. Die wahre Größe und Bedeutung liegt weniger in der Abfolge von irgendwelchen äußeren Ereignissen, sondern vielmehr in der Gedanken- und Erfahrungstiefe der beschriebenen Persönlichkeiten und Begebenheiten.

Die folgende kurze Zusammenfassung der einzelnen Kapitel soll uns helfen, diese subtileren Erkenntnisse und Aussagen, dem Texte folgend und so gut es in diesem Rahmen möglich ist, zu erschließen:

1. Der Sohn des Brahmanen. Siddhartha wird vorgestellt: Er ist der vorbildhafte, starke, schöne Sohn des Brahmanen-Priesters, der junge Falke, der Gelehrige, der Wissensdurstige, der die Verse der heiligen Schriften studiert, der von den Weisen lernt, der sich gemeinsam mit seinem Freund Govinda im Redekampf, in der Kunst der Betrachtung und der Versenkung übt, der die vorgeschriebenen Opferrituale und heiligen Waschungen ausführt, in dem alle einen zukünftigen großen Weisen und Priester sehen, der von allen geliebt wird und der allen Freude schafft – außer sich selbst.

Denn Siddhartha ist unzufrieden, rastlos, spürt in sich eine höhere Berufung als den Priesterstand, einen Durst, den ihm sein Vater und seine Lehrer nicht würden stillen können: Wo war das wahre Ich, das Innerste, das Letzte? „Dorthin zu dringen, zum Ich, zu mir, zum Atman – gab es einen andern Weg, den zu suchen sich lohnte?“

Als einst Samanas durch Siddharthas Stadt ziehen, pilgernde, dürre Asketen, die allem entsagt haben, entschließt sich der junge Brahmane, sich ihnen anzuschließen. Er verläßt seinen Vater, sein Zuhause, seine gesicherte Zukunft, und macht sich auf den Weg ins Ungewisse, auf der Suche nach Seligkeit, nach der Wahrheit seines Ichs. Govinda, sein treuer Freund und größter Bewunderer, folgt ihm wie ein Schatten.

2. Bei den Samanas. Drei Jahre lang ziehen Siddhartha und Govinda mit den Asketen, lernen denken und entsagen, lernen fasten, lernen ihren Körper quälen und den Schmerz überwinden, lernen der Welt entsagen, lernen die Welt verachten. Ein Ziel nur steht vor ihnen: leer werden, leer von Durst, leer von Wunsch, leer von Traum, leer von Freude und Leid, nicht mehr Ich sein.

Aber im Laufe der Jahre zweifelt Siddhartha immer mehr, ob er sich auf dem rechten Weg befinde, ob er sich wirklich der letzten Erkenntnis und der Erlösung nähere oder ob er nicht etwa nur im Kreise gehe. So beschließt er, der noch immer Rastlose, bald den Pfad der Samanas wieder zu verlassen.

Da erreicht die beiden Jünglinge die Kunde, daß in der Nähe einer erschienen sei, Gotama genannt, der Erhabene, der Buddha, der in sich das Leid der Welt überwunden und das Rad der Wiedergeburten zum Stehen gebracht habe. Siddhartha verläßt die Samanas, von denen er nun nichts mehr zu lernen hat, um die Lehre des Gotama zu hören. Sein Schatten, Govinda, folgt ihm auch jetzt wieder.

3. Gotama. Als sie Gotama aufsuchen, ist Siddhartha zwar sehr beeindruckt von der Gestalt dieses wahrhaft Heiligen, der vollkommene Ruhe und vollkommenen Frieden ausströmt, dennoch aber vermag er sich nicht den Lehren und den Jüngern des Buddha anzuschließen. Er sagt zum Erhabenen: „Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze – nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen.“

Govinda aber wird ein Mönch, ein Jünger des Gotama, und Siddharthas Wege trennen sich von seinen.

4. Erwachen. Nach dieser Trennung stellt Siddhartha fest, daß er kein Jüngling mehr, sondern ein Mann geworden ist, daß er aber noch immer sein Ziel nicht erreicht hat. Jetzt erwacht er, wird aufs neue geboren, muß noch einmal von vorn beginnen. Er ist jetzt nicht mehr Asket, nicht mehr Priester, nicht mehr Brahmane.

Nun will der Erwachte alle Lehren hinter sich lassen, alles Gelernte und alles Denken, nun will er die Welt nicht mehr studieren, sie nicht mehr verachten und nicht mehr verneinen, sondern sie erleben und erfahren in ihrer Schönheit, ihrer Buntheit und ihrer Rätselhaftigkeit. Er will sich jetzt endlich auf die Suche nach Siddhartha machen, nach sich selbst. (Ende des Ersten Teils)

5. Kamala. Siddhartha lernt Neues auf jedem Schritt seines ziellosen Weges, und die Welt erscheint ihm verwandelt und bezaubert sein Herz. Er sucht jetzt die Heimat in dieser Welt, nicht im Jenseits, er will nur noch seiner eigenen inneren Stimme folgen, keinem äußeren Befehl, keiner Lehre mehr.

Unterwegs erreicht Siddhartha einen Fluß, wo er einen Fährmann trifft, bei dem er die Nacht verbringt und der ihm voraussagt, daß er irgendwann wiederkommen und wie er selbst vom Flusse lernen werde. Doch zunächst erwartet Siddhartha ein anderes Lernen, denn er fühlt zum ersten Mal den Quell des Geschlechts sich bewegen und sehnt sich nach den verborgenen Freuden der Liebe.

 Als er in eine große Stadt kommt, begegnet ihm schon bei der Ankunft die schöne Kamala, die berühmte Kurtisane, die hier einen Hain und ein Haus besitzt. Noch ist er zwar äußerlich wie ein Samana gekleidet, ein Asket und Bettler, aber er nimmt sich vor, Kamala als Freundin und als Lehrerin in der Kunst anzunehmen, in welcher sie Meisterin ist.

Bei ihrem ersten Treffen erklärt ihm Kamala, daß er, um ihre Gunst zu erhalten, schöne Kleider und Schuhe und Geld in seinem Beutel haben müsse, und sie besorgt ihrem neuen, lernbegierigen Schüler eine Anstellung bei Kamaswami, dem reichsten Kaufmann der Stadt.

6. Bei den Kindermenschen. Siddhartha stürzt sich nun spielerisch in das Leben der sogenannten „Kindermenschen“, ohne aber wie sie zu werden; er lernt von Kamaswami die Wissenschaften des Handelns, Feilschens und Geldleihens, er wird Kaufmann und übertrifft bald seinen Lehrer an Weitsicht und geschäftlichem Erfolg.

Drei Dinge beherrscht Siddhartha, der einstige Samana, und diese drei Dinge unterscheiden ihn von Kamaswami und den anderen Kindermenschen: Er kann denken, er kann warten, er kann fasten.

So betreibt er seine Geschäfte mit Gleichmut und Gleichgültigkeit, wie im Spiel, ohne den kleinlichen Ernst der Kindermenschen. Und die Geschäfte bringen ihm viel Geld ein, genug für Kamala, von der er täglich die Liebeskünste erlernt und die seinem Wesen immer ähnlicher zu sein scheint, ähnlicher als es Govinda je war.

7. Sansara. Viele Jahre lang lebt Siddhartha das Leben der Welt und der Lüste, ohne ihm jemals wirklich anzugehören. Er kostet Wollust, kostet Reichtum, kostet Macht und bleibt doch im Herzen stets ein Samana. Immer noch ist es die Kunst des Denkens, des Wartens, des Fastens, von welcher sein Leben gelenkt wird, immer noch sind die Kindermenschen ihm fremd geblieben, wie er ihnen fremd geblieben ist.

Doch wie er sich ihnen bisher immer überlegen gefühlt hat, ihnen immer mit ein wenig spöttischer Verachtung zugesehen hat, so spürt er nun, daß er langsam selbst etwas von der Kindlichkeit und Ängstlichkeit der Kindermenschen annimmt.

Er spürt, wie er selbst müde, dumpf, ärgerlich und ungeduldig wird, und er läßt sich mitreißen und treiben von einer neuen Sucht, einem neuen, bisher ungekannten Laster, einer Abhängigkeit: dem Würfelspiel. Immer mehr wird er zum Berauschten, zum Verschwender, zum Habgierigen, immer mehr verlernt er zu denken, zu warten, zu fasten, immer mehr vergißt er sein ursprüngliches Ziel. Als er dies erkennt, überfällt ihn Scham und Ekel.

Durch einen Traum gemahnt, begreift der inzwischen über vierzigjährige Siddhartha plötzlich, daß das Spiel nun zu Ende ist, und nach einer letzten innigen Liebesnacht mit Kamala nimmt er Abschied von seinem Reichtum, von der Stadt, von den Kindermenschen, von Kamala. Kamala aber bemerkt nach einiger Zeit, daß sie vom letzten Zusammensein mit Siddhartha schwanger geworden ist.

8. Am Flusse. Siddhartha erkennt, daß er durch sein Leben bei den Kindermenschen tief in das sündvolle, törichte, öde Leben des Sansara verstrickt worden ist, und da er keinen Ausweg sieht, wünscht er sich, tot zu sein und endlich Ruhe zu haben.

Doch während er sich, seines schmachvollen Lebens müde, gerade in den Fluß stürzen will, erinnert er sich wieder der heiligen Silbe „Om“, die er in jungen Jahren so oft ausgesprochen hatte, und durch dieses Erinnern erwacht sein entschlummerter Geist wieder, erkennt er die Torheit seines Vorhabens.

Nach dieser rettenden Erkenntnis folgt ein langer, tiefer, erholsamer Schlaf am Flußufer, und als Siddhartha aufwacht, sieht er sich gegenüber Govinda, den Freund seiner Jugend, der ihn aber nicht erkennt. Govinda war mit den anderen Jüngern des Buddha vorbeigewandert, hatte den Schlafenden gesehen und seinen Schlaf bewacht, und erst beim Abschied gibt sich Siddhartha dem Unveränderten zu erkennen und erzählt ihm die Geschichte seines Lebens. Govinda aber versteht ihn nicht mehr, zweifelt, grüßt, wie man Vornehme grüßt, und zieht weiter.

Jetzt läßt Siddhartha noch einmal sämtliche Stationen seines bisherigen Lebens in der Erinnerung vorbeiziehen, und er erkennt, daß sie alle recht waren, gut waren, notwendig waren. Er erkennt, warum er zunächst ein Büßer, warum er dann ein Händler, warum ein Schlemmer und Spieler sein mußte und warum er nun sterben und aus dem Schlafe neu erwachen mußte. Heiter blickt er nun in den strömenden Fluß und beschließt, ihn nicht so schnell wieder zu verlassen.

9. Der Fährmann. An diesem Fluß, an dem Siddhartha nun zu bleiben gedenkt, sucht er jenen Fährmann wieder auf, der ihn damals, als er noch ein Samana war, geführt und ihm sein Wiederkommen vorausgesagt hatte. Der Fährmann, Vasudeva mit Namen, erkennt ihn wieder und begrüßt ihn freundlich, und Siddhartha erzählt ihm seine Geschichte und bittet darum, sein Gehilfe und Lehrling sein zu dürfen.

Von ihm lernt er nicht nur die Kunst, mit dem Boot umzugehen, sondern auch die Kunst, dem Flusse zu lauschen und von ihm zu lernen.

Viele Jahre lang lebt Siddhartha nun bei Vasudeva an dem Flusse, lernt von ihm, wird ruhig, wird weise, gewinnt Erkenntnis. Eines Tages kommt eine Gruppe Mönche gepilgert, Anhänger des Gotama, welche erzählen, daß der Erhabene todkrank sei und bald seinen letzten Menschentod sterben werde. Unter der Schar der Pilger ist auch Kamala, die sich längst aus ihrem Kurtisanenleben zurückgezogen und Zuflucht bei der Lehre des Buddha genommen hat, zusammen mit ihrem Sohne, dem Knaben Siddhartha.

In der Nähe des Flusses wird Kamala von einer giftigen Schlange gebissen und kann mit letzter Kraft die Hütte des Fährmannes erreichen. Siddhartha erkennt sie wieder, sie verstehen sich wortlos, und die Sterbende übergibt ihren gemeinsamen Sohn in seine Obhut.

10. Der Sohn. Siddhartha nimmt sich nun seines Sohnes voller Ergebung und Liebe an, ohne daß dieser jedoch seine Liebe erwidert, denn der Elfjährige ist ein verwöhnter und stolzer Knabe, an Reichtum und Diener gewöhnt, und das Leben der beiden Fährmänner und die Pläne Siddharthas behagen ihm durchaus nicht.

Gequält, verwirrt und gedemütigt von seiner sinnlosen Liebe zu dem Knaben vermag Siddhartha selbst den Rat Vasudevas, das Kind zurück in die Stadt zu bringen, nicht zu befolgen.

Eines Tages jedoch schreit der Knabe in einem gewaltigen Ausbruch seinem Vater in bösen Worten Haß und Verachtung ins Gesicht und verschwindet noch in derselben Nacht. Wiederum entgegen dem Rat Vasudevas verfolgt ihn Siddhartha in die große Stadt, in den einstigen Hain Kamalas, wo ihn noch einmal die Erinnerung an sein Leben überkommt.

Er erkennt, daß er auch von seinem Sohne Abschied nehmen muß, daß er ihm nicht helfen kann, daß er sich nicht an ihn hängen darf. Schließlich holt Vasudeva seinen Schüler schweigend zum Fluß zurück.

11. Om. Wieder lauschen die beiden Fährmänner dem Fluß, lernen von ihm, reifen durch ihn. Sogar Siddharthas letzte Wunde, der Verlust seines Sohnes, wird mit der Zeit vom Fluß lachend geheilt. Dann zeigt Vasudeva Siddhartha das letzte Geheimnis des Flusses, die Einheit aller Gestalten, aller Gegensätze, aller Stimmen, die Om heißt, die Vollendung.

Jetzt hört Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hört auf zu leiden, wird einverstanden mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens. Und Vasudeva spricht strahlend: „Ich habe auf diese Stunde gewartet. Nun sie gekommen ist, laß mich gehen. Lebe wohl, Hütte, lebe wohl, Fluß, lebe wohl, Siddhartha! Ich gehe in die Wälder, ich gehe in die Einheit.“

12. Govinda. Im letzten Kapitel besucht der Mönch Govinda, der Jugendfreund, der von dem weisen Fährmann sprechen gehört hat, noch einmal den altgewordenen Siddhartha, und auch dieses Mal erkennt er ihn zunächst nicht. Als sich Siddhartha dann zu erkennen gibt, bittet ihn Govinda, ihm seine Lehre, seinen Glauben, sein Wissen mitzuteilen.

Siddhartha erwidert, daß er zwar viele Lehrer gehabt habe – eine schöne Kurtisane, einen reichen Kaufmann, einige Würfelspieler, vor allem aber den Fluß und seinen Vorgänger, Vasudeva –, daß es ihm aber doch unmöglich sei, eine konkrete Lehre zu nennen, denn Wissen könne man mitteilen, Weisheit aber nicht.

Weisheit könne man finden, man könne sie leben, man könne von ihr getragen werden, man könne mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren könne man die Weisheit nicht.

Dann bittet Govinda seinen Freund nach kurzem Gespräch und langem Schweigen zum Abschied noch einmal: „Siddhartha, wir sind alte Männer geworden. Schwerlich wird einer von uns den andern in dieser Gestalt wiedersehen. Ich sehe, daß du den Frieden gefunden hast. Ich bekenne, ihn nicht gefunden zu haben. Sage mir, Verehrter, noch ein Wort, gib mir etwas, das ich fassen, das ich verstehen kann. Gib mir etwas mit auf meinen Weg.“

Siddhartha schweigt, blickt Govinda mit dem immer gleichen, stillen Lächeln an, bittet ihn schließlich, sich zu ihm hinzuneigen und seine Stirn zu küssen. Während Govinda verwundert, und dennoch von großer Liebe und Ahnung gezogen, Siddharthas Worten gehorcht, geschieht ihm etwas Wunderbares:

Govinda sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er sah statt dessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluß von Gesichtern, von Hunderten, von Tausenden, welche alle kamen und vergingen, und doch alle zugleich dazusein schienen, welche alle sich beständig veränderten und erneuerten, und welche doch alle Siddhartha waren. ...

 

Er sah Gestalten und Gesichter in tausend Beziehungen zueinander, jede der anderen helfend, sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu gebärend, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich schmerzliches Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch, jede verwandelte sich nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein neues Gesicht. ...
 

Und, so sah Govinda ..., dies Lächeln der Einheit über den strömenden Gestaltungen ..., dies Lächeln Siddhar­thas war genau dasselbe, war genau das gleiche, stille, feine, undurchdringliche, vielleicht gütige, vielleicht spöttische, weise, tausendfältige Lächeln Gotamas, des Buddhas, wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht gesehen hatte. So, das wußte Govinda, lächelten die Vollendeten ...
 

Tief verneigte sich Govinda, Tränen liefen, von welchen er nichts wußte, über sein altes Gesicht, wie ein Feuer brannte das Gefühl der innigsten Liebe, der demütigen Verehrung in seinem Herzen. Tief verneigte er sich, bis zur Erde, vor dem regungslos Sitzenden, dessen Lächeln ihn an alles erinnerte, was er in seinem Leben jemals geliebt hatte, was jemals in seinem Leben ihm wert und heilig gewesen war.

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dreizehnter Teil: HERMANN HESSE

Stufen

Warum, so mag der Leser an dieser Stelle vielleicht einwenden, betrachten wir im Zusammenhang mit dem Reinkarnationsgedanken derart ausführlich gerade den „Siddhartha“, diese indische Dichtung, die doch scheinbar gar nicht von Reinkarnation handelt?

Sicher, das Thema der Wiedergeburt wird im „Siddhartha“ hier und dort erwähnt, aber im eigentlichen Sinne behandelt wird es darin nicht.

Dieser Einwand ist richtig: „Siddhartha“ behandelt nicht die Reinkarnation, „Siddhartha“ beschreibt sie. Die ganze Erzählung, die sich im Grunde weder geographisch noch historisch festbinden läßt, ist nichts anderes als der Versuch einer symbolischen Beschreibung des allmählichen Werdegangs einer suchenden, nach Erkenntnis strebenden Seele.

Doch diese Suche nach Erkenntnis, die hier in ein einziges Leben komprimiert wird, erstreckt sich in Wirklichkeit bei jedem Menschen über viele, viele Leben.

Was Siddhartha erfährt – mit anderen Worten: die Stufen, die er auf seinem Wege hinter sich zu lassen hat –, das erfahren auch wir, nur erfahren wir es über mehrere Leben hinweg, jedes davon mit einer neuen kleinen Lektion, einer neuen kleinen Stufe.

Denn wer kann schon in einem einzigen kurzen Menschenleben alles erfahren, was es zu erfahren gilt, und wer kann alles so erleben und so durchleben, daß er sich schließlich ganz davon lösen kann – wer außer einer erdichteten Gestalt?

Aber Hesse ist es im „Siddhartha“ gelungen, einen möglichen Werdegang aufzuzeichnen und seinen Lesern zu verdeutlichen: Irgendwo auf diesem Werdegang des Suchenden, auf irgendeiner Stufe in Siddharthas Leben stehen vielleicht auch wir gerade jetzt, sei es 

Bei der Diskussion des „Siddhartha“ muß allerdings noch auf zwei Mißverständnisse hingewiesen werden, die sich bei solchen, die das Werk nur oberflächlich lesen, zuweilen einzuschleichen pflegen, die aber, eben weil es Mißverständnisse sind, dem Sinn und der Absicht der Dichtung nicht gerecht zu werden vermögen und die daher bei manchem ein verzerrtes Bild des „Siddhartha“ hinterlassen haben.

Das erste Mißverständnis ist der weitverbreitete Irrtum, daß Hesse in seiner Dichtung die Ansicht vertrete, man könne durch Wollust und durch zügellose Sinnlichkeit die Vollendung erlangen. Meist wird dieser Irrtum als Rechtfertigung für die eigene Schwachheit vorgeschoben, für die eigene mangelnde Fähigkeit, sich der Triebe und Nichtigkeiten unserer niederen Natur zu entledigen.

Diese Triebe und Nichtigkeiten aber – und gerade das ist es, was der Werdegang Siddharthas zeigen soll – muß der nach Vollendung Strebende auf irgendeiner Stufe, in irgendeinem Leben durchschauen, entlarven und hinter sich lassen, genauso, wie dies auch Siddhartha getan hat.

Ansonsten wird er solange einer der Kindermenschen bleiben, bis auch er, Siddharthas Fußspuren folgend, die Illusion zu durchtrennen und zu überwinden reif und bereit ist. Denn wenn wir mit diesem erforderlichen, notwendigen Schritt weg von der kleinlichen Illusion der Kindermenschen immer nur auf das nächste Leben warten, schieben wir damit das Erreichen unseres letztlichen Zieles unnötigerweise vor uns her, desjenigen Zieles, das uns jetzt doch so nahe faßbar geworden ist.

Das zweite Mißverständnis, die zweite ungerechtfertigte Annahme, die manche aus dem „Siddhartha“ zu lesen glauben, besagt, daß Hesse hier die Ansicht vertrete, wir brauchten keinen Lehrer, kein Vorbild, um zur Vollendung zu finden.

Doch die diesbezüglichen Aussagen im „Siddhartha“ richten sich nicht gegen das Prinzip des Annehmens eines Lehrers oder eines Vorbildes an sich, sondern nur gegen das Annehmen eines falschen Lehrers oder gegen das An­nehmen eines Lehrers mit einem falschen Verständnis oder mit einer falschen Einstellung.

Im rechten Ver­ständnis einen echten Lehrer anzunehmen, diesen Schritt aber muß jeder tun, der wirklich und echt lernen und auf dem Weg nach innen vorankommen will, und das zeigt auch die Geschichte Siddharthas.

Bei näherem Betrachten erkennen wir nämlich, daß auch Siddhartha viele Lehrer gehabt hat, wie er an der bereits oben angeführten Stelle auf die entsprechende Frage Govindas selbst bestätigt: eine schöne Kurtisane, einen reichen Kaufmann, einige Würfelspieler, den Fluß und vor allem aber seinen Vorgänger, Vasudeva.

Vasudeva, der Fährmann, verkörpert also geradezu das Idealbild eines Lehrers, eines Meisters, und zwar eben nicht in der vom westlichen Denken geprägten Rolle des Schulmeisters, von dem wir einfach eine Lehre vorgesetzt bekommen, die wir dann annehmen und glauben müssen, sondern als eine Person, die uns unseren eigenen Weg zeigen kann und die uns auf diesem unserem Wege begleitet und führt, da sie ihn bereits kennt; als eine Persönlichkeit, die uns durch ihr eigenes Beispiel unseren Weg vorlebt, den wir dann allerdings selbst zu beschreiten haben; als eine Persönlichkeit, die vermitteln kann zwischen dem ewigen, vergessenen oder vernachlässigten Wissen in uns und unserem Erkennen desselben.

Tatsächlich stellt in der indischen Tradition gerade das von Hesse übernommene Bild des Fährmanns ein häufiges Symbol für einen solchen echten Meister oder Guru dar, der seinen Schüler mit gütiger Geduld, manchmal – wie im Falle Siddharthas und Vasudevas – über mehrere Leben hinweg, von der einen Seite des Ewigkeitsflusses auf die andere hinüberführt, von der vollständigen Verstrickung in den Kreislauf der wiederholten Geburten und Tode bis hin zur Vollendung, zur Freiheit.

Daß es sich bei der Erzählung „Siddhartha“ um eine Beschreibung der stufenweisen Entwicklung des suchenden Menschen in dem Kreislauf (besser: in der Spirale) der Wiedergeburt handelt, dies läßt Hesse in seiner typischen, leicht verschlüsselten, uneindeutigen Art sogar an einigen Stellen leise durchblicken, etwa wenn er im Kapitel „Am Flusse“ in einer Klammer schreibt: „im ersten Augenblick der Besinnung erschien ihm dieses frühere Leben wie eine weit zurückliegende, einstige Verkörperung, wie eine frühe Vorgeburt des jetzigen Ich“, oder am Schluß, wenn Siddhartha lächelnd zu Govinda sagt: „Manche, Govinda, müssen sich viel verändern, müssen allerlei Gewand tragen, ihrer einer bin ich.“

Hesse ist sich jedoch auch sehr wohl bewußt, daß dieser ganze Kreislauf des Sterbens und Wiedergeborenwerdens für die unvergängliche Seele letzten Endes unnatürlich, leidvoll und töricht ist und daß das ganze Streben des Menschen darauf gerichtet sein sollte, sich allmählich zu läutern und diesem Kreislauf zu entkommen. Er schreibt: „War es nicht eine Komödie, eine seltsame und dumme Sache, diese Wiederholung, dieses Laufen in einem verhängnisvollen Kreise?“

Und auch die Erfahrung, daß es uns nicht möglich ist, in einem einzigen Leben alle Stufen zu durchschreiten, macht Hesse am Ende mit Hilfe der Figur von Siddharthas Sohn deutlich, indem er Vasudeva sagen läßt: „Glaubst du wirklich, daß du deine Torheiten begangen habest, um sie dem Sohn zu ersparen?

Und kannst du denn deinen Sohn vor Sansara schützen? ... Welcher Vater, welcher Lehrer hat ihn davor schützen können, selbst das Leben zu leben, selbst Schuld auf sich zu laden, selbst den bitteren Trank zu trinken, selber seinen Weg zu finden? Glaubst du denn, dieser Weg bleibe irgend jemandem vielleicht erspart?“

Erinnern wir uns noch einmal an das, was zu Beginn dieses Kapitels über die Vermittlerrolle Hermann Hesses zwischen West und Ost, zwischen indischer Mystik und westlichem Fortschrittsdenken gesagt wurde: Gerade in dem eben zitierten Abschnitt kommt nun etwas von dem typisch Indischen zum Ausdruck, welches sich so sehr von der engen, christlich-abendländischen Denkweise unterscheidet: die gütige Toleranz nämlich, die liebende Geduld mit anderen Menschen, auch mit solchen, die auf ihrem „Siddhartha-Wege“ vielleicht noch ein paar Stufen, noch ein paar Leben zurückliegen, die aber unserer Ermutigung, unserer Hilfe, unseres Verständnisses bedürfen.

Es ist nicht ein belehrender, bekehrender, ungeduldiger christlicher Missionseifer, der aus diesen Worten spricht, aber es ist auch keine gleichgültige, stolze Toleranz, in der wir uns besser dünken als die anderen und sie verachten.

Nein, es ist eine gütige, wohlwollende, hilfsbereite Geduld und Weisheit, die hier leuchtet – eine Geduld und Weisheit, die nur möglich ist in der Erkenntnis der Wahrheit der Seelenwanderung, der Wiedergeburt, und damit der immer neuen Möglichkeit, Stufe um Stufe zu erklimmen, zu reifen, sich zu vollenden.

Hierzu das Gedicht „Stufen“ (1940), ein Alterswerk des dreiundsechzigjährigen Hesse, das durchdrungen ist von dem Wissen um die Unsterblichkeit der Seele und ihrer Wanderung durch Raum und Zeit: 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

 

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

 

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Über dieses Gedicht schreibt Hesse am 30.1.1957 an einen Leser: „Zu <Stufen> wäre zu sagen: das Gedicht gehört zum <Glasperlenspiel>, einem Buch, in dem unter anderem die Religionen und Philosophien Indiens und Chinas eine Rolle spielen. Dort ist die Vorstellung von der Wiedergeburt aller Wesen dominierend, nicht im Sinn eines christlichen Jenseits mit Paradies, Fegefeuer und Hölle. Diese Vorstellung ist mir durchaus geläufig, und sie ist es auch dem fiktiven Verfasser jenes Gedichtes, Josef Knecht.“

Im Januar 1955 hatte er in einem Brief an Rudolf Pannwitz den Entstehungshintergrund des „Glasperlenspiels“ dargelegt: 

Die Vorstellung, die den ersten Funken in mir entzündete, war die der Reinkarnation als Ausdrucksform für das Stabile im Fließenden, für die Kontinuität der Überlieferung und des Geisteslebens überhaupt.

 

Es kam mir eines Tages, manche Jahre bevor ich mit dem Versuch einer Niederschrift begann, die Vision eines individuellen, aber überzeitlichen Lebenslaufes: ich dachte mir einen Menschen, der in mehreren Wiedergeburten die großen Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.

Aus diesem letzten großen Werk Hesses, dem „Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht“ (1943), in dessen Anhang sich auch ein höchst bemerkenswerter „Indischer Lebenslauf“ findet, sei nur die folgende anschauliche Passage wiedergegeben:  

Der Schüler hatte die Aufgabe, sich in eine Umgebung und Kultur, in das geistige Klima irgendeiner früheren Epoche zurückzuversetzen und sich darin eine ihm entsprechende Existenz auszudenken ...

 

Es lebte ein Rest des alten asiatischen Wiedergeburts- und Seelenwanderungsglaubens in dieser freien und spielerischen Form hier fort; allen Lehrern und Schülern war die Vorstellung geläufig, daß ihrer jetzigen Existenz frühere vorausgegangen sein könnten, in anderen Körpern, zu anderen Zeiten, unter anderen Bedingungen ...

 

Übrigens war die Zahl der Studierenden gar nicht so klein, welche nicht nur an die Idee der Reinkarnation mehr oder weniger glaubten, sondern auch an die Wahrheit ihrer eigenen erfundenen Lebensläufe.
 

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KAPITEL 5: GESCHICHTE DES REINKARNATIONSGEDANKENS - Dreizehnter Teil: HERMANN HESSE

Die Suche geht weiter

Viele Suchende, die sich nach einer Alternative zum einseitigen Intellektualismus und zur Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit unserer Zeit sehnen, haben durch Hesses Einladung auf den stufenweisen „Weg nach Innen“ einen Einblick in die verborgenen Dimensionen ihres Selbst und der höheren Gesetze des Universums gewonnen.

Viele sind durch die Lektüre seiner Dichtungen, aus denen immer wieder der erhabene Glanz der indischen Weisheit leuchtet, auf den Pfad echten spirituellen Lebens geführt worden.

Dieser Pfad echten spirituellen Lebens allerdings kann, wenn er gewissenhaft beschritten wird, weit über die Grenzen dessen hinausführen, was Hesse selbst erreicht und in seinen Schriften dargestellt hat.

Denn er selbst ist bis in seinen Tod ein sehnsüchtig Suchender geblieben, sich wohl bewußt, daß er die letzte Stufe noch nicht erklommen, die letzte Vollendung noch nicht erreicht, noch nicht beschrieben hatte. Hierzu das Gedicht „Bildnis eines zu alt gewordenen Literaten“ (1958): 

Noch sieht man ihn als letzte Säule

Auf etwas schwachem Sockel ragen,

Noch ist er fähig, manche Eule

Behutsam nach Athen zu tragen.

 

Zwar leidet er an Gicht und Spasmen

Und wird allmählich dürr und klein,

Doch fallen ihm die Pleonasmen

Noch immer dutzendweise ein.

 

So sucht er, immer neu verwundert,

Im Kinderspiel sein Greisenglück,

Und blickt aufs neunzehnte Jahrhundert

Wie auf ein Paradies zurück.

Hesses eigene Suche und Sehnsucht also war mit seinem Tode längst nicht abgeschlossen, und so spiegeln auch Siddharthas Gedanken über die Einheit aller Gestaltungen am Schluß des Buches noch nicht wirklich die letzten Erkenntnisse wider, die dem Menschen möglich sind und die ihm zustehen.

Denn die Erkenntnis der „Einheit aller Gestaltungen“ ist ja bloß die Verneinung der schmerzlichen Gegensätze dieser Welt, und sie vermag noch keine positiven Einblicke in die verborgenen Schätze einer anderen, göttlichen Welt zu vermitteln – einer Welt, die derart jenseits der Polarität der materiellen Welt liegt, daß sie sich auch nicht mehr als bloße Verneinung derselben definieren läßt.

So ist also auch der Stufenweg des Siddhartha mit dem Ende des Buches noch nicht wirklich zu Ende, denn die Beschreibung führt uns nur so weit, wie Hesse es selbst zu durchleben imstande war, oder, wo das eigene Erleben nicht mehr hinreichte, nur soweit, wie der Dichter es sich vorzustellen vermochte.

Und so geht auch Siddharthas Geschichte im verborgenen weiter, setzt sich unbeschrieben fort und müßte eigentlich irgendwann einmal um die nächsten Stufen weitererzählt werden...

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