DAS GROSSE BUCH VOM GEISTIGEN
HEILEN
Leseprobe
Geistheiler - Hoffnung für Millionen
Aus der Einführung von H. Wiesendanger:
Angenommen, Sie
begegnen bei Ihrem nächsten Spaziergang zwei Männern, die Sie sofort stutzig
machen. Der eine ist offenbar blind. Der andere ist ein recht ungepflegt
aussehender bärtiger Kerl mit wallender Mähne. Den hören Sie nun, in feierlichem
Ton, zu dem Blinden sagen: “Ich bin das Licht der Welt.” Ein ziemliches
Großmaul, werden Sie denken. Jetzt sehen Sie, wie der Langhaarige zu Boden
spuckt.
Dann bückt er sich, gräbt eine Handvoll Erde aus, auf die sein Speichel
tropfte, und formt sie zu einem Klumpen. Den drückt er dem Blinden auf die
Augen. Dann sagt er: “Geh und wasch dich in der Pfütze da!” Der Blinde gehorcht,
geht und benetzt sein Gesicht mit Wasser. Und plötzlich hören Sie seinen
Jubelschrei: “Mein Gott, ich kann sehen! Ich kann endlich sehen!”
Eine ganz ähnliche Szene könnte sich vor
ziemlich genau zweitausend Jahren abgespielt haben, sofern auf das Neue
Testament Verlaß ist. Der Wundertäter hieß Jesus, wie Sie im Johannes-Evangelium
(9, 1-12) nachlesen können.
Was wäre aber, wenn so ein “Wunder” hier und jetzt geschähe, vor unseren Augen?
Falls ein deutscher Staatsanwalt davon Wind bekäme, könnte er dem Gottessohn den
Prozeß machen. Denn Krankheiten behandeln dürfen laut Gesetz nur approbierte
Ärzte und, mit gewissen Einschränkungen, staatlich zugelassene Heilpraktiker.
Wer dagegen verstößt, riskiert ein Jahr Haft, zumindest aber eine hohe
Geldstrafe.
Als besonders hartnäckiger Wiederholungstäter säße Jesus Christus
heute folglich längst hinter Schloß und Riegel. (Diesem Gedankenspiel führe ich
weiter aus in
Geistiges Heilen für eine neue Zeit,
Kap. “Jesus hinter Gitter? Wenn der Gottessohn zwei Jahrtausende später gelebt
hätte - Protokoll einer fiktiven Gerichtsverhandlung”, S. 340-347.)
Wozu so ein Gesetz? Dahinter stecken
durchaus gutgemeinte Absichten: Arglose Patienten sollen dadurch vor
skrupellosen Geschäftemachern und gefährlichen Kurpfuschern geschützt werden.
Doch verwehrt ein solches Gesetz nicht zugleich Hunderttausenden von
Schwerstkranken ihre vielleicht letzte Chance auf Heilung oder zumindest auf
Linderung?
Gegen geltendes
Recht steht jedenfalls die öffentliche Meinung. Das belegen mehrere
repräsentative Umfragen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. (Die
Statistiken stelle ich vor in Das große Buch vom geistigen Heilen, S. 10.)
Demnach halten es über zwei Drittel aller Jugendlichen und Erwachsenen zumindest
für “möglich”, daß es Menschen gibt, die Krankheiten selbst dann noch besiegen
oder zumindest lindern können, wenn alle ärztliche Kunst versagt hat.
Ein
Drittel ist sich dessen sogar “sicher”. Und mindestens jeder Zweite würde sich
notfalls einem “Wunderheiler” anvertrauen, falls er eines Tages schwer erkranken
sollte.
Bei
Lippenbekenntnissen bleibt es nicht. Allein in Deutschland, schätze ich, rennen
jährlich bis zu drei Millionen Menschen den rund sieben- bis achttausend
Geistheilern die Türen ein - zu vermutlich weit über hundert Millionen
Behandlungsterminen pro Jahr. (Zur Begründung dieser Schätzungen vgl.
Das große Buch vom geistigen Heilen,
S. 438 f.)
Vergleichsweise noch größer ist der Andrang in Nachbarländern mit
liberalerer Gesetzgebung: Elf Prozent aller Eidgenossen zwischen 15 und 75
Jahren haben sich schon “geistig” behandeln lassen; in den Niederlanden buchen
jährlich 65.000 Patienten bei über sechshundert Heilern rund zwei Millionen
Sitzungen.
Was sind das für
Menschen? Zwei Drittel der Patienten sind Frauen, die meisten zwischen 40 und 65
Jahre alt. Man findet unter ihnen außergewöhnlich viele Rentner, Hausfrauen,
Arbeiter und einfache Angestellte - zunehmend aber auch Akademiker und
Geschäftsleute, ebenso wie Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe.
Selbst Prominenz zählt immer häufiger dazu: Filmstars wie Linda Evans, Shirley MacLaine, Gunther Sachs, Hildegard Knef, Maria und Maximilian Schell, Spitzensportler und Parlamentarier, ebenso zahlreiche Mitglieder europäischer Königs- und Fürstenhäuser, darunter der britische Thronfolger Prinz Charles und Herzogin Sarah Ferguson.
Von dem italienischen Geistheiler Nicola Cutolo, immerhin promovierter Psychologe, ließ sich Fürstin Gracia Patricia von Monaco helfen. Schah Reza Pahlevi von Persien und die griechische Reederstochter Tina Onassis bestellten einst den Frankfurter Geistheiler Christos Drossinakis zu sich, wie der gebürtige Grieche versichert. Von Chinas einst mächtigstem Mann,
Deng Xiao-ping, heißt es, er habe einer jungen Pekingerin vertraut, die
angeblich wie mit Röntgenaugen den menschlichen Körper durchleuchten und dabei
versteckte Krankheitsherde erkennen konnte. Kreml-Herren wie Leonid Breschnew
und Juri Andropow sollen auf die Moskauer Heilerin “Dschuna” Dawitaschwili
geschworen haben, und auch Boris Jelzin setzte auf sie. Deutschlands bekannten
Handaufleger Rolf Drevermann riefen angeblich König Juan Carlos von Spanien und
das saudiarabische Königshaus zu sich.
Warum zieht es immer mehr Menschen - vom Hausmeister von
nebenan bis zu den Schönsten, Reichsten und Mächtigsten - zu einer derart
dubiosen Behandlungsform? Die Motive sind vielschichtig; die meisten stehen in
Zusammenhang mit dem gewachsenen öffentlichen Bewußtsein für die
Unzulänglichkeiten der modernen Medizin.
Zwar hat sich der Gesundheitsbetrieb in Westeuropa inzwischen zum mit Abstand größten Industriezweig entwickelt, dessen Beschäftigungszahlen, Umsätze und Wachstumsraten alle anderen Bereiche der Volkswirtschaft in den Schatten stellen.
Allein in Deutschland spannt er, vom Chefarzt bis zur Sprechstundenhilfe, mittlerweile rund zwei Millionen Menschen ein: doppelt so viele wie die vier Großunternehmen Post, Bahn, Bundeswehr und Lufthansa zusammen, zweieinhalbmal mehr als die Automobilbranche. In Krankenhäusern und Kliniken, in Arztpraxen und Heimen, in Bädern und physiotherapeutischen Einrichtungen werden an einem einzigen Werktag bis zu fünf Millionen Menschen versorgt.
Jährlich wird dabei rund eine halbe Billion Mark umgesetzt - im Schnitt über 7000 DM pro Kopf -, eine Summe, die an das Gesamtvolumen des Bundeshaushalts heranreicht. Doch je arbeitsaufwendiger, je teurer, je durchorganisierter und technisch raffinierter diese monströse Dienstleistungsmaschinerie arbeitet, desto offensichtlicher stößt sie an ihre Grenzen:
Seit Jahrzehnten nimmt der Krankenstand der Bevölkerung nicht etwa ab - er wächst ständig, mit einem besorgniserregend zunehmenden Anteil hartnäckiger chronischer Leiden. Wenn immer mehr Patienten den Verlockungen “geistiger” Hilfe erliegen, so geschieht dies vor allem aus acht Gründen:
Nach wie vor sind zahlreiche
Krankheiten unheilbar, zumindest aus schulmedizinischer Sicht. Dagegen
stellen viele Geistheiler in Aussicht: Es gibt keine unheilbaren
Krankheiten; jede kann besiegt werden.
Auch dort, wo die Schulmedizin
Krankheitsverläufe günstig beeinflußt, kann sie es oft nur unter schweren
körperlichen und seelischen Belastungen für den Patienten. (Man bedenke,
was Strahlen- und Chemotherapie für einen Krebskranken bedeuten.) Dagegen
scheint geistiges Heilen frei von Nebenwirkungen, insofern völlig
gefahrlos.
Schulmediziner konzentrieren sich
überwiegend auf einzelne Symptome und zugrunde liegende Defekte.
Geistheilern hingegen geht es um den ganzen Menschen. Sie behandeln nicht
Krankheiten, sondern Kranke. Der Patient wird als Einheit von Körper, Geist
und Seele betrachtet, nicht bloß als biochemischer Mechanismus.
Ärztliche Kunst geht immer mehr in
medizinischer Technik auf - und unter. Je perfekter diese Technik wird,
desto kälter wird sie. Geistiges Heilen hingegen steckt meist voll
zwischenmenschlicher Wärme, geduldigem, einfühlsamem Verstehen und
liebevoller Anteilnahme.
Schulmediziner fahnden vor allem
nach Ursachen, Heiler in erster Linie nach Gründen. Sie vermitteln den
Eindruck, eine Erkrankung sei zu verstehen, sie besitze einen tieferen
Sinn. Damit befriedigen sie ein Hauptbedürfnis vieler Patienten,
insbesondere langjährig chronisch kranker oder akut vom Tode bedrohter:
nämlich Antwort zu finden auf die Fragen: “Wozu?”, “Wieso ausgerechnet
ich?”, “Warum gerade jetzt?”
Geistiges Heilen wird mitgetragen
von einer breiten Hinwendung zu “sanften”, “natürlichen” Heilverfahren, die
irreführenderweise als “alternative” Medizin bezeichnet werden. Mehr als
verdoppelt hat sich in den letzten zwanzig Jahren der Anteil der
Bundesbürger, die regelmäßig Naturheilmittel einnehmen; nicht weniger als
84 Prozent stehen ihnen inzwischen “positiv” gegenüber.
Allein in
Westdeutschland hat jeder sechste Erwachsene mindestens ein von der
Schulmedizin nicht anerkanntes Heilverfahren ausprobiert; neun von zehn
Behandelten sind mit dem Ergebnis zufrieden.
Eine entscheidende Rolle spielt der
“Esoterik-Boom” der letzten zwanzig, dreißig Jahre. Denn er hat zur
öffentlichen Meinung gemacht, woran zuvor bloß wenige soziale Außenseiter
glaubten.
Mit sogenannten “übernatürlichen” Phänomenen rechnet, jüngsten
Umfragen zufolge, in den westlichen Industrieländern heute weit mehr als
die Hälfte aller Jugendlichen und Erwachsenen - und damit sind auch
wundersame Heilkräfte für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptabel geworden.
Daß geistiges Heilen boomt, ist
maßgeblich den Massenmedien zuzuschreiben, die “Übernatürliches” als
vorzüglichen Köder entdeckt haben, um Auflagen und Einschaltquoten zu
erhöhen. Mit Schlagzeilen über angebliche “Heilwunder” lassen sich Leser
und Zuschauer inzwischen mindestens ebenso wirksam anlocken wie mit nackten
Busen, Amokläufen und Promi-Klatsch.
(...)
Doch den Boom treiben gute Gründe.
Geistiges Heilen kann Kranken tatsächlich helfen, wo die Schulmedizin versagt.
Zumindest manchen, zumindest manchmal. Millionen hoffen darauf, und offenbar
werden die wenigsten enttäuscht. Einen triftigeren Grund, eine
nebenwirkungsfreie Therapieform rechtlich zuzulassen und der Allgemeinheit frei
zugänglich zu machen, kenne ich nicht.
Quellenangaben zu
den im Text genannten Zahlen finden Sie im Anmerkungsteil von
Das große Buch vom geistigen Heilen.
Die Wahrscheinlichkeit, als
Patient von geistigem Heilen zu profitieren,
erörtere ich im Kapitel “Die Statistik des Wunders” in
Geistheiler - Der Ratgeber
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